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Der Tote trägt ein rotes Hemd
Und sie springen über ihre Gräber. Navotas-Friedhof, Manila, Februar 2017.
© Carlo Gabuco
Präsident Rodrigo Duterte hat die Philippinen radikal verändert. Der Drogenkrieg euphorisiert einen Teil der Bevölkerung, der andere richtet sich ein in einem Klima der Angst. Jetzt ermittelt der Internationale Strafgerichtshof wegen des Einsatzes von Todesschwadronen.
Aus Manila Carsten Stormer und Carlo Gabuco (Fotos)
Der Morgen schmeckt nach Kippenrauch. Es war eine lausige Nacht. Inzwischen ist es vier Uhr morgens, die ersten Hähne krähen. Seit zwei Stunden stehe ich hinter dem Absperrband der Polizei, Kaffee in der einen Hand, Zigarette in der anderen, und starre auf den Toten, der dreißig Meter vor mir in einer Seitenstraße unter einem Baum liegt. Leiche Nummer fünf in den vergangenen neun Stunden. Stadtteil Malate, im Herzen der philippinischen Hauptstadt Manila. Ich bin hundemüde, stundenlang bin ich diese Nacht von Tatort zu Tatort gehetzt. Hier passiert nichts mehr, denke ich. Und bleibe dennoch stehen, aus Sorge, etwas zu verpassen. Journalistenkrankheit.
Polizisten und Ermittler der Spurensicherung wuseln um den Leichnam herum, fotografieren Patronenhülsen, die am Boden liegen, malen mit Kreide weiße Kringel auf den Asphalt, messen aus unerfindlichen Gründen den Abstand der Füße des Toten zum Polizeiwagen, der erst nach der Schießerei eingetroffen ist, durchsuchen den Inhalt von Hosen- und Brieftaschen. Blitzlichter durchzucken die Dunkelheit. Ich zoome mit der Kamera heran. Der Tote trägt ein rotes Hemd. Neben der geöffneten rechten Hand liegt ein Revolver. Einer der Polizisten nimmt einen Kugelschreiber aus seiner Brusttasche, schiebt ihn zwischen Abzugsbügel und Abzug, hält die Waffe wie eine Trophäe in den Lichtkegel einer Taschenlampe, lange genug, dass es die Journalisten hinter dem Absperrband sehen können. Dann verschwinden die Waffe in einer Plastiktüte und der Tote in einem Leichenwagen.
Ich lebe seit zehn Jahren in Manila. Seit dem Amtsantritt von Präsident Rodrigo Duterte im Juni 2016 verfolge ich diesen verstörenden Drogenkrieg in meiner Wahlheimat mit wachsender Sorge. Wenn mir jemand vor zwei Jahren gesagt hätte, dass Filipinos dazu fähig sind, Tausende tote Landsleute zu akzeptieren und diese Gewaltorgie auch noch zu bejubeln, ich hätte es nicht für möglich gehalten.
Dabei hat mich nicht einmal überrascht, dass ein Typ wie Duterte mit seiner Vision einer neuen philippinischen Gesellschaft die Wahl gewann. Make the Philippines great again. Ein Mann, der verspricht aufzuräumen, den Sumpf aus Korruption, Armut, Vetternwirtschaft, Rechtlosigkeit, Straffreiheit trockenzulegen. Ein hemdsärmeliger, 1945 geborener Machthaber, der den Papst einen "Hurensohn" nennt, eine vergewaltigte australische Nonne verhöhnt und behauptet, eigenhändig Verbrecher erschossen zu haben. "Tötet sie alle und beendet das Problem", schlug er vor und kündigte an, 100.000 Leichen in die Bucht von Manila werfen zu lassen.
In dem von Korruption, Machtmissbrauch und Verbrechen gebeutelten Inselstaat, in dem die Eliten sich schamlos bereichern und die Armen vom Wirtschaftswachstum so gut wie ausgeschlossen sind, kam dies gut an. Viele Filipinos verehren Duterte. Seine Wahl ist ein Denkzettel der Zornigen und Enttäuschten an die Oligarchie, die seit Jahrzehnten das Volk mit leeren Wahlversprechen belügt, sich schamlos bereichert, Steuergelder in die eigenen Taschen stopft und für alles keinerlei Konsequenzen fürchten muss.
Tatortsicherung. Nach einem Mord in Mandaluyong City, November 2016.
© Carlo Gabuco
Manila Vice
Ein Polizist klopft eine Zigarette aus einer Schachtel, zündet sie mit einem Streichholz an, zieht den Rauch tief in die Lunge und blickt mürrisch in die Kameras. Ein paar klärende Worte: Ein Drogendealer, bewaffnet, zu allem bereit, gestellt von Zivilpolizisten am Ende einer dunklen Gasse, aus der es kein Entkommen gab. Drei Schüsse. Notwehr. Ein Revolver neben einem namenlosen Körper als Beweisstück. Ansonsten: keine Augenzeugen, kein großes Spektakel. Ganz normal. Manila Vice. Alles Weitere morgen im Polizeibericht. Dann klatscht der Polizist in die Hände und ruft den Medienleuten zu, dass die Show nun zu Ende sei. Ab nach Hause. Gute Nacht. Oder besser: Guten Morgen.
Was der Polizist nicht ahnt: Es gibt noch eine andere Version vom Tathergang. "Alles Lüge", raunt ein Anwohner im Nachthemd, nachdem die Polizei verschwunden ist und nur noch eine Blutpfütze daran erinnert, dass hier eben erst ein Mensch gestorben ist. Der Tote sei unbewaffnet gewesen. Es gebe Augenzeugen, drei Jugendliche hätten alles beobachtet und Fotos gemacht. Woher er das weiß?
"Das hat Jay-R erzählt." Ich frage den Anwohner, wo ich Jay-R finden kann. Wir sollten es mal in dem Videospielladen an der nächsten Straßenecke versuchen. Es ist, wie der Mann vermutet hat. Auf einem weißen Plastiksessel hockt ein schmales Kerlchen in Bermudas und Unterhemd, kaum älter als zwölf Jahre, und starrt mit schweren Augen auf den Computerbildschirm.
Inzwischen ist es kurz nach fünf. Vor dem Spielsalon bauen die ersten Händler ihre Stände auf. Manila erwacht zum Leben. Ich frage mich, warum dieser Knirps nachts an Tatorten herumlungert und bis in die Puppen Zombies totschießen darf. Statt ihn ins Bett zu schicken, frage ich ihn, was er gesehen hat. Große, erschrockene Augen schauen mich an. "Nichts! Ehrlich!"
Er wolle keinen Ärger mit der Polizei. Aber er kennt einen der Jungs, die alles beobachtet haben. Er diktiert eine Telefonnummer, dann rennt er aus dem Laden.
Es kostet mich einige Zeit und Überredungskunst, ein Treffen mit den Zeugen zu arrangieren. Ihre Bedingungen: keine Namen, keine Fotos, Treffen an einem öffentlichen Ort ihrer Wahl. Abgemacht. Eine Stunde später treffe ich Christian und Jason, beide noch Teenager, auf der Empore eines kleinen Ladens, auf der Kunden ein schnelles Frühstück einnehmen können, nur ein paar hundert Meter vom Tatort entfernt. Sie tragen Baseballkappen und Sonnenbrille. Zwei Freunde stehen am Eingang Schmiere, falls die Polizei aufkreuzt.
Die beiden Jungs haben Angst, sitzen nervös an einem leeren Tisch vor einem Panoramafenster, von dem aus sie die ganze Straße überblicken können. Zeugen kann die Polizei überhaupt nicht gebrauchen. Immer, wenn sich die Tür öffnet und ein Kunde den Laden betritt, zucken sie zusammen. Christian schaut dann fragend zu seinen beiden Kumpels hinunter. Nicken. Daumen hoch. Alles in Ordnung. Ich spendiere Kaffee und Donuts. Nach ein paar Schlucken Moccachino beginnen die beiden zu erzählen.
Beweisaufnahme. Ermittler in Navotas City, Oktober 2016.
© Carlo Gabuco
Zu viel für eine Nacht
Christian und Jason spielten in der Nacht an den Computern des Videospielladens. Gegen 2:35 Uhr fuhr ein Motorrad in die Gasse hinter dem Laden. Kurz darauf hörten sie Schreie. "Wir haben rausgeschaut und gesehen, wie ein Mann, der einen Helm trug, einen anderen Mann gegen einen Baum drückte und immer wieder auf ihn einschlug", erzählt Jason. Während er spricht, knetet er mit der rechten Hand die Finger der linken und wippt mit dem Oberkörper wie ein Metronom. "Yeah Mann, dann fielen drei Schüsse und wir sahen den Motorradfahrer wegfahren", erzählt Christian. Aber es sei noch ein weiterer Mann dagewesen. Denn gleich nachdem der erste Schütze verschwunden war, fielen vier weitere Schüsse. Kurz darauf erschienen Polizisten und sperrten die Seitenstraße ab.
"Wir sind dann auf einen Wassertank hinter dem Haus geklettert, um zu sehen, was los ist. Von dort hat man eine gute Sicht auf die Gasse", erzählen die Teenager. "Wir haben Fotos gemacht", sagt Christian und zieht sein iPhone aus der Tasche. "Hier schau: Das ist der Tote. Siehst Du eine Waffe? Nein! Der ist unbewaffnet."
Als die Polizisten die Jungs auf dem Wassertank entdecken, befehlen sie ihnen zu verschwinden. Erst später erfahren Christian und Jason, dass es offiziell heißt, der Mann sei bewaffnet gewesen und hätte auf die Polizisten geschossen. "Nein, Mann. Das stimmt nicht. Warum behauptet die Polizei so etwas?" Christian würde jetzt gern gehen, die Müdigkeit, der Mord, die Lügen der Polizei, alles ein bisschen zu viel für eine Nacht. Eine letzte Frage: Warum erzählt ihr das alles? "Wir sind gegen Drogen. Aber wir sind auch dagegen, dass Unschuldige ermordet werden. Wir fühlen uns nicht mehr sicher", sagt Jason. Dann verabschieden sie sich.
Seit Juni 2016 ist Duterte Präsident. Seitdem hat sich die philippinische Gesellschaft radikal verändert. Entweder man ist für den Präsidenten oder gegen ihn. Ein Riss geht durch die Bevölkerung, zertrennt Freundschaften, spaltet Familien, macht Freunde zu Feinden und Fremde zu erbitterten Gegnern. Wie viele Menschen tatsächlich in diesem Drogenkrieg getötet wurden, ist schwer zu ermitteln. Die Polizeistatistik nennt 4.000 in Polizeioperationen getötete Drogendealer, dazu über 2.000 Drogenmorde durch Auftragskiller – und über 7.000 ungeklärte Mordfälle. Also bis zu 13.000 Tote innerhalb eines Jahres. 13.000! Und täglich werden es mehr.
Es ist nicht nur der Drogenkrieg, der die Gemüter erhitzt. Die Mehrheit des Repräsentantenhauses stimmte 2017 für die Wiedereinführung der Todesstrafe. Kinder ab neun Jahren gelten als strafmündig. Politische Gegner werden eingeschüchtert oder gleich festgenommen und eingesperrt. Eine von der Regierung bezahlte Troll-Armee unterdrückt im Internet jede Kritik mit einer Flut von Hassmails und Drohungen bis hin zu Vergewaltigungs- und Mordaufrufen. Die Regierung droht Zeitungen und Fernsehsendern, die kritisch über den Präsidenten berichten, die Lizenzen nicht zu erneuern. Der Präsident ruft im Mai das Kriegsrecht im Süden des Landes aus, nachdem ein lokaler IS-Ableger die Stadt Marawi angriff. Zwei Monate und Hunderte Tote später kontrollieren die Terroristen noch immer einige Stadtteile.
Vielen Bürgern macht diese Entwicklung Angst. Der Kampf gegen die Drogen ist martialisch, sichtbar, massenwirksam. Duterte ist eine weitere schillernde Gestalt im weltpolitischen Männerclub mit Schmuddelimage: Donald Trump, Recep Tayyip Erdoğan, Wladimir Putin, Kim Jong-un. Der Drogenkrieg liefert die passenden Bilder und Geschichten; schauerlich und faszinierend zugleich. Redaktionen aus aller Welt schicken ihre Reporter. Ihre Frage ist nicht, ob es Tote geben wird, sondern wie viele. Ein solches Interesse bekommen die Philippinen ansonsten nur, wenn Taifune oder Tsunamis das Land verwüsten.
Selbstjustiz und Polizeiwillkür
In diesem Krieg sterben vor allem die Armen. Monatelang klappere ich in schwülen Tropennächten die Tatorte in den Slums ab: Tondo, Payatas, Novotas oder Quezon City. Ich sehe Hunderte Leichen, von Kugeln durchsiebt, in Packpapier oder Zellophan eingewickelt, auf Müllkippen geworfen, in Parks deponiert, in Flüssen treibend, manche Tote tragen auf Pappschilder gekritzelte Botschaften um den Hals. In geheimen Wohnungen treffe ich Auftragsmörder, die für korrupte Polizisten und Drogenbosse die Drecksarbeit erledigen. Ich spreche mit eingeschüchterten Drogendealern, die sich aus Angst, ermordet zu werden, nicht aus ihren Verstecken heraustrauen. Ich begleite Polizeirazzien und erlebe, wie Drogenfahnder alleinerziehende, dealende Mütter von ihren Kindern trennen oder Jugendlichen wegen ein paar Gramm Chrystal Meth lebenslang Gefängnis droht.
Ich bin Zeuge, wie ein Zivilpolizist einem Verdächtigen Drogen unterjubeln will und wie ein junger Polizeirekrut bei einer Razzia von einem Dealer erschossen wird. Ich treffe Zeugen in Schutzprogrammen und begleite Angehörige von Opfern auf Trauerfeiern und Beerdigungen. Darunter ein fünfjähriges Mädchen, das in die Schusslinie von Todesschwadronen geriet. Die Angst ist so groß, dass die Bewohner mancher Viertel nachts auf der Straße schlafen, um nicht versehentlich bei Polizeirazzien als Kollateralschaden zu enden. Mütter, deren Söhne von der Polizei verdächtigt werden, Drogen zu nehmen, lassen ihre Sorgenkinder nicht mehr aus dem Haus, damit sie nicht mit einem Kopfschuss in der Gosse landen.
Im Ausland kommt das Morden nicht gut an. Menschenrechtsgruppen kritisieren Selbstjustiz und Polizeiwillkür. Europäische Politiker verlangen die Einhaltung demokratischer Normen und diskutieren lautstark, ob sich der 7.000-Inseln-Staat mit über 100 Millionen Einwohnern unter Duterte von einer Demokratie in eine Autokratie verwandelt hat. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag leitete im Februar wegen mutmaßlicher staatlicher Todesschwadronen vorläufige Ermittlungen gegen Duterte und dessen Regierung ein. Im März dann der Gegenschlag: Ein Sprecher Dutertes kündigte den Rückzug des Landes aus dem Strafgerichtshof an, weil es als "politisches Werkzeuge gegen die Philippinen" missbraucht werde.
Schuld haben, wenn es nach Duterte und seinen Anhängern geht: die Medien. Sie würden Kampagnen betreiben, um das Land im Auftrag fremder Mächte zu destabilisieren, heißt es. Und so tobt in den Philippinen auch ein Informationskrieg in den sozialen Medien. Diesen hat das Duterte-Lager längst gewonnen. Allein bei Facebook sind 47 Millionen Filipinos registriert. Unzählige Pro-Duterte-Gruppen und -Blogger, tausendfach gefälschte Profile und Bots verbreiten Falschbehauptungen, Propaganda und Diffamierungen. Journalisten traditioneller Medien sehen staunend dabei zu, wie Fakten und der gesunde Menschenverstand im Getöse des Netzes untergehen. Kollegen erhalten im Internet Morddrohungen, Kolleginnen wird gewünscht, dass sie von Drogenabhängigen vergewaltigt werden. Schon die kleinste Kritik genügt, um sich in einen sozialen Shitstorm zu manövrieren.
Auch mich trifft die Wut der Zornigen. Im Januar dieses Jahres drehe ich für die New York Times einen Film über den Drogenkrieg. Ich bitte die Redaktion, meinen Namen entweder gar nicht zu erwähnen oder nur im Nachspann. Der Film sorgt für Wirbel, und ein wutschnaubender Präsident wirft der Zeitung vor, einen Coup zu planen, um die Regierung zu stürzen. Die Journalisten seien von der Opposition bezahlte Agenten. Obwohl mein Name nur ganz kurz auftaucht, geistern bald Aufrufe durchs Netz, mir eine Lektion zu erteilen. Ich will mich nicht einschüchtern lassen, doch das Kalkül der Trolle geht auf. Wenn ich mit meinem Motorrad durch Manila fahre, schaue ich nun öfter in den Rückspiegel, ob mich jemand verfolgt. Mopedfahrer, die an roten Ampeln neben mir halten, beobachte ich misstrauisch. Bevor ich mein Haus verlasse, sondiere ich die Gegend nach Verdächtigem. Nach einer Auslandsreise kontrolliere ich zuerst mein Gepäck, ob jemand darin Drogen deponiert hat.
Weggesperrt. Gefangene in der Manila Police Station 9 im Stadtteil Malate, Februar 2017.
© Carlo Gabuco
Widerstand formiert sich
Noch immer bekommt Duterte in Umfragen Zustimmungswerte von über achtzig Prozent. Doch der Erlösernimbus beginnt zu schwinden. Im Schatten des Jubels formiert sich Widerstand. Studenten boykottieren aus Protest gegen die Todesstrafe den Unterricht an Universitäten. Bürgerrechtsgruppen organisieren Demonstrationen gegen den Drogenkrieg und außergerichtliche Hinrichtungen. Einstige Widerstandskämpfer gegen die Diktatur von Ferdinand Marcos warnen vor einem Rückfall in die Tyrannei. Ehemalige Mitglieder von Todesschwadronen beschuldigen den Präsidenten öffentlich, Morde persönlich in Auftrag gegeben zu haben. Von Gewissensbissen geplagte Polizisten quittieren den Dienst, weil sie den Befehl verweigern, Verdächtige zu erschießen.
In der Nacht des 16. August des vergangenen Jahres griffen drei Polizisten den 17-jährigen Schüler Kian de los Santos vor dessen Elternhaus auf, führten ihn in eine dunkle Seitengasse, zwangen ihn, sich auf den Boden zu legen und schossen ihm dann von hinten in den Kopf. Der Junge, so schrieben sie später im Polizeibericht, sei ein Drogendealer gewesen. Er habe auf sie geschossen. Deshalb: Notwehr.
Was die Polizisten nicht wussten: Eine Überwachungskamera zeichnete alles auf. Deren Bilder erzählen eine andere Geschichte. Auf ihnen ist zu sehen, wie ein verängstigter Junge von Polizisten abgeführt wird. Augenzeugen erzählen, dass der Junge die Polizisten angefleht habe, ihn gehen zu lassen, da er am nächsten Tag eine Prüfung schreiben müsse. Kian de los Santos war ein guter Schüler, der Polizist werden wollte. Er war einer von neunzig Toten, die innerhalb von drei Tagen von Polizeibeamten erschossen wurden.
Einen Tag nach dem Mord an Kian de los Santos verschwanden der 19-jährige Student Carl Arnaiz und sein 14-jähriger Kumpel Reynaldo de Guzman. Arnaiz’ toter Körper tauchte zehn Tage später mit fünf Schusswunden in einer Leichenhalle in Caloocan auf, einer 1,5 Millionen-Einwohner-Metropole im Großraum Manila. Kurz darauf fanden Anwohner den 14-jährigen Reynaldo. Seine Leiche trieb mit durchtrennter Kehle in einem Bach.
Seitdem schaukelt sich die Stimmung im Land hoch. Der 21. September ist ein historischer Tag in den Philippinen. 45 Jahre nachdem Diktator Marcos das Kriegsrecht ausgerufen und die Diktatur eingeläutet hatte, gingen landesweit Tausende Menschen auf die Straße, um gegen die Politik von Präsident Duterte zu demonstrieren. "Nie wieder Diktatur", riefen sie und forderten ein Ende von Drogenkrieg und Kriegsrecht im Süden des Landes.
"Gerechtigkeit für Kian", stand auf unzähligen Pappschildern, die an den Mord an dem Schüler erinnerten. Und am Ende des Protestzuges verbrannten wütende Demonstranten einen riesigen Holzwürfel, bemalt mit den Gesichtern von Duterte, Marcos und Adolf Hitler. Fünf Tage später wurde der Schüler Jayross Brondial vor seinem Haus in Manila erschossen. Er war 13 Jahre alt.