Amnesty Journal Israel und besetztes palästinensisches Gebiet 13. Juni 2025

Westjordanland: Gegen die Verdrängung

Ein Mann steht in der Natur, im Hintergrund besiedelte Häuser.

Er möchte Palästinenser*innen das Gefühl von Sicherheit zurückgeben. Issa Amro in Hebron, Dezember 2022.

Israelische Siedler*innen und die Armee verüben im Westjordanland Gewalttaten. In Hebron setzt sich Issa Amro gewaltlos für die Rechte der palästinensischen Bevölkerung ein. 2024 wurde er mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet.

Von Hannah El-Hitami

Manchmal gehört auch das Versteckspiel zu Issa Amros Job. Im Fastenmonat Ramadan wollte er ein Abendessen für seine Nachbarschaft organisieren, ein Geschichtenerzähler sollte die Kinder unterhalten. Leichter gesagt als getan. Denn Amro wohnt in Hebron im Westjordanland. Seit dort 1997 völkerrechtswidrig israelische Siedlungen entstanden, stuft das israelische Militär das Stadtzentrum als militärisches Sperrgebiet ein. Palästinenser*innen dürfen nur hinein, wenn sie dort wohnen. 

Doch wenn es darauf ankommt, findet Amro einen Weg, und so gelangte auch der Geschichtenerzähler nach Hebron. "Es ist gefährlich, aber wir haben keine andere Wahl", erzählte Amro eine Woche später im Videogespräch. Gemeinschaft zu schaffen, sei eine seiner wichtigsten Missionen. Die Nachbarschaft zusammenbringen, den Kindern eine Freude machen, all das ist für ihn eine Form von Widerstand. 

Gegen Gewalt und Korruption

Issa Amro ist in Hebron aufgewachsen. Seit 20 Jahren setzt er sich mit seiner Organisation Youth Against Settlements (YAS) gegen die Gewalt israelischer Siedler*innen und Soldat*innen ein, ebenso wie gegen die korrupte Politik der Palästinensischen Autonomiebehörde. Seit dem 7. Oktober 2023 ist seine Arbeit noch gefährlicher geworden. Während der Krieg in Gaza andauert, ist der Alltag der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland geprägt von willkürlichen Festnahmen und Gewalt. Dem setzt Amro seinen gewaltlosen Widerstand entgegen. Er ist mehr denn je davon überzeugt, dass eine Zukunft für Israelis und Palästinenser*innen nicht auf Gewalt und Straflosigkeit errichtet werden kann.

Zu Amros Arbeit gehört auch, internationalen Besucher*innen Touren durch Hebron anzubieten. 2023 ging ein Video von Lawrence Wright viral, das der Journalist des US-Magazins The New Yorker aufgenommen hatte, als er mit Amro in Hebron unterwegs war. Es zeigt, wie die beiden von israelischen Soldaten angehalten wurden, weil Amro mit seinem Smartphone filmte. Ein Soldat forderte Amro auf, die Aufnahmen zu löschen, doch der beharrte auf seinem Recht. Daraufhin packte der Soldat Amro am Kragen, warf ihn zu Boden und trat auf ihn ein. Es war nicht das erste Mal, dass Amro angegriffen wurde. Doch es war das erste Mal, dass ein renommierter Journalist die Szene filmte. Lawrence Wright bezeugte später: Amro habe sich ruhig verhalten und nichts getan, was den Angriff des Soldaten gerechtfertigt hätte.

Aufnahmen wie diese sind für die Arbeit von YAS wichtig. Regelmäßig dokumentieren Amro und sein Team Angriffe von Siedler*innen und der Armee und stellen Dateien und Dossiers den Vereinten Nationen oder dem Internationalen Strafgerichtshof zur Verfügung. Amro arbeitet derzeit auch an einem Projekt gegen Überwachung. Grundlage dafür ist ein Amnesty-Bericht aus dem Jahr 2023, der die anlasslose Massenüberwachung der Bewohner*innen von Hebron kritisierte und die Verwendung von Gesichtserkennungstechnologie als Gefahr für die Menschenrechte bezeichnete. "Sie beobachten, wer kommt und geht, wer wen besucht", sagt Amro. Er klärt die Menschen über diese Überwachung auf, inklusive Gegenüberwachung, die allerdings ohne Gesichtserkennung auskommt. "Ich installiere Kameras, die die Gewalt der Siedler und der Armee aufzeichnen. Das gibt den Familien ein Gefühl von Sicherheit."

Drastische Einschränkungen im Alltag

Ein Gefühl von Sicherheit – das ist es, was in Hebron seit 1997 fehlt. Ständig werden palästinensische Bewohner*innen von israelischen Siedler*innen schikaniert, die Steine oder leere Flaschen auf Häuser von Palästinenser*innen werfen, deren Eigentum zerstören oder sie angreifen. Hinzu kommen willkürliche Durchsuchungen, Festnahmen und Misshandlungen durch die israelische Armee. "Die Strategie der Besatzung ist nicht, dich aus deinem Haus zu werfen. Aber sie machen es dir unmöglich, zu bleiben", sagt Amro.

Mit Angst und Unsicherheit gehen drastische Einschränkungen im Alltag einher: "Wenn ich ein Abendessen für die Nachbarschaft organisiere, brauche ich ein Auto, um das Essen, Stühle und Tische zu transportieren. Aber Autos sind verboten, und Essen durch die Checkpoints zu bringen ist schwierig", sagt Amro. Ein soziales Leben sei kaum möglich. Palästinensische Besucher*innen, die nicht aus Hebron kommen, haben keinen Zutritt, und die Checkpoints machen am Abend zu – manchmal auch früher und ohne Ankündigung. "Dann kommt man nicht mehr rein. Oder wenn man raus wollte, um etwas zu erledigen, ist die Rückkehr unmöglich. Die Familien bleiben lieber gleich zu Hause."

Gewaltloser Widerstand

Issa Amro möchte sich nicht verdrängen lassen. Und er will, dass auch seine Mitbürger*innen durchhalten. Darum tut er, was er kann, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Die Überzeugung, dass dafür nur gewaltlose Methoden infrage kommen, begleitet ihn seit seiner Jugend. Damals studierte er Ingenieurswesen an der Polytechnischen Universität in Hebron. Eines Tages während der Zweiten Intifada im Jahr 2003 kam er in die Universität, um festzustellen, dass die israelischen Behörden diese geschlossen hatten. "Ich ging nach Hause, war wütend, bereit alles zu tun, um mich zu rächen", erinnert er sich. In eine Internet-Suchmaschine habe er eingegeben: "Wie macht man Revolution?" Er stieß auf Martin Luther King, Gandhi und die südafrikanische Bewegung gegen die Apartheid. Amro verbreitete Ideen des gewaltlosen Widerstands unter seinen Kommiliton*innen, und friedlicher Protest führte dazu, dass die Universität wieder öffnen konnte.

Anders als einige seiner Vorbilder erhielt Amro noch keinen Friedensnobelpreis. Doch Ende 2024 wurde er mit dem Right Livelihood Award ausgezeichnet, der auch als Alternativer Nobelpreis bekannt ist. Der Preis würdigt Menschen und Organisationen, die sich für den Erhalt der Lebensgrundlagen und für soziale Gerechtigkeit einsetzen. "Ich erreiche nun mehr Menschen und bin geschützter", sagt Amro. Andererseits sei er noch mehr ins Visier der Sicherheitskräfte geraten: der palästinensischen, der israelischen, der jordanischen. Bei Reisen werde er häufiger kontrolliert oder inhaftiert.

Doch das ist Amro gewohnt. "Ich kann nicht zählen, wie oft ich schon festgenommen wurde." Besonders hart sei der 7. Oktober 2023 für ihn gewesen, als die israelische Armee nach dem Angriff der Hamas willkürlich Palästinenser*innen im Westjordanland festnahm. "Ich dachte, mein Ende sei gekommen. Ich wurde geschlagen, sexuell misshandelt, angespuckt." Während seiner zwölfstündigen Haft seien ihm Zweifel gekommen, ob er mit seiner Arbeit wirklich etwas verändern könne. "Doch als ich wieder freikam, sah ich die vielfältige Unterstützung für mich und wusste, ich stehe auf der richtigen Seite. Das hat meinen Glauben an den gewaltlosen Widerstand noch verstärkt."

Hannah El-Hitami ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

 

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