Amnesty Journal Ukraine 11. November 2024

Verfolgung auf der Krim

Ein Mann mit einem Kurzhaarschnitt, die Seiten kurz geschoren, trägt einen Anorak und hockt auf Kopfsteinpflaster. Hinter ihm ist der Boden zugeschneit, Absperrzäune stehen dort. Vor ihm auf dem Kopfsteinpflaster stehen Blumen mit Zetteln darin, der Mann protestiert mit einer Fahne, die er zwischen seinen Armen ausgebreitet hält.

Flagge zeigen: Ein Krimtatar fordert die Freilassung von Aktivist*innen (Kiew, 2021).

Wer auf der von Russland annektierten Krim Menschenrechte verteidigt oder sich kritisch zur Lage vor Ort äußert, lebt gefährlich. Amnesty setzt sich für die betroffenen Aktivist*innen ein. 

Von Antonia Stüwe und Jovanka Worner

Die Menschenrechtslage auf der ukrainischen Halbinsel Krim ist seit der völkerrechtswidrigen Annexion durch Russland am 18. März 2014 besorgniserregend. Die russischen und die von Russland eingesetzten De-facto-Behörden unterdrücken mit aller Härte die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die gesamte Ukraine hat sich die Lage auf der Halbinsel weiter verschlechtert. Insbesondere Krimtatar*innen, Menschenrechtsaktivist*innen, kritische Journa­list*innen und Anwält*innen ­werden ­verfolgt, wie ausgewählte Fälle zeigen. Amnesty International fordert eine an­gemessene medizinische Versorgung und die umgehende Freilassung der ­Verurteilten.

Ein Mann hockt vor einem Baum und hat ein Mädchen auf dem Schoß, das ihn auf die Wange küsst.

Vladyslav Yesypenko

Vladyslav Yesypenko berichtete als freier Journalist für Medien, die der Annexion der Krim kritisch gegenüberstehen. Im März 2021 brach der Kontakt zu ihm ab, während er auf der Krim journalistisch tätig war. Später wurde bekannt, dass der russische Geheimdienst FSB ihn unter dem Vorwurf festgenommen hatte, "im Interesse des ukrainischen Geheimdienstes" Informationen gesammelt und in seinem Auto einen Sprengsatz aufbewahrt zu haben. Nach seiner Festnahme wurde Vladyslav Yesypenko von FSB-Angehörigen geschlagen und mit Stromschlägen gefoltert, bis er ein "Geständnis" ablegte. Beinahe einen Monat lang verwehrte man ihm den Zugang zu einem Rechtsbeistand. 2022 wurde er zu einer Haftstrafe von sechs Jahren verurteilt.

 

Ein Mann mit kurzgeschorenem Haar, trägt eine Brille, einen Pullover, Jeans und Jeansjacke; er steht an einer Uferpromenade, hinter ihm das Meer.

Emir-Usein Kuku

Emir-Usein Kuku ist ein Menschenrechtsaktivist. Nach der Annexion der Krim dokumentierte er Menschenrechtsverletzungen. Daraufhin schikanierten ihn Angehörige des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB. Seine Frau und seine Kinder wurden bedroht. 2016 beschuldigten ihn die russischen Behörden der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation" und nahmen ihn fest. Ende 2019 wurden er und weitere Angeklagte auf Basis konstruierter Vorwürfe in Russland zu Haftstrafen zwischen 7 und 19 Jahren verurteilt. Emir-Usein Kuku sowie Muslim Aliyev, Vadim Siruk und Enver Bekirov, die mit ihm verurteilt wurden, befinden sich immer noch in Haft.

 

Ein junger Mann trägt Wollpullover und Jacke, er ist draußen und steht vor einem Gebäude.

Server Mustafayev

Server Mustafayev ist ein Menschenrechtsaktivist und leitendes Mitglied der Organisation Krim-Solidarität. Die NGO unterstützt seit 2016 politisch und religiös verfolgte Menschen und informiert über die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen auf der Krim. 2018 wurde Server Mustafayev wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation" angeklagt. Die Bedingungen seiner Untersuchungshaft kamen zeitweise unmensch­licher und erniedrigender Behandlung gleich. Während des Prozesses wurde ihm eine notwendige medizinische Versorgung verweigert. Ein russisches Militärgericht verurteilte Server Mustafayev 2020 zu 14 Jahren Haft in einer Strafkolonie mit besonders strengen Sicherheitsmaßnahmen – trotz fehlender Beweise für eine international anerkannte Straftat.

 

Eine junge Frau lächelt, sie trägt Jeans, eine Sportjacke, in die sie ihre Hände vergräbt und eine Baseballmütze, ihre Haare fallen ihr bis auf die Schultern, sie steht draußen vor einer Wand aus Naturstein.

Irina Danilovich

Irina Danilovich, eine Krankenschwester und Menschenrechtsverteidigerin, wurde im April 2022 von russischen Sicherheitskräften entführt und im Dezember desselben Jahres nach einem unfairen Gerichtsverfahren zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Sie hatte zuvor Kritik am Gesundheitssystem geübt und Korruption angeprangert. Aufgrund schlechter Haftbedingungen und weil ihr eine ärzt­liche Behandlung verweigert wird, droht ihr der Verlust des Hörvermögens.

Die Autorinnen Antonia Stüwe und Jovanka Worner sind in der Amnesty-Kogruppe Belarus & Ukraine aktiv. Mehr Informationen: amnesty-krim.de.

HINTERGRUND

Faktencheck: Krim


Die ukrainische Halbinsel Krim wurde 2014 von der Russischen Föderation völkerrechtswidrig annektiert. Sie ist seit Langem Gegenstand von Desinformation und Mythen. Ein Faktencheck:

 

Mythos: Die Krim war schon immer russisch.

Fakt: Die Halbinsel Krim war Teil des Byzantinischen, Römischen, Mongolischen, Osmanischen und Russischen Reichs. Die Bezeichnung der Krim als "Perle des russischen Imperiums" stammt erst aus der Zeit nach der Annexion durch die russische Zarin Katharina II. im Jahr 1783. Diese Annexion beendete den Einfluss des Osmanischen Reichs über die Krim und das mehrere Jahrhunderte bestehende krimtatarische Khanat. 1921 wurde die Krim Teil der Sowjetunion. Im Zarenreich und in der Sowjetunion litten die indigenen Krimtatar*innen unter Unterdrückung, Marginalisierung und Vertreibung. Dies gipfelte in der großangelegten ethnischen Säuberung und Deportation im Jahr 1944, bei der schätzungsweise die Hälfte der Krimta­tar*innen umkam. Ab 1989 konnten die Krimtatar*innen langsam auf die Krim zurückkehren. Als Teil der Ukraine gewann die Krim 1991 ihren Status als autonome Republik. Durch ihre lange und komplexe Geschichte hat die Halbinsel einen großen symbolischen Wert für die russische wie für die krimtatarische und die ukrainische Bevölkerung. Die Krim war und ist Heimat vieler Bevölkerungsgruppen.

 

Mythos: Die Krim ist russisch-orthodox.

Fakt: Die Krim und ihre Bevölkerung sind seit jeher multikulturell und multireligiös. Und dies trotz der großangelegten Russifizierungen und Bevölkerungsaustausche im Zarenreich, in der Sowjetunion und nach der Annexion 2014. Ob auf der Krim tatsächlich im Jahr 988 die Taufe des Großfürsten Vladimir stattfand und sie damit als Ursprungsort der orthodoxen Kirche gelten kann, ist wissenschaftlich umstritten. Sicher ist, dass die Halbinsel im Lauf der Jahrhunderte vielen ethnischen Gruppen eine Heimat bot. Dazu zählen bis heute die Krimtatar*innen, deren ursprüngliche Sprache Krimtatarisch ist und die dem islamischen Glauben angehören.

 

Mythos: Die Krim ist durch das Referendum 2014 rechtmäßig in die Russische Föderation ­zurückgekehrt. 

Fakt: Nach dem Ende der Sowjetunion stimmte eine große Mehrheit der Bevölkerung 1991 im "Referendum zur Unabhängigkeit der Ukraine" für die Unabhängigkeit. Die Krim wurde als autonome Republik Teil der Ukraine. 1994 bekräftigte Russland im Budapester Memorandum, die territoriale Integrität der Ukraine zu achten – im Gegenzug für die Beseitigung aller Nuklearwaffen auf ihrem Territorium.

Das sogenannte "Referendum über den Status der Krim" vom 16. März 2014 fand in Anwesenheit bewaffneter paramilitärischer Kräfte und Angehöriger der russischen Armee statt, die in der Nacht vom 26. auf den 27. Februar 2014 Verwaltungsgebäude besetzt und Einrichtungen des ukrainischen Militärs blockiert hatten. Die Teilnehmer*innen des Referendums stimmten – laut De-facto-Regierung – zwar zu mehr als 90 Prozent für eine Eingliederung in die Russische Föderation. Doch Gegner*innen boykottierten die Abstimmung. Sie wurden umfassenden Repressionen ausgesetzt oder ins Exil getrieben. Einige wurden Opfer des Verschwindenlassens. Dieses "Referendum" ist somit kaum als aussagekräftig zu betrachten.

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