DEINE SPENDE KANN LEBEN RETTEN!
Mit Amnesty kannst du dort helfen, wo es am dringendsten nötig ist.
DEINE SPENDE WIRKT!
MENSCHENRECHTE SCHÜTZEN!
Wir setzen uns für den Schutz von bedrohten Aktivist*innen ein, stellen klare Forderungen an die Politik.
UNTERSTÜTZE UNSERE ARBEIT MIT DEINER SPENDE.
„Wir kommen alle als Ungewählte auf diese Welt“

"Die Gemeinschaft sollte sich darauf gründen, dass uns eine Verantwortung füreinander und für den Planeten gemeinsam ist", sagt die Soziologin Sabine Hark.
© Privat
Gemeinschaftlichkeit ist ein zentraler Bestandteil der Menschenrechte. Im Interview spricht die Soziologin Sabine Hark über Verantwortung und Zugehörigkeit – in einer Gemeinschaft, die alle Menschen einschließen soll.
Interview: Lea De Gregorio
Eine Gemeinschaft definiert sich gemeinhin darüber, dass ausgewählte Menschen dazugehören. Sie drehen diese Idee um und schreiben von der Gemeinschaft der Ungewählten. Warum?
Mein Ausgangspunkt war die Annahme, dass wir nur in Gemeinschaft mit anderen existieren können. Gemeinschaft im weitesten Sinne brauchen wir, um überleben zu können und ein gutes Leben zu führen. Doch das Recht, in Gemeinschaft zu leben, wird nicht allen zugestanden – so kam ich auf die Figur der Ungewählten. Die Idee dahinter ist, dass niemand ausgesucht worden ist und niemand ausgesucht werden darf. Es gibt kein Recht, das darüber entscheidet, wer existieren darf.
Demnach sind also alle Menschen ungewählt?
Davon gehe ich aus, und so ähnlich argumentiert auch Judith Butler: Wir sind alle ungewählt auf dieser Erde erschienen. Daraus ergibt sich unser Recht, zu existieren. Und um zu existieren, brauchen wir die anderen. Hier kommt die Gemeinschaft der Ungewählten ins Spiel. Es geht dabei gerade nicht um eine bestimmte Gemeinschaft mit einer bestimmten Identität, Eigenschaft oder Herkunft. Vielmehr geht es um den Umstand, dass wir schlicht und ergreifend da sind.
In der Realität werden Identität und Herkunft jedoch viel Bedeutung zugemessen.
Historisch können wir sehen, dass dieser Umstand, ungewählt zu sein, ungleich verteilt worden ist. Man kann sagen: Die Vielen wurden zu Ungewählten gemacht, damit die Wenigen sich als Gewählte imaginieren können.
Woran denken Sie da?
Nehmen wir zum Beispiel die bürgerliche Revolution des 19. Jahrhunderts: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Die Brüder waren in diesem Fall die weißen, heterosexuellen, bürgerlichen Männer. Die Frauen, die Menschen in den Kolonien, Homosexuelle, Verrückte, Kinder, waren demnach nicht frei und gleich. Es war keine bürgerliche, sondern eine brüderliche Revolution.
Dabei ging es damals doch gerade darum, Ausgeschlossene einzubeziehen.
Es wird auch gern davon gesprochen, dass es eine demokratische Revolution war. Diese demokratische Revolution müsste jedoch vollendet oder vielmehr vertieft und radikalisiert werden, damit Freiheit, Gleichheit und Solidarität für alle gilt. Ich würde sagen, dass es noch keine demokratische Revolution war, sondern eine, die zunächst den Männern Freiheit und Gleichheit beschert hat.
Das Recht auf Gemeinschaft ist zentral für die Menschenrechte. Wie können diese dabei helfen, Pluralität zu schützen und damit die demokratische Revolution fortzuführen, von der Sie sprechen?
Dafür müsste die Kluft zwischen Menschen- und Bürgerrechten kleiner werden. Das ist ein Gedanke, den schon Hannah Arendt formuliert hat: das Recht, Rechte zu haben, ist an die Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat geknüpft. Die Menschenrechte gelten vermeintlich für alle, aber sie sind eben nur ein bedingt garantierter Rechtekorpus, insofern sie nicht überall in nationalstaatliches Recht überführt worden sind.
Zum Beispiel?
Die Chance auf eine Staatsbürgerschaft in einem Land, in dem die Rechte als Bürgerrechte verankert sind, hat beispielsweise nur ein Teil der Menschheit. Wir leben in Machtverhältnissen, die dafür sorgen, dass die Staatsbürgerschaft mancher Menschen mehr Rechte umfasst als die von Angehörigen anderer Staaten, beispielsweise Passprivilegien.
Sie schreiben, dass auch innerhalb der Dominanzkultur eines Staates Menschen privilegiert sind, während andere um ihre Existenz bangen. Wer entscheidet darüber?
Einfache Bürger_innen haben natürlich weniger Einfluss als Menschen in politischen Entscheidungspositionen. Aber in gewisser Weise entscheiden alle. Schon allein dadurch, dass ich die Regierung wähle, die diese Entscheidung für mich trifft, habe ich in gewisser Form Entscheidungen mitgetroffen.
Und im Alltag?
Da geht es darum, wie wir anderen begegnen. Nehmen wir zum Beispiel die vielen Auseinandersetzungen, die wir in den vergangenen Jahren um das vermeintliche Recht der Verwendung rassistischer Begriffe oder zu geschlechtergerechter Sprache führen. Das sind Bereiche, in denen wir entscheiden, wie wir uns im Sinne einer Demokratisierung des gesellschaftlichen Miteinanders verhalten. Wenn es jemandem egal ist, ob er mit Begriffen andere diskriminiert, entscheidet die Person sich für ein gesellschaftliches Miteinander, das impliziert, dass die einen mehr und die anderen weniger wert sind und nicht alle Menschen einen höflichen und zivilen Umgang verdienen.
Auch Rechtsextreme halten den Wert der Gemeinschaft hoch. Wie lässt sich da differenzieren?
Gerade in der deutschen Geschichte ist der Begriff der Gemeinschaft durch völkische Vereinnahmung, nationalistische und rassistische Aufladung korrumpiert. Es ist sehr wichtig, das kritisch im Blick zu behalten.
Was könnte das Verbindende in einer Gemeinschaft sein, die niemanden ausschließt?
Es sollte darum gehen, eine Idee von Gemeinschaftlichkeit zu entwickeln, bei der nicht vorausgesetzt ist, dass wir eine Gemeinschaft bilden, weil wir alle Deutsch oder alle weiß sind. Wir sollten eher von einer Verantwortungsgemeinschaft sprechen: die nicht auf einer geteilten Identität, sondern einer geteilten Verantwortung füreinander basiert. Die Gemeinschaft sollte sich darauf gründen, dass uns eine Verantwortung füreinander und für den Planeten gemeinsam ist.
Sabine Hark ist Soziologin und Professorin für Gender Studies an der TU Berlin. Ihr Buch "Gemeinschaft der Ungewählten. Umrisse eines politischen Ethos der Kohabitation" erschien 2021 im Suhrkamp-Verlag.
Lea De Gregorio ist Redakteurin des Amnesty Journals. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.