Amnesty Journal 21. März 2018

Von Liebe kein Wort

Ein alter Mann und eine alte Frau aus Uganda vor einer blauen Wand

Haben sich gefunden. Joel Roba und Jemima Poni.

Eine Million Flüchtlinge aus dem Südsudan versuchen, sich in Uganda ein neues Leben aufzubauen. So wie ­Jemima Poni, 70 Jahre, und Joel Roba, 71. Sie wurden im ­Lager ein Paar. Aus Not. Und aus einem zarten Gefühl.

Aus Bidi Bidi berichten Andrea Jeska und Klaus Petrus (Fotos)

Sie war barfuß und ohne Gepäck. Keine Pfannen, Decken, Matten, nichts von dem, was sie einmal besaß, hat sie mitgenommen. Nicht einmal Kleidung. Sie trug nur einen Rock aus einem dünngewaschenen Stück Stoff, ein T-Shirt und darüber ein Männerjacket. Sie sagte, sie sei aus Yonduru, im Südsudan. Sei eine Marktbeschickerin für Cassava, Tomaten und Bohnen aus ihrem eigenen Garten gewesen, der nur noch ein Stück verbrannte Erde sei, nachdem Soldaten das Dorf anzündeten. Ihr Mann sei lange tot und wo ihre Kinder seien, das wisse sie nicht. Vielleicht geflohen. Vielleicht auch tot.

Er war mit seinem Sohn unterwegs. Rebellen griffen ihre Hütten nahe Yei an, weil gleich daneben eine Kaserne des süd­sudanesischen Militärs war. Die Rebellen schossen von Westen, die Soldaten erwiderten das Feuer von Osten, und mittendrin ­lagen die Hütten des Dorfes. Wände aus Lehm und Stroh und Grasdächer, nichts, was Kugeln und Geschütze abhalten könnte. Panisch waren alle geflohen, 180 Menschen. 50 waren im Kugelhagel umgekommen, auch seine Frau, auch fünf seiner Söhne, auch seine Enkel.

Als die Kämpfe vorüber waren, die Rebellen gesiegt hatten, waren die Hütten verbrannt. Noch einmal kehrten die Überlebenden zurück, um die Toten zu begraben. Dann gingen sie nach Südwesten in Richtung ugandische Grenze. Von Deckung zu Deckung, von Waldstück zu Waldstück. Immer auf der Hut vor den Bewaffneten. Von den Feldern jener, die noch nicht geflohen waren, stahlen sie Mais, sie aßen ihn roh, damit kein Feuer sie verriet.

Ein Mann trägt zwei Pakete auf der Schulter, hinter ihm sind Stapel von anderen Paketen

Neues Leben im Lager. Südsudanesen in Bidi Bidi, Oktober 2017.

13 Tage dauerte die Flucht. Sie, allein, ohne Schuhe. Voller Angst zu verhungern, zu kollabieren. Angst, was aus ihr werden solle, eine alte Frau, mittellos, schutzlos. Er mit seinem Sohn, dem letzten, der ihm geblieben war und der ihn auf dem Rücken tragen, führen musste. Anfangs hatten sie noch Dinge dabei, die sie retten konnten, aber dann ließen sie alles Stück für Stück zurück, weil es zu schwer war. Immer wieder machten sie lange Pausen, sein Asthma und die Not nahmen dem alten Mann den Atem, sein Augenlicht reichte kaum, um den Weg vor ihm zu ­sehen.

Irgendwo kurz vor der Grenze nach Uganda trafen sie sich: die Frau, Jemima Poni, 70 Jahre alt, der Mann, Joel Roba, 71 Jahre alt, und sein Sohn, Emmamos Lomoro, 29 Jahre alt.

Woher, wohin, hatten sie einander gefragt. Dann waren sie ohne viele weitere Worte zusammen weitergegangen, hatten die Grenze überquert, wurden dort von Hilfsorganisationen in Empfang genommen, zu einer Auffangstation für südsudanesische Flüchtlinge gebracht. Warme Mahlzeiten. Medizin gegen sein Asthma, Salbe für ihre geschundenen Füße.

Als sie am dritten Tag ein Stück Land zugewiesen bekamen, man ihnen eine Plane gab und einige angespitzte Pfähle, um ein provisorisches Haus zu bauen, dann noch einen Topf und Reis, Bohnen, Öl, war es selbstverständlich, dass sie mit ihnen ging. Dass sie die Steine zusammentrug und ein Feuer machte, aus Reis und Bohnen die erste Mahlzeit kochte.

Die ganz Jungen. Und die ganz Alten. Wenn es eine Skala der Verwundbarkeit gibt in Krisen wie der des Südsudans, dann stehen diese beiden Gruppen ganz oben. Seit drei Jahren fliehen die Menschen vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land, über eine Million sind es inzwischen, die im Norden Ugandas Schutz suchen. In den vergangenen Monaten kamen täglich 200 Menschen, die meisten zu Fuß, durchschnittlich zwei Wochen sind sie unterwegs aus ihren Dörfern südlich der südsudanesischen Hauptstadt Juba bis an die ugandische Grenze.

Eine Gruppe von Geflüchteten unter bewölktem Himmel

Geflüchtete in Bidi Bidi, Oktober 2017.

Es ist für viele ein Weg des Schreckens, junge Mädchen werden unterwegs vergewaltigt, die Alten und die Kinder sterben an Durst oder Erschöpfung. In den Wirren der Kämpfe, dem Chaos der Flucht verlieren viele ihre Angehörigen, retten gerade mal das eigene Leben. 80.000 unbegleitete Kinder sind unter den Flüchtlingen. Wie viele alte Menschen ohne ihre Familie kommen, darüber gibt es keine Statistik.

Die ugandische Regierung gibt jedem Flüchtling Land. 50 mal 50 Meter für ein autarkes Leben. Damit will man der Krise und vor allem ihrer langfristigen Folgen Herr zu werden. Es sollen keine Zeltstädte entstehen, in denen die Flüchtlinge armselig hausen, sich bald Krankheiten und Verzweiflung ausbreiten und die Menschen über viele Jahre von der Unterstützung durch Hilfsorganisationen abhängig sind.

Die ersten Flüchtlinge kamen vor drei Jahren, damals entstand die erste Flüchtlingssiedlung Bidi Bidi mit 600.000 Menschen. Längst ist daraus eine Stadt geworden, haben die meisten Menschen sich Hütten gebaut, Gärten angelegt. Es gibt einen Markt, auf dem die Flüchtlinge Gemüse verkaufen und frittierte Teigtaschen, gebrauchte Kleidung und Schuhe. Bars und Restaurants sind entstanden, selbst die Allerärmsten verdienen sich Geld als Köhler oder als Schneider.

Eine Nacht ist vergangen, seit sie das Stück Land, die Pfähle, die Plane bekamen, um sich ein Haus zu bauen. Männer von Hilfsorganisationen sind gekommen, um dem Sohn beim Einschlagen der Pfähle zu helfen, 18 haben sie senkrecht aufgestellt, dagegen sechs Querbalken genagelt. Dann war es zu dunkel, um die Plane zu befestigen und so haben sie die erste Nacht auf dem Boden unter Decken geschlafen. Es war kalt, und die alte Frau ging im ersten Tageslicht Holz sammeln, machte Feuer, setzte wieder Reis mit Bohnen auf. Dass der Alte und sein Sohn ihr in der Nacht eine Decke gaben, mit ihr am Morgen aßen, nimmt sie als Versprechen einer neuen Gemeinschaft.

Nach dem Frühstück setzt sie sich neben ihn auf einen umgefallenen Baumstamm. Er lacht sie an, hat kaum noch Zähne im Mund, sie senkt den Kopf, lächelt verschämt zurück und zieht das Männerjacket über ihr schmutziges Kleid. Sie werden nie von Gefühlen sprechen. Der Alte hat fast alles verloren, ist halb wahnsinnig vor Schmerz. Jede Freundlichkeit ist ihm ein Trost.

Sudanesischer Mann vor einem blau-weißen Tuch, er trägt ein Old Navy Shirt und blickt ernst

Irgendwie weiter. Emmamos Lomoro.

Der Sohn kann nicht allein für den Alten sorgen. Ihn waschen und ihn herumführen, den Halbblinden. Der Sohn hat ­andere Sorgen. Sie brauchen Essen, der Alte seine Medikamente, auch neue Schuhe, eine Hose, sie müssen roden, Gemüse anpflanzen, erst den Boden umpflügen mit der Hand, sie brauchen Samen und Wasser. Ohne die alte Frau, die ihm den Vater abnimmt, Feuer macht, Wasser holt, Mahlzeiten bereitet, sät und erntet, wird es nicht gehen.

Und sie? Sie hatte einen Ehemann, von Liebe, sagt sie, war da nie die Rede. Sie haben gemeinsam gearbeitet, sie hat sechs Kinder bekommen, dann war er tot, dann kam der Krieg, die Flucht. Was kann sie noch erwarten? Als sie ankam, hat sie von anderen gehört, dass man mit eigenen Händen ein Haus bauen und kräftig sein muss, wenn man überleben will. Viele Stunden müsse man anstehen für Reis, Mehl, Bohnen, in großen Säcken würden diese verteilt, die müsse man allein nach Hause tragen.

Manchmal würden die Lebensmittel gekürzt, reiche die ­Zuteilung nicht für einen Monat, sondern gerade mal für drei Wochen. Dass man dann Geld brauche, wenn man nicht hungern wolle, man Arbeit finden müsse, egal, welche. Ein Kampf sei es, hatte ihr jemand gesagt. Und sie hatte sich gefürchtet, weil sie wusste, sie war zu alt, zu schwach, um noch um irgendetwas zu kämpfen.

Die Versorgung der Flüchtlinge erfordert eine komplexe ­Logistik. Es gibt Hilfsorganisationen für jeden Bereich. Lebensmittelverteilung, Wasser, Brunnen, Hygiene, Bildung. Von den zugesagten Mitteln der internationalen Gemeinschaft sind bislang nur 29 Prozent geflossen, die Finanzierungslücke von 71 Prozent erschwert alles. "Wir müssten viel mehr tun, bräuchten mehr Sozialarbeiter, mehr Therapeuten, mehr geschützte Räume für jene, die schwach sind", sagt Ryan Duly, Projektkoordinator für Handicap International in Uganda.

Die Organisation kümmert sich seit September 2017 um die Schwächsten unter den Geflohenen: alleinerziehende Mütter, Kranke, Behinderte, unbegleitete Kinder, Traumatisierte. Sozialarbeiter und Psychologen besuchen die Familien, bieten Hilfe an, mal konkrete, mal therapeutische. Es gibt Gesprächskreise, Selbsthilfegruppen, psychologische Beratung. Dahinter steckt die Einsicht, dass das System der Massenversorgung und des Krisenmanagements unter schwierigen Voraussetzungen kaum Raum für individuelle Bedürfnisse lässt und schon gar keinen für jene, die zu schwach sind, um einen Neuanfang zu wagen.

Ein sudanesischer Flüchtling steht im Gerüst eines Hauses aus Holzpfählen, hinter ihm grüne Bäume

Neuanfang im Alter. Joel Roba.

Doch viele, die es bräuchten, nehmen diese Hilfe nicht in Anspruch. Zu fremd sind ihnen die Ideen der Weißen, zu aufwändig die Strukturen dahinter. "Wir haben uns schon immer gegenseitig geholfen", sagt Emmamos Lomoro trotzig. "In unserem Land gibt es seit Jahrzehnten Krieg, wenn da einer nicht für seine Nachbarn da wäre, wären wir wohl alle schon tot." Von dieser Solidarität in Zeiten der Not hört man in den Camps viele Geschichten: von Menschen, die verwaiste Kinder aufnehmen, von Gläubigen, die erst eine Kirche bauen, dann ihre Hütte, und sich zu neuen Gemeinden zusammenschließen. Oder von alten Frauen wie Jemima Poni, die Schutz und Unterstützung bei Wildfremden finden.

Auch die Einheimischen leisten ihren Teil. Sie nehmen Kinder auf, vermitteln Arbeit, geben Land. Denn was Krieg und Vertreibung bedeuten, wissen sie aus eigener Erfahrung: Zwanzig Jahre lang, seit Beginn der 1980er Jahre, wütete die Lord’s Resistance Army (LRA) in Ugandas Norden und ermordete Zehntausende. Wer konnte, floh in den Süden des Sudans. Nicht zuletzt deswegen gibt es bislang kaum Konflikte zwischen der Bevölkerung und den Flüchtlingen. Zudem profitieren die Einheimischen. Seit Beginn der Krise bauen Hilfsorganisationen im armen und abgelegenen Norden Schulen und Krankenstationen, bohren Brunnen, verteilen Saatgut. Jedes Hilfsprojekt kommt zu 30 Prozent den Einheimischen zugute.

Später an jenem Tag gehen die beiden Alten mühsam zum Versammlungspunkt, weil man ihnen sagte, alle Neuankömmlinge müssten sich dort einfinden. Sie hoffen auf ein Stück Fleisch, ein wenig Gemüse. In den zwei Reihen, die die Flüchtlinge bilden, stehen fast nur junge Männer, die Frauen mit Kindern und die Alten werden an den Rand gedrängt. Die beiden Alten sitzen dicht nebeneinander, ihr Arm berührt seinen. Doch es gibt keine Lebensmittel, nur das Versprechen, am anderen Tag Hacken und Schaufeln zu verteilen, damit man damit beginnen könne, sein Stück Land zu beackern.

Der Campmanager hält eine Ansprache, mahnt, alle sollten in Frieden leben. "Wir trinken dasselbe Wasser, unsere und eure Kinder gehen in dieselben Schulen, wir essen dasselbe Essen. Tragt eure Konflikte aus der Heimat nicht in unser Land." Dann erklärt er noch, dass die Flüchtlinge für höchstens drei Jahre ­Hilfe und Essen erwarten könnten. "So Gott will", sagt der alte Mann zu der alten Frau neben ihm, "so Gott will, sind wir in drei Jahren beide tot." Sie nickt und lächelt ihm zu, als sei das ein schöner Gedanke. 

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