Amnesty Journal Niger 13. März 2024

Neue Konvois ab Agadez

Ein Allradwagen, behangen mit Gepäck, auf dem Dachgepäckträger sitzen sehr viele Menschen, die teilweise Mützen oder Masken und Sonnebrillen tragen.

Bis zum Putsch im Sommer 2023 kooperierte Niger eng mit der EU, um Migration nach Europa einzuschränken. Das hat sich geändert: Nun ist die Wüste wieder offen.

Von Christian Jakob

"Rettung in der Wüste" schrieb der Informationsdienst Alarm-Phone Sahara am 
5. Januar 2024: Ein Suchtrupp fand im Zentrum des Sahelstaats Niger 36 Migrant*innen aus Nigeria. Ihr Fahrzeug sei auf dem Weg nach ­Libyen mitten in der Wüste liegen geblieben, berichtete das von zivilgesellschaftlichen Organisationen betriebene Alarm-Phone. Die Geretteten bekamen demnach Wasser, Kekse und Benzin, um weiterreisen zu können.

1.788 tote Migrant*innen zählte die UN-Migrationsagentur IOM im Jahr 2023 auf der Transsahara-Route, die von West- nach Nordafrika führt. Diese Zählung ist verdienstvoll und doch nicht mehr als eine grobe Schätzung – zu riesig sind die Wüstengebiete Nigers, Algeriens, Malis, Burkina Fasos und Mauretaniens. 2019 sagte der Sondergesandte des UNHCR für das Mittelmeer und Libyen, Vincent Cochetel: "Wir gehen davon aus, dass ­vermutlich mindestens doppelt so viele Menschen auf dem Weg zum Mittelmeer sterben als im Mittelmeer selbst."

Gesetz gegen irreguläre Migration

Seit Herbst 2023 ist auf der Trans­sahara-Route wieder mehr Betrieb. Einen "starken Anstieg" beobachtete das Alarm-Phone. Und das bedeute, "dass sich die Menschen freier bewegen können, sich nicht mehr verstecken müssen und somit hoffentlich mehr Leben gerettet werden können." Denn die Militärregierung Nigers, die im Juli 2023 durch einen Putsch an die Macht kam, hob Ende November 2023 ein wichtiges Gesetz gegen die irreguläre Migration in Richtung Europa auf. Übergangspräsident General Abdourahmane Tchiani begründete das mit den Sanktionen der EU gegen sein Land. 

Laut dem Gesetz aus dem Jahr 2015 war es strafbar, Menschen, die weder die nigrische noch die libysche Staatsbürgerschaft besaßen, von der Stadt Agadez aus in Richtung Norden zu transportieren. Von dort starteten früher Konvois mit Hunderten Pick-Ups voller Migrant*innen aus anderen afrikanischen Ländern in Richtung Südlibyen. Auf dem mehrtägigen Weg durch die Zentralsahara wurden sie oft vom nigrischen Militär eskortiert. Es handelte sich dabei nicht um Schlepperei, denn in Niger hielten sich die Menschen legal auf. Gleichwohl wurde das Transportgeschäft ab 2015 verboten – ­offiziell, um zu verhindern, dass die Menschen in Libyen gefangen genommen werden oder im Mittelmeer ertrinken.

Niger galt mit diesem harten Kurs gegen Transitmigration lange als "Musterschüler" der EU im Sahel. Weil das Land im Zentrum der Transsahara-Route liegt, hatte die EU versucht, Niger bei der Migrationsabwehr auf seine Seite zu ziehen – und dafür ihre Hilfszahlungen um weit mehr als eine Milliarde Euro aufgestockt. Eine der wichtigsten Gegenleistungen der Regierung in Niamey bestand darin, das 2015 beschlossene Gesetz ab Herbst 2016 umzusetzen. Hunderte Fahrer*innen wurden festgenommen, ihre Pick-Ups beschlagnahmt. Wer danach nach Libyen wollte, musste erheblich mehr Geld bezahlen und deutlich längere und gefährlichere Wege durch die Wüste in Kauf nehmen.

Ein Putsch und die Folgen

Doch seit dem Putsch im Juli 2023 hat sich das Verhältnis zwischen der EU und der Regierung in Niamey verschlechtert. Die EU fror ihre Budgethilfen ein, was zur Folge hatte, dass viele nigrische Staatsbeamte keine Gehälter mehr bekommen. Nach dem Putsch endeten EU-Kooperationsprojekte, die Militärkooperation und in weiten Teilen des Landes die Arbeit von Hilfsorganisationen. Eingeschränkt wurde auch die Arbeit der EU-Unterstützungsmission Eucap, die Sicherheitskräfte ausbildete. Dazu zählte auch die seit 2019 aktive Compagnie Mobile de Contrôle des Frontières (CMCF). Sie bestand zuletzt aus 245 Männern und sieben Frauen. Deutschland und die Niederlande hatten dafür einen zweistelligen Millionenbetrag gegeben. Ihr Hauptquartier lag in der Kleinstadt Birni-N’Konni im Südwesten des Niger, direkt an der Grenze zu Nigeria.

Niger, eines der ärmsten Länder der Welt, verfügt über eine Nationalpolizei, eine Gendarmerie, eine Nationalgarde und eine Armee. Alle sind auch im Grenzschutz aktiv und beteiligten sich ab 2016 am Kampf gegen Schlepperei. Trotzdem baute die EU mit der CMCF noch eine weitere Grenzschutztruppe auf, um die Route aus Nigeria zu unterbrechen.

Doch seit Ende Juli 2023 sind "alle operationellen Aktivitäten der Mission bis auf Weiteres suspendiert", sagte ein deutscher Eucap-Sprecher dem Spiegel. 

Die nigrische Regierung ging mit scharfer antikolonialer Rhetorik auf Distanz zur EU und machte den Weg durch die Wüste wieder frei. Das Gesetz von 2015 sei "unter dem Einfluss einiger ausländischer Mächte" entstanden, kritisierten die Militärs. "Die Wüste ist offen" schrieb Mitte Januar 2024 ein Reporter der Nachrichtenagentur AFP aus Agadez. In der Stadt sei das Geschäft mit der Wüstenroute wieder in vollem Gange, berichtete er. "Dicht gedrängt" säßen die Menschen wieder auf den Ladeflächen der Pick-Ups. Diese müssten nun nicht mehr im Verborgenen fahren. Für einen Sitzplatz würden reguläre Tickets verkauft, und die registrierten Fahrer schlössen sich einem wöchentlichen Militärkonvoi an.

Von Agadez nach Libyen: Rund 450 Euro

"Die Leute haben die Aufhebung bejubelt", sagte der Fahrer Aboubacar Halilou dem AFP-Reporter. "Die Schlepper, die im Gefängnis saßen, sind bereits freigelassen worden und nehmen ihre Arbeit wieder auf, denn es ist ein sehr lukratives Geschäft." Rund 450 Euro kostet die Passage von Agadez nach Libyen – etwas mehr als bis 2016, aber nicht einmal die Hälfte dessen, was verlangt wurde, während das Geschäft verboten war.

Unklar ist dabei, welche Rolle die bewaffneten dschihadistischen Gruppen spielen, die in der Region aktiv sind. Sie sind auf vielfältige Weise mit dem Migrationsgeschehen im Sahel verflochten. Auf der "Global Terrorism Heat Map" der Universität Maryland sind in der Region viele tiefrote Punkte eingetragen – in kaum einem Gebiet weltweit gibt es mehr Anschläge. Und die Zahl der Attacken steigt seit 2010. Der Terror vertreibt Menschen, die sonst geblieben wären, etwa aus Burkina Faso, Mali oder Nordnigeria. Gleichzeitig sind die Banden zum Teil ins Schleppergeschäft eingestiegen – eine Einnahmequelle, die durch die Legalisierung nun zumindest teilweise entfallen könnte. Und sie rekrutieren aus Algerien und Libyen nach Niger und Mali abgeschobene Migrant*innen, die auf dem Weg nach Europa gestoppt worden waren.

Vor dem Putsch hingen Terrorbekämpfung und Migrationskontrolle eng zusammen, weil erstere ohne westliche Hilfe nicht zu haben war und der Westen darauf drängte, beides zu verbinden. So entstand auch die Militärtruppe G5 Sahel Joint Force, in der fünf Sahelstaaten Militäreinheiten zusammenlegten, um Dschihadisten und Schlepper zu bekämpfen. Die EU zahlte, schickte Waffen und Ausbilder*innen. Doch im Dezember 2023 traten die Juntas in Burkina Faso und Niger – wie zuvor schon jene in Mali – aus der Regionalorganisation G5 Sahel aus, zu der auch die Militärtruppe G5 Sahel Joint Force gehört. Die drei Staaten, die alle von bewaffneten islamistischen Gruppen heimgesucht werden, hatten zuvor die Gründung einer eigenen Militärallianz verkündet, während fast gleichzeitig der russische Vize-Verteidigungsminister Junus-bek Jewkurow auf Staatsbesuch war. Die neue Militärallianz dürfte sich den Migrant*innen kaum mehr so in den Weg stellen, wie die EU dies gern hätte.

"Niger war eine Art Ventil für die Migrationsströme, also musste das Ventil wieder geöffnet werden", sagte Abdourahamane Touaroua, der Bürgermeister von Agadez, der AFP. Die Abfahrten aus seiner Stadt hätten sich seit der Aufhebung des Gesetzes "verdreifacht". Und bald könnten sie das frühere Niveau erreichen. 2016 waren es Hunderttausende, die auf dem Weg nach Libyen durch Agadez zogen.

Christian Jakob ist taz-Redakteur und Journalist mit dem Arbeitsschwerpunkt Flucht und Migration. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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