Amnesty Journal 18. September 2023

Von allen Seiten

Eine Illustration der Arme von Reporter*innen, die Mikrofone halten, über den Armen eine Trennlinie mit dem Symbol einer Schere.

Pressefreiheit in Gefahr: Weltweit stehen Journalist*innen unter Druck

Weltweit stehen Medien politisch, ökonomisch und kulturell unter Druck. Online-Netzwerke relativieren die Bedeutung von unabhängigem Journalismus. Zugleich müssen Journalist*innen persönliche Angriffe fürchten.

Von Volkan Agar

Als Aktivist*innen der "Letzten Generation" am 16. Juni 2023 auf der deutschen Nordseeinsel Sylt ein Luxusgeschäft mit Farbe besprühten, wurden Pressevertreter*innen von Anwohner*innen aggressiv angegangen. Das Nachrichtenportal T-Online berichtete, ein Anwohner sei auf einen der Reporter losgegangen und habe ihn verfolgt. Ein weiterer Journalist sei von einer Personengruppe tätlich angegriffen worden. Die Vorfälle erinnern an die gewaltsamen Übergriffe auf Journalist*innen während der Corona-Pandemie.

In der Türkei beschloss das Parlament am 13. Oktober 2022 ein neues "Desinformationsgesetz". Es dient der Kontrolle von Internetmedien und Online-Netzwerken. Das neue Gesetz ahndet "falsche oder irreführende Informationen über die innere und äußere Sicherheit des Landes" und Informationen, die "die ­öffentliche Ordnung stören sowie Angst und Panik in der Bevölkerung verbreiten", mit Haftstrafen von bis zu drei ­Jahren.

"Murder the Media"

In den USA stürmten Anhänger*innen des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump am 6. Januar 2021 das Kapitol in Washington, weil sie die Abwahl ihrer politischen Leitfigur nicht akzeptieren wollten. Trump hatte während seiner Amtszeit immer wieder gegen Medien gehetzt, die kritisch über ihn berichteten, und sie zum Feind erklärt. Seine Unterstützer*innen schmierten an jenem Tag den Slogan "Murder the Media" an eine Wand des Kapitols.

Die Journalistin Elena Milaschina, die für die unabhängige russische Zeitung Nowaja Gaseta arbeitet, wurde am 4. Juli 2023 in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny überfallen und schwer verletzt. Gemeinsam mit dem Menschenrechtsanwalt Alexander Nemow war sie auf dem Weg zu einem Gericht, um einen Prozess zu beobachten, als ihr Taxi von maskierten Männern in drei schwarzen Autos blockiert wurde. Die Angreifer schlugen sie und den Anwalt mit Schlagstöcken, zerstörten ihre Ausrüstung und brachen Milaschina mehrere Finger.

Wir haben es zunehmend mit Bedrohungen der Pressefreiheit auch in Demokratien zu tun.

Christian
Mihr
Reporter ohne Grenzen

In der mexikanischen Stadt Tepic wurde am 8. Juli 2023 die Leiche des bekannten Journalisten Luis Martín Sánchez Iñiguez gefunden, die Spuren von Gewalteinwirkungen aufwies. Sánchez arbeitete bei La Jornada, einer der wichtigsten Zeitungen des Landes.

Diese Fälle aus aller Welt zeigen, dass Angriffe auf die Pressefreiheit vielfältig sind und auf verschiedenen Ebenen stattfinden: Sie reichen von staatlicher Zensur und juristischer Verfolgung über Hassrede und tätliche Angriffe bis hin zu Mord. Gleichzeitig nimmt die Bedeutung klassischer Medien ab: Troll-Armeen und Fake News konkurrieren mit Inhalten, die unter Berücksichtigung journalistischer Qualitätsstandards produziert werden. Und Monopolisierungstendenzen großer Tech-Konzerne setzen herkömmliche Medienhäuser ökonomisch enorm unter Druck.

Überwachung und Straflosigkeit

Für die globale Pressefreiheit gebe es derzeit zwei große Herausforderungen, sagt Christian Mihr, Geschäftsführer der Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG): die um sich greifende digitale Überwachung und die Straflosigkeit bei Verbrechen gegen Journalist*innen. Diese Gefährdung treffe auch Medien in nicht-autoritären Staaten: "Wir haben es zunehmend mit Bedrohungen der Pressefreiheit in Demokratien zu tun, wo oft nach einem vergleichbaren Schema die Axt an die Rechtsstaatlichkeit gelegt wird." Folgen von Überwachung seien oft Haft und Folter, die wiederum häufig ungestraft blieben. Gleichzeitig nimmt Desinformation laut Mihr zu. Bei der Erhebung zur aktuellen Lage der Pressefreiheit durch ROG  hätten die befragten Journalist*innen viel häufiger als in den vergangenen Jahren Desinformationskampagnen und Propaganda beklagt. Bedrohlich sei für die Medienfreiheit auch das Phänomen Doxing – die Veröffentlichung privater Informationen über Journalist*innen gegen deren Willen.

Illustration der langgezogenen Nase eines Mannes, die in Scheiben geschnitten ist und aus dem Innern scheinen die Logos der großen Internet-Plattformen hervor.

Journalist*innen werden als Verursacher von Problemen gesehen, nicht als Voraussetzung für ihre Lösung.

Jörg
Reichel
DJU

Spätestens die Amtszeit von Donald Trump hat gezeigt, welch zerstörerische Kraft Desinformation entfalten kann. Journalismus ist dann kein Instrument der Aufklärung mehr, sondern wird zur Waffe im politischen Kampf. "Verbale Attacken fördern zudem ein medienfeindliches Klima in der Gesamtbevölkerung", sagt ROG-Referentin Juliane Matthey über die USA. Der U.S. Press Freedom Tracker dokumentierte für das Jahr 2020, das letzte Amtsjahr Trumps, mit 631 Übergriffen auf Medienschaffende einen Höchststand. Im Jahr 2021 gab es 146 Übergriffe, viele beim Sturm auf das Kapitol, 2022 waren es 41 und im laufenden Jahr sind es bislang 13. Trump sei zwar nicht mehr an der Macht, doch setzten republikanische Politiker*innen wie Floridas Gouverneur Ron DeSantis seine "Tradition" fort, sagt Matthey. "Sie handeln zudem politisch medienfeindlich wie mit dem geplanten Anti-Medien-Gesetz in Florida." Der Gesetzentwurf soll es erleichtern, Journalist*innen bei der Ausübung ihrer Arbeit wegen Verleumdung zu verklagen.

Gefährdete Lokaljournalist*innen

Dass mediale Kampagnen in lebensbedrohliche Gewalt umschlagen können, zeigt der Fall von Elena Milaschina. "Bereits vor zehn Jahren begann eine groß angelegte Diffamierungskampagne gegen die russische Journalistin, unter anderem mit öffentlichen Morddrohungen des tschetschenischen Innenministeriums", sagt Paula Zimmermann, Fachreferentin für Meinungs- und Versammlungsfreiheit von Amnesty International Deutschland. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine stehen Journalist*innen noch stärker unter Druck. Milaschinas Fall sei sehr drastisch, sagt Zimmermann, aber leider kein Einzelfall.

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine stehen Journalist*innen noch stärker unter Druck.

Paula
Zimmermann
Amnesty International

Mexiko ist nach wie vor das Land, in dem die meisten Journalist*innen getötet werden. Im vergangenen Jahr wurden elf Medienschaffende getötet, 28 weitere gelten als vermisst, auch das ist trauriger Weltrekord. "Gefährdet sind vor allem Lokaljournalist*innen, die in ihren Gemeinden zu Korruptionsfällen oder den Verstrickungen von Lokalpolitiker*innen und Behörden mit Drogenbanden und organisierter Kriminalität berichten", sagt Juliane Matthey von ROG. Verhängnisvoll ist nicht zuletzt die politische und ökonomische Machtkonzentration. Zwei Medienunternehmen besitzen fast alle Fernsehsender in dem Land.

Auch in der Türkei sind politische, ökonomische und mediale Macht eng verwoben. Unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat sich die Repression mit jeder Krise weiter verschärft: nach den Gezi-Protesten und den Korruptionsskandalen 2013, nach dem Putschversuch 2016 und nach der aktuellen ökonomischen Krise und der Erdbebenkatastrophe zu Beginn des Jahres. Nach Übernahmen durch regierungsnahe Konzerne gelten mittlerweile 90 Prozent der türkischen Medien als regierungstreu.

"Seit Jahren wird die Gesetzgebung so angepasst, dass die Pressefreiheit bestmöglich eingeschränkt werden kann", sagt der Anwalt Veysel Ok von der Organisation Media and Law Studies Association, die Prozesse gegen Journalist*innen beobachtet und Medienvertreter*innen unterstützt. "Die Regierung hat mittlerweile alle möglichen Maßnahmen ausgeschöpft, um die unabhängige Presse zu zerstören, und hat das in gewisser Weise auch geschafft", stellt der Medienanwalt fest. Dass Erdoğan die Präsidentschaftswahl im Mai knapp gewann, sei ebenfalls ein Beleg dafür: "Weil die Presse nicht frei ist, gibt es hier keine Veränderung. Der größte Teil der Bevölkerung informiert sich über das Fernsehen, und die Sender stehen unter Kontrolle der Regierung." Mit dem "Desinformationsgesetz" habe die Regierung die letzte Lücke für freie Meinungsäußerung geschlossen, den Bereich der Online-Netzwerke. Das zeigte sich etwa bei dem Erdbeben im Februar 2023, als die Regierung Twitter sperrte. Ok blickt nicht sehr zuversichtlich in die Zukunft: "Der einzige Weg zur Verbesserung der Pressefreiheit ist, dass die Türkei sich wieder an die eigene Verfassung hält und zur Rechtsstaatlichkeit zurückkehrt. Doch dafür gibt es im Moment leider keine Anzeichen."

Enthemmte "Querdenker*innen"

Auch in Deutschland sollten politische Verantwortungsträger*innen die Bedrohung der Medien ernster nehmen, fordert Jörg Reichel, Geschäftsführer der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (DJU) in Berlin-Brandenburg, eine Organisation der Gewerkschaft ver.di. "Die Pressefreiheit in Deutschland ist in Gefahr und wird von vielen Seiten angegriffen", sagt der Journalist*innenvertreter. "Aber es gibt kein politisches Signal außer Empörung und Entsetzen."

Er fordert finanzielle Mittel und Programme zum Schutz von Journalist*innen.

Reichel beobachtet die Pressearbeit bei Demonstrationen und dokumentiert Angriffe. Er selbst wurde bei einer Demonstration unter dem Slogan "Querdenken" 2021 in Berlin angegriffen und verletzt. Die Qualität der Übergriffe habe sich verändert, bei den Corona-Protesten habe es "eine völlige Enthemmung" gegeben – auch in bürgerlichen Schichten, betont Reichel.

Zahlen des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit bestätigen seine Beobachtungen. Für das Jahr 2019 zählt die Organisation 14 tätliche Angriffe auf Journalist*innen, für die beiden Pandemiejahre 2020 und 2021 dagegen 69 bzw. 83. Im vergangenen Jahr waren es 56 tätliche Angriffe. "Die gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich zugespitzt", stellt Reichel fest. "Journalist*innen werden oft als Verursacher von Problemen gesehen und nicht als Voraussetzung dafür, dass diese gelöst werden können."

Volkan Agar ist Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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