Amnesty Journal Vereinigte Staaten von Amerika 28. April 2023

"Besonders scheinheilig"

Männer auf der Ladefläche eines Pick-ups demonstrieren gegen eine Gewerkschaftsgründung bei VW, einer von ihnen hält ein Schild in die Höhe, auf dem steht "NO 2 UAW"

Niederlassungen deutscher Unternehmen in den USA behindern die gewerkschaftliche Organisation ihrer Beschäftigten. Ein Gespräch mit dem US-Arbeitsrechtler Lance Compa über Einschüchterungen am Arbeitsplatz.

Interview: Uta von Schrenk

Sie werfen deutschen Niederlassungen im Süden der USA vor, das Recht ihrer Beschäftigten auf gewerkschaftliche Organisation zu behindern. Ist dieses "Union Busting" rechtens?

Laut dem Nationalen Gesetz über Arbeitsbeziehungen (National Labor Relations Act) dürfen Arbeitnehmer*innen aufgrund ihres Engagements in Gewerkschaften nicht bedrängt oder entlassen werden. Doch können Firmen aggressive Kampagnen gegen die Gewerkschafts­arbeit ihrer Beschäftigten führen, solange sie nicht mit direkten Vergeltungsmaßnahmen drohen. Zudem haben die Firmen nicht viel zu befürchten, wenn sie Gewerkschaftsmitglieder entlassen. Sie wissen, dass es in Prozessen gegen Ent­lassungen oft zu Verzögerungen kommt. Und sollten sie doch zu einer Abfindungszahlung verurteilt werden, dann ist die in der Regel gering.

Es handelt sich also um ein generelles Problem?

Fast alle Firmen versuchen, die Gründung von Gewerkschaften zu behindern, ins­besondere im Süden der USA. Deutsche Firmen sind da keine Ausnahme. Im Gegenteil: Sie verhalten sich vielleicht ­sogar besonders scheinheilig, da sie in Deutschland Gewerkschaften akzeptieren und dazu aufrufen, internationale Arbeitsnormen zur Arbeitnehmer*innenvertretung oder das Recht auf Tarifverhandlungen zu respektieren.

Wie üben die Firmen Druck auf ihre Belegschaften aus?

Gewerkschaftsfeindliche Jurist*innen und Rechtsberater*innen sind perfekt darin, indirekte Drohungen zu formulieren. So dürfen Arbeitgebende zwar nicht sagen: "Wenn ihr für eine Gewerkschaft stimmt, schließen wir die Fabrik." Sie dürfen aber sagen: "Wenn ihr für eine Gewerkschaft stimmt, und diese Gewerkschaft zu hohe Forderungen stellt, müssen wir die Fabrik vielleicht schließen." Der Einschüchterungseffekt ist derselbe. Das Arbeitsrecht in den USA erlaubt es den Firmen zudem, ihre Beschäftigten zu obligatorischen Treffen während der Arbeitszeit zu zwingen. Dort kann die Unternehmensleitung diese indirekten Drohungen vorbringen, sollten die Beschäftigten eine Gewerkschaft gründen wollen. So erklärte die Airbus-Geschäftsleitung den Beschäftigten ihres Flugzeugmontagewerks in Mobile, Alabama, bei einem solchen Treffen vor einigen Jahren: "Die Gewerkschaft interessiert sich nur für eure Beiträge … Die Gewerkschaft wird euch das Leben schwer machen … Es wird Jahre dauern, bis ein Vertrag zustande kommt … Manchmal hat man am Ende weniger als das, was man zuvor hatte, und manchmal verliert man sogar den Arbeitsplatz, wenn die Gewerkschaft zu viel fordert."

Ein Mann mit Brille und Glatze trägt ein Button-Down-Hemd und hält ein Sakko in der rechten Hand, dass er über seine rechte Schulter geworfen hat.

Berät Gewerkschaften und NGOs: Lance Compa forscht zum US-amerikanischen und internationalen Arbeitsrecht.

Wie weit gehen die Firmen beim Union Busting?

Das Arbeitsrecht in den USA erlaubt es Arbeitgebenden Arbeitnehmer*innen dauerhaft zu ersetzen, wenn diese von ­ihrem Streikrecht Gebrauch machen. Deutschland und die EU erlauben solche extrem gewerkschaftsfeindlichen Maßnahmen nicht. Trotzdem drohen auch viele deutsche Firmen, insbesondere im Süden der USA, mit diesen Schritten, wenn Arbeitnehmer*innen versuchen, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Das Vorgehen von Volkswagen in seiner Fabrik in Tennessee war besonders raffiniert. Dort startete nicht das Management eine der üblichen gewerkschaftsfeindlichen Kampagnen – vielmehr übernahmen hochrangige Politiker*innen aus Tennessee, darunter der Gouverneur, Senator*innen und andere Gesetzgeber*innen, die "Drecksarbeit" für die Firma. Die Politiker*innen drohten den Arbeitnehmer*innen damit, dass sie die staatlichen Subventionen für Volkswagen einstellen würden, falls diese für eine Vertretung durch die United Auto Workers Union stimmen sollten. Daraufhin scheiterte die Organisation durch die Gewerkschaft bei der Wahl 2019 knapp mit 833 zu 776 Stimmen.

Wie viele Beschäftigte deutscher ­Firmen sind betroffen?

Deutsche Firmen beschäftigen Hunderttausende Arbeitnehmer*innen in den USA. Zwar betreiben nicht alle Firmen Union Busting, aber in den Südstaaten starten deutsche Unternehmen fast immer aggressive gewerkschaftsfeindliche Kampagnen, sobald Arbeitnehmer*innen versuchen, sich zu organisieren. Tausende Beschäftigte deutscher Firmen im Süden der USA sind den Einschüchterungsversuchen der Firmenleitungen hilflos ausgeliefert.

Sie werfen den deutschen Firmen vor, ein System zu unterstützen, das in der Sklaverei und rassistischer Segregation wurzelt. Woran machen Sie dies fest?

Ich denke nicht, dass deutsche Firmen ­absichtlich und willentlich Rassismus oder Diskriminierung schüren wollen, wenn sie in den Südstaaten investieren. Die ­Firmen reagieren vielmehr auf die Versprechen dieser Bundesstaaten, Steuer­vergünstigungen zu bieten, keine Gewerkschaften zuzulassen und nur laxe ­Sicherheits- und Umweltvorschriften zu erlassen. Die gewerkschaftsfeindliche Kultur und die niedrigen sozialen Standards im Süden der USA sind ein unmittelbares Resultat von zwei Jahrhunderten Sklaverei, gefolgt von einem Jahrhundert Segregation nach dem Bürgerkrieg. Deutsche Firmen sorgen mit dafür, dass diese wirtschaftlichen und politischen Machtstrukturen bestehen bleiben, indem sie Vorteile daraus ziehen und die Bildung von Gewerkschaften behindern, die Arbeitnehmer*innen dabei helfen könnten, ihren Lebensstandard zu verbessern und mehr Mitspracherecht zu erlangen.

Die gewerkschaftsfeindliche Kultur und die niedrigen sozialen Standards im Süden der USA sind ein unmittelbares Resultat von zwei Jahrhunderten Sklaverei, gefolgt von einem Jahrhundert Segregation nach dem Bürgerkrieg. Deutsche Firmen sorgen mit dafür, dass diese wirtschaftlichen und politischen Machtstrukturen bestehen bleiben.

Gibt es politische und zivilgesellschaftliche Initiativen für mehr Beschäftigtenschutz im Süden der USA?

Im Kongress wird schon seit Jahren ein Gesetz namens "Protect the Right to ­Organize Act" (PRO Act) diskutiert. Doch haben gewerkschaftsfeindliche Sena­tor*innen der republikanischen Partei dieses Gesetz bisher stets blockiert. Trotz aller Hindernisse versuchen viele Arbeitnehmer*innen in den Südstaaten, sich ­gewerkschaftlich zu organisieren. Sie ­werden dabei von der US-amerikanischen und internationalen Gewerkschaftsbewegung und vielen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen in den USA unterstützt, ­unter anderem von Religionsgemeinschaften und anderen Communities ­sowie von Menschenrechtler*innen.

Wie könnte der deutsche Staat die Situation der Beschäftigten verbessern?

Europäische Regierungen und die EU-Kommission sollten europäische Firmen rechtlich verpflichten, auch in den USA die Kernprinzipien der Internationalen Arbeitsorganisation einzuhalten. Dabei müssen besonderes die Südstaaten im Blick behalten werden.

Könnte das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz eine Verbesserung bringen?

Ich hoffe, dass das deutsche Gesetz sowie die Maßnahmen der Europäischen Union zu den Arbeitsbedingungen entlang der Lieferketten auch bei den Tochterfirmen und Zulieferern deutscher Unternehmen in den USA Anwendung finden und dass ein Augenmerk auf Verstöße gegen das Recht auf Vereinigungsfreiheit gerichtet wird.

Uta von Schrenk ist Redakteurin beim Amnesty Journal.

Lance Compa forscht zum US-amerikanischen und internationalen Arbeitsrecht. Er berät Gewerkschaften und NGOs und lehrte mehr als 20 Jahre an der Cornell University in Ithaca, New York.

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