Amnesty Journal Iran 26. Juli 2018

Die Toten geben keine Ruhe

Zwei Frauen stehen vor der Berliner Mauer, eine legt den Arm um die andere

Starke Schwestern. Lale und Asita Behzadi im Juni 2018 in Berlin.

Dreißig Jahre nach dem Massaker im Teheraner ­Evin-Gefängnis wollen zwei Schwestern weiter wissen, was mit ihrem Vater 1988 wirklich geschah.

Von Markus Bickel

Lale Behzadi spricht ruhig und bedächtig. "Spuren lassen sich nicht einfach beseitigen, ohne dass dies eines Tages auf eine ­Gesellschaft zurückfällt", sagt die Arabistin. Dreißig Jahre nach der Ermordung ihres Vaters Manoutcher im Evin-Gefängnis von Teheran sitzen wir im Schatten der Berliner Mauer zusammen. Hier, im Stadtteil Mitte, hat Lale 1987 Abitur gemacht, ihre Schwester Asita, heute Psychologin an der Berliner Charité, sieben Jahre später. Ihr Vater kam in den 60er Jahren in die DDR, wo er in Leipzig Brigitte Stark kennenlernte, seine spätere Frau.

"Wir werden weiter nach dem Grab unseres Vaters fragen", sagen die beiden Frauen, die Teheran aus eigener Anschauung kennen. Asita war viereinhalb Jahre alt und Lale zehn, als die Familie nach dem Sturz des Schahs 1979 in die Heimat des Vaters zog – voller Hoffnung auf einen gewandelten Iran. Nach fast einem Vierteljahrhundert im Exil arbeitete Manoutcher Behzadi in Teheran als Chefredakteur der Tageszeitung Mardom, die er bereits in Leipzig unregelmäßig herausgegeben hatte. Er war voller Elan, erinnern sich die Töchter. Das Land blühte auf, eine Vielzahl von Parteien, Zeitungen und Foren entstand.

Doch die Hoffnung auf einen pluralistischen Iran erwies sich bald als Illusion, die Verhaftungen von linken Oppositionellen häuften sich. Wie die anderen Führungsmitglieder der kommunistischen Tudeh-Partei wurde Behzadi im Februar 1983 inhaftiert – wegen mutmaßlicher Spionage für die Sowjetunion. Er kam in Isolationshaft im Evin-Gefängnis, das bereits zu Schah-Zeiten für seine Folterpraktiken bekannt war.

Nach Aussagen überlebender Mitgefangener wurde er stundenlang mit einer Peitsche geschlagen und mit hinter dem Rücken gekreuzten Armen aufgehängt. 1983 übertrug das Fernsehen Bilder einer inszenierten Gefängniskonferenz, bei der mehrere Männer die Islamische Republik lobten und ihren eigenen "Irrweg" verdammten. Auch von Behzadi sind Aufnahmen erhalten, in denen er vor einem Tribunal Auskunft über seinen Werdegang gibt. Dabei sind  die Spuren der Folter unübersehbar.

Brigitte Behzadi war damals bereits mit den Töchtern nach Ostberlin zurückgekehrt. Zu groß war das Risiko unter den islamistischen Herrschern geworden; das gefährliche Versteckspiel ihres Mannes und die ständigen Hausdurchsuchungen wollte sie den Kindern nicht länger zumuten. Ihre ältere Tochter Lale erinnert sich, wie die anfängliche Begeisterung über die Revolution in eine bedrückende Atmosphäre umschlug und immer mehr Rechte beschnitten wurden, von der Kleidung der Frauen bis hin zur Presse- und Versammlungsfreiheit.

25 Briefe aus dem Gefängnis sind alles, was den beiden Schwestern und der Mutter von den Jahren in der Haft geblieben ist. Die Schreiben bestehen aus einem siebenzeiligen Vordruck; auf der Rückseite sind sieben Zeilen für die Antwort vorgesehen. Gezeichnet von der Folter, so die ältere Tochter, schrieb Manoutcher Behzadi immer gleichlautende Sätze. Nur sein Bruder Cirus durfte ihn besuchen, und die Nachrichten über seinen Gesundheitszustand, die die Mutter in Deutschland am Telefon erhielt, wurden von Mal zu Mal schlechter.

Im Sommer 1988 wurden die Kontakte zu den Angehörigen abgebrochen. Im Nachhinein ist klar, dass damals die massenhaften Exekutionen vorbereitet wurden. Gefangene wurden nach Partei- und Gruppenzugehörigkeit sortiert und zu Verhören abgeholt. Von Spionage war nun keine Rede mehr, stattdessen stellten die Verhörkomitees Fragen zu Glauben und Gebets­praxis. Alles zielte darauf ab, die Abtrünnigkeit von Revolutionsführer Ajatollah Ruhollah Khomeini zu beweisen.

Die Hinrichtungen begannen kurz nach dem Ende des Iran-Irak-Kriegs und nach einem bewaffneten Angriff Tausender abtrünniger Volksmudschahedin auf die Stadt Kermanschah. Nach Informationen von Amnesty wurden zwischen August 1988 und dem zehnten Jahrestag der Islamischen Revolution im Februar 1989 mehr als 5.000 Menschen hingerichtet, ohne dass es ordentliche Gerichtsverfahren gegeben hätte. Auf dem Höhepunkt der Exekutionswelle hängte man Gefangene im Halbstunden­takt, oft an extra herbeigeschafften Kränen zu fünft oder sechst, damit es schneller ging. Als diese Methode zu viel Zeit kostete, gingen die Behörden zu Erschießungen über, die wegen der verräterischen Geräusche zuvor vermieden worden waren. Mit Lastwagen und Hubschraubern schafften Helfer die Leichen aus den Gefängnissen und brachten sie in Massengräber.

Im November 1988 teilten die Behörden Cirus Behzadi mit, dass er die letzten Habseligkeiten seines Bruders aus dem Gefängnis abholen könne. Eine offizielle Sterbeurkunde gab es nie. 1991 bestätigte das iranische Außenministerium auf Anfrage der deutschen Botschaft in Teheran lapidar "das Ableben des Genannten". Bis heute wissen Lale und Asita Behzadi nicht, wie ihr Vater 1988 umkam und wo er begraben liegt. Vermutlich wurde er wie Tausende andere Opfer der Hinrichtungswelle auf dem Khavaran-Friedhof nahe der Hauptstadt verscharrt.

Doch nicht nur die Angehörigen halten die Erinnerung an das Massaker wach, sondern auch Amnesty International. In einem im April veröffentlichten Bericht konnte die Organisation anhand von Satellitenaufnahmen nachweisen, dass im ganzen Land neue Gebäude auf Gräbern errichtet und Bestattungsstätten dem Erdboden gleichgemacht wurden. Ziel ist es, nach Ansicht von Amnesty, Beweismittel zu zerstören, die das Ausmaß der Verbrechen ans Licht bringen könnten. Da die Stätten unter ständiger Bewachung des Sicherheitsapparats stünden, sei davon auszugehen, dass sowohl Geheimdienste wie Justizapparat in die Spurenvernichtung eingeweiht seien.

Die Nichtregierungsorganisation Justice for Iran geht davon aus, dass sich die sterblichen Überreste der 1988 im Evin-Gefängnis Hingerichteten in 120 Massengräbern an verschiedenen Orten des Landes befinden, mindestens sieben wurden zwischen 2003 und 2017 von den Behörden zerstört. Bis heute ist es Angehörigen verboten, gemeinsam öffentlich zu trauern. Sie dürfen auch keine Blumen oder kurze geschriebene Nachrichten an den Orten niederlegen, an denen sie ihre Liebsten vermuten. Jegliche Erinnerung soll erstickt, jegliche Forderung nach Aufarbeitung unterbunden werden.

Auf Dauer dürfte dies jedoch nicht gelingen. Die Behzadi-Schwestern werden jedenfalls im September, wie schon so oft, gemeinsam mit ihrer Mutter des Verstorbenen gedenken. Und Asita Behzadi ist sich sicher: "Eines Tages werden diese Ereignisse hochkochen. Irgendeine Generation wird das einer anderen vorwerfen." Ihre ältere Schwester Lale pflichtet ihr bei. "Nehmen wir an, die Iraner suchen sich eines Tages eine neue Regierung, dann werden die unerledigten Geschichten auf den Tisch gelegt." Bis jetzt freilich hat das Schweigekartell an der Spitze der Islamischen Republik gehalten. "Unabhängig davon, wie reformorientiert sich die Regierungen in den letzten drei Jahrzehnten gaben: Zu dem Massaker im Evin-Gefängnis wurde nie Stellung genommen." 

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