Amnesty Journal Schweiz 20. November 2020

Ohne Papiere, aber mit Hilfe

Zahllose orange-weiße Migros-Einkaufstüten stehen dicht an dicht, drei Menschen stellen sie zusammen, drei von ihnen tragen orangefarbene Warnwesten.

Viel zu tun: Freiwillige packen Lebensmittelbeutel, Genf im Mai 2020.

Die Corona-Pandemie hat die ohnehin schwierige Lage von Armut betroffener Menschen in der Schweiz verschlechtert, insbesondere derjenigen ohne regulären Aufenthaltsstatus, der Sans-Papiers. Engagierte Menschen sprangen ein, als die sozialen Netze zu reißen drohten.

Von Manuela Reimann Graf und Emilie Mathys

Ein Samstagmorgen im Herbst 2020, Zürich-Altstetten. Neben einer Do-it-yourself-Autowaschanlage, an der ­einige Männer ihre Autos blitzblank putzen, bildet sich eine lange Schlange. Es sind vorwiegend Sans-Papiers, Flüchtlinge, aber auch Obdachlose und andere – mit oder ohne Schweizer Pass –, die anstehen, um ihre Taschen mit Lebensmitteln zu füllen. Bis zum Abend werden es mehr als 1.000 Menschen sein, die sich dort mit dem Notwendigsten versorgen.

Ähnliche Szenen sah man nach dem Beginn des Lockdowns am 16. März in verschiedenen Schweizer Städten – und man sieht sie immer noch. Die Bilder von Tausenden Menschen, die im reichen, internationalen Genf für Nahrung anstehen, waren auch in ausländischen Medien zu sehen und erstaunten die Welt. Wie viele Menschen in der "reichen" Schweiz nun in Not geraten, wurde plötzlich deutlich sichtbar.

Seit dem Lockdown hat sich die Lage von Armut betroffener Menschen verschärft: Insbesondere die Sans-Papiers fallen durch alle Raster, weil sie sich wegen ihres "illegalen Status" nicht an die Sozialdienste der Gemeinden wenden können. Sie sind die ersten, die ihr mageres Einkommen verlieren, das sie ohne gültige Verträge als Putzhilfen, Altenpflegerinnen, Bauarbeiter oder in der Gastronomie hatten. Nach dem Ende des Lockdowns konnten viele nicht an ihre Arbeitsstellen zurückkehren. In der Schweiz leben nach einer Studie aus dem Jahr 2015 schätzungsweise 100.000 Menschen ohne regulären Aufenthalts­status, die aktuellen Zahlen kennt niemand.

Unerwartet viel Unterstützung

"Wie viele Papierlose bislang ihre Stelle verloren haben, wissen wir nicht", sagt Bea Schwager von der Anlaufstelle für Sans-Papiers in Zürich (SPAZ). "In den Monaten März und April wurden wir aber mit Hilfsanfragen förmlich überrannt. Viele hatten Angst, auf der Straße zu landen, da sie keine Miete mehr bezahlen konnten." Das SPAZ, das in Not Geratenen unter anderem mit finanzieller Unterstützung hilft, lancierte einen Spendenaufruf und erhielt überraschend viele Zusagen. "Es war schön zu sehen, wie viele Menschen positiv reagierten und zum Beispiel für andere die Krankenkassenbeiträge bezahlten." Auch der Aufruf, die Sans-Papiers etwas aus ihrer häuslichen Isolation zu holen, stieß auf breites Echo. Denn die meisten trauten sich kaum mehr auf die Straße – wegen der erhöhten Polizeipräsenz, aber auch weil sie ohne Geld sowieso nicht viel unternehmen konnten. "Wenn man bedenkt, dass die meisten in äußerst prekären Wohnverhältnissen leben müssen, kann man sich vorstellen, wie schwierig das für die Betroffenen war", erklärt Bea Schwager.

Einer, der sofort erkannte, was die neuen Umstände für die Sans-Papiers bedeuteten, war Amine Diare Conde. Der junge Mann aus Guinea ist fast schon eine Berühmtheit, zumindest in Zürich und sicher bei den Asylsuchenden der Stadt. Amine erzählt, wie er einkaufen wollte am 16. März, als der Lockdown begann. "Viele Regale waren fast leer. Ich sah, wie die Leute ihre Einkaufswagen mit Lebensmitteln und WC-Papier vollstopften. Da fragte ich mich, wie wohl andere Sans-Papiers, die es nicht so gut haben wie ich, diese Tage überleben würden."

"Ich habe erkannt, dass es keinen Sinn macht, ständig in der Angst vor Abschiebung zu leben. Besser ist es, meine Zeit so gut wie möglich zu nutzen.

Amine Diare
Conde
freiwillger Helfer in Projekten für Asylsuchende und Sans-Papiers
Ein junger schwarzer Mann mit Brille steht in einem Lager und blickt in die Kamera.

Dachte an jene, "die es nicht so gut haben wie ich": Amine Diare Conde in Zürich

 

Andere, denen es nicht so gut gehe wie ihm – das erwähnt er immer wieder. Als 16-Jähriger allein aus seinem Heimatland durch die Wüste geflüchtet, kam er nach mehreren gescheiterten Versuchen, das Mittelmeer zu überqueren, in der Schweiz an. Dort wurde sein Asylantrag umgehend abgelehnt, seither lebt er als Abgewiesener in dem Land, das er eigentlich verlassen müsste. "Anfangs hielt ich die Ungewissheit fast nicht aus, wurde depressiv. Aber ich wollte nicht aufgeben. Also begann ich, mich zu informieren, zu vernetzen und zu engagieren." In bis zu 15 Projekten gleichzeitig ist Amine Diare Conde aktiv, er arbeitet freiwillig in diversen Unterstützungsprojekten für Asylsuchende und Sans-Papiers mit und spricht fast fehlerlos Deutsch. "Ich habe erkannt, dass es keinen Sinn macht, ständig in der Angst vor Abschiebung zu leben", sagt er. "Besser ist es, meine Zeit so gut wie möglich zu nutzen." Dank seines mittlerweile großen Netzes an Freundinnen und Freunden holt er nun im Expresstempo den Schulabschluss nach und muss nicht in einer Notunterkunft leben.

Achteinhalb Franken pro Tag

"Ja, mir geht es im Vergleich sehr gut, ich habe auf der Flucht erfahren, was Hunger ist. Die meisten abgewiesenen Flüchtlinge müssen in einer Notunterkunft wohnen und erhalten nur 8 Franken 50 Nothilfe pro Tag. Davon kann niemand wirklich leben, die meisten brauchen zusätzliche Hilfe. Aber woher sollten sie die nun bekommen?"

Amine Diare Conde beschloss, aktiv zu werden. Nach un­zähligen Telefonaten schaffte er es, mehr als 5.000 Mahlzeiten eines Verpflegungsdienstes für die nun geschlossenen Kinder­tagesstätten zu erhalten. In der Autonomen Schule Zürich, in der er ebenfalls engagiert ist und die nun keinen Unterricht mehr abhalten konnte, organisierte er in Windeseile eine Lebensmittelausgabe. "Wir haben mit rund 500 Personen gerechnet, aber es kamen mehr, viel mehr." Gemeinsam mit anderen Freiwilligen sammelte er weitere Lebensmittel, gespendet von Firmen und Restaurants.

Rund 70 Freiwillige helfen seither Samstag für Samstag bei "Essen für Alle" mit, wie das Projekt jetzt heißt. Hunderte Kisten werden aus den Lieferwagen gehievt und ausgepackt, die Waren ausgebreitet und die Abgabe organisiert – inzwischen in einer Kantine in Altstetten, da die Autonome Schule ihre Räume wieder selbst benötigt. Die Stiftung Pfarrer Sieber, die mittlerweile die Schirmherrschaft übernommen hat, stellte die neue Lokalität zur Verfügung. Dank Geld- und weiterhin vielen Naturalspenden kommt genug zusammen, um jede Woche fast 1.000 Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen. Insgesamt kann Amine Diare Conde mittlerweile auf ein Netz von mehr als 300 Freiwilligen zurückgreifen, alle gespeichert in seinem Handy, das unablässig klingelt.

Es war schön zu sehen, wie viele Menschen positiv reagierten.

Bea
Schwager
Anlaufstelle für Sans-Papiers in Zürich

Coronaschutz inklusive

Viele Gedanken haben sich die Freiwilligen darüber gemacht, wie der Schutz vor Corona gewährleistet werden kann und ein Hygienekonzept entwickelt. Amine Diare Conde erreichte, dass ein Hilfswerk ausreichend Masken spendete, "denn wir möchten ja Essen verteilen, nicht Corona", sagt er mit einem breiten Grinsen. Es wurden Tickets eingeführt, sodass pro Familie nur noch eine Person in einem bestimmten Zeitraum anstehen darf, damit die Warteschlangen nicht zu lang werden.

An diesem Samstag ist Gina die "Ordnungshüterin", eine junge Schweizerin, die "Zeit hatte und etwas Sinnvolles tun wollte". Sie erklärt den geduldig wartenden Menschen den Ablauf und schaut, dass sich alle die Hände desinfizieren und hinter den Abstandsmarkierungen bleiben.

"Für Sans-Papiers ist der Schutz vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus noch wichtiger als für uns", erklärt Bea Schwager. "Denn viele trauen sich nicht, sich an Kliniken oder an Ärztinnen und Ärzte zu wenden, da sie Angst haben, aufzufliegen." Es gibt zwar die Möglichkeit, sich auch als papierlose Person versichern zu lassen, aber die hohen Versicherungsprämien können sich nur wenige leisten.

200 Tonnen Lebensmittel

Auch in Genf startete die Verteilung von Nahrungsmitteln Mitte März zunächst im kleinen, privaten Rahmen. "Anfangs waren es Silvana Mastromatteo und ihr Ehemann", erzählt Tatiana Lista Auderset, die wenig später dazustieß. "Silvana Mastromatteo ­engagiert sich in der Solidaritätskarawane, deren Präsidentin sie ist, schon lange für Sans-Papiers. Das Paar begann nach Ausbruch der Corona-Krise damit, in der eigenen Garage Essens­pakete zu packen und abzugeben."
Um die Gesundheit aller zu schützen, wurde die Verteilaktion auf einen großen Platz in der Stadt verlegt. Immer mehr Menschen kamen zur Lebensmittelabgabe, was schließlich die Polizei auf den Plan rief. "Ich las in den sozialen Medien davon, dass die Aktion gestoppt werden musste, weil Silvana verhaftet worden war", erzählt Tatiana. Sie habe versucht herauszufinden, ob es andere Verteilstellen gebe, fand aber keine. Also beschloss Tatiana Lista Auderset, selbst aktiv zu werden und kontaktierte verschiedene Organisationen, um eine eigene Verteilaktion aufzubauen. Ärzte ohne Grenzen bot an, sich um die logistischen und sanitären Aspekte der Verteilung zu kümmern. "Mitte April trafen wir uns dann zu einer ersten Lebensmittelverteilung in einer Schule. Eins führte zum anderen, und so wurde ich Koordinatorin der Freiwilligen."
"Anfangs waren wir 15 Freiwillige und hatten 650 Lebensmittelpakete", erzählt sie. "Es kamen aber doppelt so viele Menschen, die Schlange erstreckte sich über mehrere Kilometer. Da wurde uns allen klar, wie groß die Not wirklich war. Es war ein schrecklicher Tag, und wir alle gingen schockiert nach Hause."

In den folgenden Wochen wechselte man wieder den Ort. Freitags wurden Lebensmittel, Babynahrung sowie Hygiene­produkte gepackt und samstags verteilt – mittlerweile seien es mehr als 15.000 Pakete geworden, rund 200 Tonnen an Lebensmitteln. "Durch Mund-zu-Mund-Propaganda meldeten sich nicht nur diejenigen, die unsere Hilfe benötigten, sondern auch solche, die helfen wollten." Normalerweise seien es Menschen im Ruhestand, die sich freiwillig engagierten. "Doch jetzt kamen auch Studierende, Leute aus dem Kultursektor, Arbeitslose, ein italienischer Psychologe, ein Lehrer mit seiner ganzen Klasse. Die Leute riefen sogar bei mir zu Hause an, um zu erfahren, wie man uns unterstützen kann."

Sie selbst sei zuvor auch nie in einer solchen Weise engagiert gewesen, erzählt sie. "Aber nachdem mir klar wurde, wie viele verletzliche Menschen durch die Corona-Krise hart getroffen werden, sagte ich mir: Wenn du nichts tust, dann begehst du ein Verbrechen." Ihr Engagement habe sie zutiefst verändert, meint Tatiana. "Mir ist bewusst geworden, wie heuchlerisch die Gesellschaft mit den Papierlosen umgeht, die so zahlreich mitten unter uns leben und denen es an so vielem fehlt."

Paradoxe Sandwiches

Etwas kürzer als in Genf und Zürich sind die Schlangen in Bern, so in der Speichergasse, wo sich die Büros der Gassenarbeit Bern befinden. Auch dort werden zwei Mal pro Woche Mahl­zeiten und Hygieneprodukte abgegeben, die Not ist groß. "Die üblichen Unterstützungsangebote für Menschen mit Lebensmittelpunkt auf der Straße fielen weg. Viele wichtige Treffpunkte und Beratungsstellen für Obdachlose, Sans-Papiers und andere muss­ten während des Lockdowns geschlossen werden, weil die Abstandsregeln nicht eingehalten werden konnten", erzählt Louise Frey, eine der Freiwilligen.

 

Es wäre eigentlich Aufgabe des Staates, diesen Menschen zu helfen.

Louise
Frey
Studentin
Eine junge Frau mit lockigem dunkelblonden Haar lächelt.

Helferin der Organisation "Gassenarbeit Bern": Louise Frey

 

Also wurden Alternativen gesucht. Beratungen fanden nun auf der Straße statt, auch die Essensabgabe wurde ins Freie verlegt. "Es kamen viele uns unbekannte Gesichter, ganze Familien. Die festangestellten KollegInnen arbeiteten unermüdlich, sie übernachteten sogar im Büro", erzählt die 25-jährige Studentin der Sozialanthropologie weiter. "Da war mein Einsatz eine vergleichsweise kleine Hilfe." Tagelang belegte Louise Frey zusammen mit weiteren Freiwilligen Hunderte von Sandwiches, die zusammen mit weiteren haltbaren Lebensmitteln abgegeben wurden. "Anfangs war es ziemlich paradox", erinnert sie sich. "Von Restaurants erhielten wir edle Ware, die diese wegen der Schließung nicht mehr verwenden konnten. So machten wir beispielsweise Sandwiches mit Spezialbroten, Feigensenf und ähnlich teurem Zeug."

Louise Frey sieht ihr Engagement jedoch auch kritisch: "Es wäre eigentlich Aufgabe des Staates, diesen Menschen zu helfen, die durch die Maschen fallen. Und nun wurden mit Corona diese Löcher in den Maschen noch viel grösser." Der Staat rechne mit dieser Freiwilligenarbeit, davon ist sie überzeugt. "Wir sind das Pflaster für staatliche Versäumnisse. Ich befürchte auch, dass es wegen unseres Engagements so aussieht, als sei das Problem gelöst. Ich bin bereit, diese Arbeit zu leisten, ich habe Zeit und bin privilegiert. Aber ich finde, das Leid muss sichtbar werden, es muss zumindest allen klarwerden, dass es besteht und warum."

Manuela Reimann Graf und Emilie Mathys arbeiten für Amnesty International Schweiz.

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