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Vergessen am Turkanasee
Schwindende Weiten. Fischer in Selicho am Turkansee.
© Anne Ackermann
Im Norden Kenias droht eine Lebensader zu versiegen – der Turkanasee. Das ist nicht nur für das Fischervolk der El Molo fatal.
Von Kirsten Milhahn (Text) und Anne Ackermann (Fotos)
Gott lebt im See. Und der Ort, an dem er zuhört, liegt an dessen flachem östlichen Ufer. Dort befindet sich der heiligste Ort des Fischervolks El Molo – der zahlenmäßig wohl kleinsten Bevölkerungsgruppe Kenias. Eigentlich führe er nie Fremde dorthin, sagt Raphael Leiyapir, faltet die für seine schmale Statur viel zu kräftigen Hände vor der Brust und schüttelt den Kopf. "Zu gefährlich. Wer Wakh verärgert, der riskiert sein Leben." Der alte Mann ist Christ, wie die meisten Menschen hier im äußersten Norden Kenias. Er ist zudem so eine Art Dorfpfarrer. Doch Wakh, die heidnische Konkurrenz, bringt den El Molo Regen, heilt Krankheiten, sorgt für Frieden zwischen den Nachbarstämmen und reiche Fischbestände.
Es kostet einiges an Überredungskunst, bis sich Leiyapir zu einer Ausnahme hinreißen lässt. "Aber fasst bloß nichts an", sagt der Mann aus dem Dorf Moite. Über einen staubigen Pfad geht es von der Ebene, auf der die Siedlung liegt, hinunter zu einem grün schimmernden See. Windböen jagen Staubteufel vor sich her. Ein paar Hirten in ihren kunstvoll um den Leib drapierten bunten Umhängen, den Shukas, treiben Ziegen und Schafe von den Hängen zur Tränke ans Wasser. Es herrscht Stille, durchbrochen nur vom Knirschen der Salzkruste, die unter Leiyapirs Schritten bricht. Das Seewasser hat sie im Sand hinterlassen.
Eine halbe Million Menschen, die acht ethnischen Gruppen angehören, leben heute an den Ufern des Turkanasees. Die El Molo sind eine von ihnen. Die Region wurde 1997 von der Unesco zum Weltnaturerbe erklärt. Flora und Fauna sind einzigartig. An dem See leben Krokodile, Nilpferde und Flamingos, wegen Skelettfunden gilt die Region als "Wiege der Menschheit". Doch das Idyll ist in Gefahr: Riesige Bewässerungspläne und gewaltige Staudammprojekte drohen die Lebensader der Region allmählich versiegen zu lassen – und damit die Landschaft und das Leben der Menschen für immer zu verändern. So sieht das auch die Unesco – und setzte die Region um den See im Juni auf die Liste des gefährdeten Welterbes.
Wie viele Binnengewässer Ostafrikas ist auch der Turkanasee salzhaltig. Mit fast 260 Kilometern Länge und bis zu 50 Kilometern Breite ist er gut zehn Mal so groß wie der Bodensee und der gewaltigste Wüstensee der Erde. Er liegt am Rande des Großen Ostafrikanischen Grabenbruchs – zum Großteil in Kenia, der nördlichste Zipfel ragt nach Äthiopien hinein. Sein Frischwasser bezieht er zu 90 Prozent aus dem Fluss Omo, einem der wichtigsten Fließgewässer Äthiopiens. Sein Unterlauf mündet in einem riesigen Delta in den See.
Noch herrscht dort Wakh. Inmitten des vertrockneten Landstrichs eröffnet sich unvermittelt der Blick auf eine üppig-grüne Palmenoase. "Nasai", flüstert Leiyapir ehrfürchtig. In seiner Sprache bedeutet das so viel wie "der Platz, an dem Gott lauscht". Wakh höchstpersönlich sorge dafür, dass Nasai nie austrockne, auch in der allergrößten Hitze nicht. Das wisse jeder in der Gegend; und auch dass man sein Leben riskiere, wenn man die Palmen streife. "Zuletzt hat es ein Dutzend Fischer von der anderen Seite des Sees erwischt", erzählt Leiyapir. Turkana, die nachts mit ihren Booten an Wakhs heiligem Ort anlandeten und aus den Palmblättern von Nasai Tragekörbe für die gefangenen Fische flochten. Wakh habe sie dafür kurzerhand nachts mit ihren eigenen Booten erschlagen.
"Denn Wakh ist zornig", sagt Raphael Leiyapir, "schon seit einer ganzen Weile." Dann dreht er sich um und geht die rund 200 Meter über das vom Salz gebleichte Ufer hinunter zum See. "Vor drei Jahren spülten um diese Zeit hier noch die Wellen", murmelt er im Gehen. "Doch in den vergangenen Jahren hat sich das Wasser immer weiter zurückgezogen."
Der Grund: Im Norden mündet der Omo, aus Südäthiopien kommend, in den Turkanasee. Doch seit Jahren führt er immer weniger Wasser. Denn das Nachbarland versucht, seinen steigenden Energiebedarf mit Wasserkraftwerken zu decken. Am Oberlauf des Flusses sind zwei Staustufen – Gibe I und Gibe II – bereits in Betrieb. 2015 wurde 600 Kilometer stromaufwärts mit Gibe III die mit 243 Metern höchste Staumauer Afrikas fertiggestellt. Kritiker sprechen vom "umstrittensten Damm der Welt". Der Bau des umgerechnet 1,5 Milliarden teuren Bauwerks dauerte neun Jahre. Finanziert wurde er zu 60 Prozent von der chinesischen Exim-Bank. In der Nähe des Omo-Mündungsdeltas plant Äthiopien bereits zwei weitere Staudämme: Gibe IV und V.
Die Regierung in Addis Abeba schlägt bislang alle Warnungen in den Wind. Denn Äthiopien verdient kräftig an Gibe III. Das Wasserkraftwerk hat die äthiopische Stromproduktion fast verdoppelt, es hat eine Leistung von annähernd 2.000 Megawatt. Nur die Hälfte verbraucht das Land selbst, der Rest soll verkauft werden: an den Sudan, an Dschibuti, auch an Kenia.
Noch gravierendere Auswirkungen auf Fluss und See haben die Bewässerungsvorhaben, die Äthiopien derzeit großflächig im Omo-Tal umsetzt. In gigantischen Planquadraten wächst dort auf 150.000 Hektar Zuckerrohr. Zieht die Regierung ihre ehrgeizigen Pläne durch, soll die Anbaufläche sich fast verdreifachen. Für den Export sollen in großem Stil Baumwolle, Palmöl und Mais für Biotreibstoffe angebaut werden. Dabei zählt das unter Hungersnöten leidende Land zu den trockensten Regionen der Erde. Zuckerrohr und Baumwolle gehören jedoch zu jenen Kulturpflanzen, die das meiste Wasser brauchen. Ein Drittel des Omo-Wassers soll bis 2024 allein für die staatliche Landwirtschaft aus den Staubecken der Wasserkraftwerke abgepumpt werden.
Für den Turkanasee hätte das fatale Folgen. Laut einer Studie der Universität Oxford würde der Seepegel im besten Fall um 13 Meter sinken, das Wasservolumen des Sees auf 59 Prozent seines heutigen Stands fallen. Bei ineffizienter Wassernutzung würde der Pegel sogar um 22 Meter fallen – die Effekte von Verdunstung und Klimawandel nicht eingerechnet. Bedenkt man, dass der See im Durchschnitt gerade einmal 30 Meter tief ist, käme das laut Experten einer ökologischen und sozialen Katastrophe gleich. Wenn das Gewässer austrocknet, drohen Wassermangel und Ernteausfälle, Viehsterben, versalzte Böden, Hunger und Landflucht.
"Kenias Regierung kümmert das bislang wenig. Für sie zählt die Gegend um den See zum Hinterland", sagt Billy Kapua, Experte für Entwicklungsarbeit und Ressourcenmanagement der Hirtenvölker vor Ort. Er leitet die lokale Menschenrechtsorganisation Ilemi Indigenous Pastoralist Development Organization in Lodwar, einer Stadt westlich des Turkanasees. "Während sich der Rest des Staates rasant entwickelt, bleibt der Norden Nomadenland ohne Infrastruktur", klagt Kapua. Die Regierung interessiere sich allerhöchstens für angebliche Ölvorkommen am See und die kürzlich in Betrieb genommenen 365 Windkraftanlagen im Südosten des Gewässers.
Dabei mehrten sich die gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Region. "Schon heute stehen die ethnischen Gruppen in der Region vor riesigen Existenzproblemen. Viele leben von der Fischerei, doch die einst reichen Bestände gehen seit Jahren dramatisch zurück", sagt Kapua. Immer wieder gebe es blutige Konflikte: "Zwischen den Fischern um Fischgründe. Aber auch zwischen den Hirten, die sich um die schwindenden Weideflächen am Seeufer streiten, die einzigen Futterquellen für das Vieh. Sie trocknen zusehends aus." Längst seien Alkoholismus, Prostitution und damit Aids im Hinterland angekommen, weil den Menschen Jobs und Lebensperspektiven fehlten. "Schrumpft der See, häufen sich die Stammesfehden", prognostiziert Kapua. "Das wäre nicht nur das Ende der Traditionen, sondern schlimmstenfalls das der Menschen am Turkanasee".
Raphael Leiyapir will davon nichts wissen. Er glaubt nicht an das Ende seines Stammes, schon gar nicht an das des Sees. Der El Molo schickt sich an jenem Sonntagmorgen an, die heilige Messe in der Dorfkirche von Moite vorzubereiten. Sonnenstrahlen fallen durch das bunte Fensterglas in das Kircheninnere. Es hat das gleiche lichte Blau wie der See. Er werde über Gott sprechen und über Wakh, sagt der Pfarrer. "Wakh wird nicht zulassen, dass wir mit dem Ende der Welt leben müssen", betont Leiyapir. Dann herrscht plötzlich Stille in der Kirche. Nicht einmal der Wind ist noch zu hören. Die Lippen des El Molo sind ganz schmal geworden, seine Augen glasklar. "Äthiopien mag ein mächtiges Land sein, aber Wakh ist allmächtig", sagt er. "Gegen den Gott des Sees wird es nichts ausrichten können." Seine Worte klingen fast wie eine Drohung.