Amnesty Journal Taiwan 27. September 2024

Fragile Freiheit

Ein Mann mit nacktem Oberkörper hält ein Mikrofon in der rechten Hand und streckt die andere aus, er steht auf einer Bühne und singt.

"Nur Gerechtigkeit bringt uns Frieden": Freddy Lim, Parlamentsabgeordneter und Frontmann der Metalband Chthonic

Taiwan gilt als gefestigte Demokratie. Doch viele im Land sehen diese Staatsform bedroht – insbesondere Künstler*innen, die sich noch an die Diktatur erinnern. 

Von Felix Lill

"Du kannst meine Zunge abschneiden und mich zu einem Stummen machen, der nie wieder etwas kritisieren kann." So beginnt das Gedicht "An den Diktator", das in den 1980er Jahren in den Gefängnissen von Taiwan kursierte. Den Inhaftierten, von denen viele dem demokratischen Widerstand angehörten, spendeten diese Zeilen Mut. Denn schließlich endet das Gedicht nicht mit einer Klage, sondern mit einer Warnung: "Im strengen Urteil der Geschichte ist deine Wut nicht mehr als ein Niesen im eisigen Wind."

Als Cheng Chiung-ming diese Zeilen schrieb, wusste er, was er damit riskierte. Taiwan war eine Militärdiktatur, befand sich fest im Griff der Kuomintang, der ­Nationalen Volkspartei Chinas, die seit 1949 als Exilregierung in Taiwan regierte. "Man musste wirklich vorsichtig sein, was man sagte", erinnert sich der heute 76-Jährige, der zu den bekanntesten Dichtern Taiwans zählt. "Aber ich stellte mir vor, dass die Menschen in den Gefängnissen das Gefühl haben müssen, die Leute da draußen verstehen sie." Also schrieb er weiter.

Fast vier Jahrzehnte Kriegsrecht

Die Gedichte, die Cheng Chiung-ming im Lauf der Jahrzehnte veröffentlichte, wirken heute teilweise wie historische Dokumente. Sie handeln von Mitwisserschaft über Verbrechen und stillem Widerstand, bezeichnen die Erinnerung als Zeugin und Archivarin, und prophezeien, dass die Zukunft gewiss kein mildes Urteil über Diktator*innen fällen werde. Heute ist Taiwan keine Diktatur mehr. 1987 wurde das fast vier Jahrzehnte geltende Kriegsrecht aufgehoben, 1996 fanden erstmals freie demokratische Wahlen statt.

Und dennoch: Das Thema, das sich durch das Werk von Dichter*innen wie Cheng zieht, ist in Taiwan immer noch ­aktuell. Das wurde im Oktober 2023 erneut deutlich, als die Taipeh Vertretung in Berlin – die Quasi-Botschaft Taiwans in Deutschland – zu einer Veranstaltung einlud mit dem Titel "Taiwan, eine bedrohte Demokratie". Zahlreiche Gedichte von Cheng wurden dort vorgelesen und von Shieh Jhy-Wey, dem Quasi-Botschafter Taiwans in Deutschland, kommentiert. Shieh stellte immer wieder klar: "Die ­Bedrohung ist nicht vorbei."

Mandarin war Pflicht

Als 1949 der Chinesische Bürgerkrieg endete, zogen sich die gegen die kommunistischen Kräfte unterlegenen Kuomintang-Nationalist*innen auf die Insel Taiwan ­zurück, wo sie ihre "Republik China" fortführten, während die Kommunistische Partei auf dem Festland die "Volksrepublik China" etablierte. In den folgenden Jahrzehnten wollten die Nationalist*innen unter Chiang Kai-shek, der über Taiwan als Diktator herrschte, das Festland zurückerobern – was aber nie gelang. So lebte man in Taiwan im Ausnahmezustand.

Meinungsfreiheit gab es nicht, nicht einmal Sprachfreiheit. Im öffentlichen Leben musste das vom Festland mitgebrachte Mandarin gesprochen werden. Für Kunstschaffende, die mit Sprache ­arbeiteten, war dies eine deutliche Einschränkung. 

"Die Vorherrschaft der Zu­gezogenen auf dem Gebiet der Literatur brachte eine sehr enge thematische Ausrichtung mit sich", schreibt Thilo Diefenbach im Vorwort seines Buchs "Gedanken in Weiß", das Werke von Cheng in deutscher Übersetzung enthält. Sie beziehen sich auf "den Antikommunismus, auf den Bürgerkrieg gegen die Kommunisten, auf die Sehnsucht nach der im Krieg verlorenen Heimat."

Blick nach Festlandchina

Als Cheng, der ursprünglich Arzt war, sich ab den 1970er Jahren als Dichter einen Namen machte, prägte er eine neue Literatur, die dem antikommunistischen Nationalismus Forderungen nach einem Ende der Diktatur in Taiwan entgegenstellte. Cheng verantwortete Literatur­magazine mit, die durch Spenden finanziert wurden und immer wieder zensiert wurden. Er kam aber nicht ins Gefängnis. "Mir wurden nur Beförderungen im Krankenhaus verwehrt", sagt er. "Ich ­hatte Glück." Wobei Teil seines Glücks war, dass sich allmählich die Stimmung änderte und die Diktatur ihren Griff ­lockerte – aufgrund des wachsenden ­demokratischen Widerstands.

Bis heute zählt Cheng Chiung-ming zu den bekanntesten Künstler*innen, die dem Widerstand gegen Diktatur und Menschenrechtsverletzungen Ausdruck verliehen. Aber er ist bei Weitem nicht der Einzige. Ein weiterer bekannter Name ist Chen Chieh-Jen, der ebenfalls in der Diktatur aufwuchs. In Videoinstallationen setzt sich der heute 64-Jährige etwa mit unterschiedlichen Darstellungen von Wirklichkeit auseinander. Ein Werk, das weltweit ausgestellt wurde, heißt "Military Court and Prison": In zwei Filmen stellt Chen die offizielle Vision der Militärregierung als Staat von Recht und Ordnung seinen eigenen Erinnerungen gegenüber: Er wuchs in unmittelbarer Nähe eines Gefängnisses auf, in dem sich auch das Militärgericht befand.

Wer dieses Werk auf die heutige Zeit bezieht, in der Taiwan eine Demokratie ist, kommt schnell auf das Verhältnis zum chinesischen Festland. Schließlich ist die in Peking regierende Kommunistische Partei bis heute der Auffassung, Taiwan sei ein Teil Chinas und müsse mit dem Festland "wiedervereinigt" werden. Indirekt droht Chinas Präsident Xi Jinping immer wieder mit einem Angriff auf Taiwan.

Die Diktatoren Asiens sagen, Menschenrechte passten nicht zu den Menschen in Asien. Dagegen kämpfen wir.

Freddy
Lim
Frontmann der Metalband Chthonic und Parlamentsabgeordneter

In der aktuellen Kunstszene ist das ein wichtiges Motiv, etwa für Freddy Lim. Er ist Frontmann der Metalband Chthonic und wurde 2016 erstmals ins taiwanische Parlament gewählt. Gegenüber dem französischen Sender France 24 erklärte er Anfang des Jahres: "Ich glaube, in Taiwan haben wir unser eigenes Thema, für das wir einstehen. Die Diktatoren Asiens sagen, Menschenrechte passten nicht zu den Menschen in Asien. Dagegen kämpfen wir."

Die Musiker von Chthonic vertonen das Kämpferische in ihren Songtexten, mit schnellen Akkorden und lauten Sounds. Im 2013 veröffentlichten Lied "Supreme Pain for the Tyrant" heißt es: "Lass mich aufstehen wie ein Taiwaner; nur Gerechtigkeit bringt uns Frieden." Es folgen Referenzen zu Blut und Gewalt.

Das Popduo Namewee and Kimberly Chen pflegt einen seichteren Zugang. Ihr Song "Fragile", der eine zerbrochene Liebe beschreibt, bei der ein Partner die Trennung nicht akzeptiert, wurde 2021 zum Hit. Vordergründig handelt er von einem Liebespaar, aber beim Hören wird deutlich, dass der klettige Ex auch Festlandchina sein könnte.

Bedrohung von innen

Immer wieder deutlich wird aber auch, dass Taiwans Demokratie nicht nur von außen bedroht ist. "Es gibt auch in Taiwan selbst Bewegungen, die die Demokratie destabilisieren", sagt Marcin Jerzewski vom Thinktank Taiwan NextGen in Taipeh. So sei die Präsidentschaftswahl im Januar 2024 von Desinformationskampagnen begleitet gewesen: "Es gibt so viel Lärm in der Öffentlichkeit, dass es einfach ist, daraus Narrative im Sinne Chinas zu stricken, die darauf abzielen, Vertrauen in die demokratischen Institutionen zu schädigen."

Doch ist Taiwan auch als Demokratie nicht vor Menschenrechtsverletzungen gefeit. So hält das Land, mit überwiegender Zustimmung der Bevölkerung, an der Todesstrafe fest. Nichtregierungsorganisationen und Künstler*innen wie der Sänger Freddy Lim kritisieren dies seit Langem. Die regierende Demokratische Partei, die einst aus dem Widerstand entstand, wagt aus Angst vor Unmut keine Änderung.

Für Cheng Chiung-ming ist dies auch ein Relikt aus der Diktatur. Die Forderung nach Menschenrechten wird in seinen Werken immer wieder deutlich. Etwa im Gedicht "Der Augenzeuge", das Cheng zwischen 1977 und 1980 schrieb: "Ich bin Augenzeuge, einer Tragödie, seit dem Prolog, seit dem ersten Akt, bin ich Augenzeuge, mit scharfem Blick, beobachte ich jeden Aspekt der Wirklichkeit." Die Unvollkommenheit der Demokratie in Taiwan ist bis heute sichtbar.

Felix Lill ist freier Südostasien-Korrespondent. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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