Amnesty Journal Deutschland 13. November 2020

Wir retten Leben

Ein Mann mit sehr kurzen Haaren und einer Tätowierung an der Hand trägt eine Sportjacke und steht an der Reling eines Schichffes angelehnt.

Im Mittelmeer unterwegs, um in Seenot geratene Menschen zu retten: Dariush Beigui

In der Klinik, in der eigenen Praxis oder im Mittelmeer: In einer Mini-Serie stellen wir Lebensretterinnen und Lebensretter im Porträt vor.

Von Malte Göbel

Fern vom sicheren Hafen

Dariush Beigui aus Hamburg ist Kapitän und ­Seenotretter.

Dariush Beigui (43) hat seit 2016 keinen Urlaub mehr gemacht. Er arbeitet als Hafenschiffer in Hamburg und steht normalerweise als Kapitän auf der Brücke eines Schiffes, das andere Schiffe mit Treibstoff beliefert. "Wir sind quasi eine fahrende Tankstelle", erzählt er. Es ist ein normaler Job, Dienstantritt um sieben Uhr morgens, Dienstschluss um halb vier nachmittags. Urlaubstage und Überstunden spart er sich auf, um anderen zu helfen – im Mittelmeer, wo er dann unterwegs ist, um in Seenot geratene Menschen zu retten. "Da sind Menschen in Not, die brauchen Hilfe, und ich habe eine Fähigkeit, mit der ich helfen kann."

Auf das Thema aufmerksam wurde er 2015, als sich in Berlin der Verein Sea Watch gründete. "Das sprach sich herum: ein Haufen Aktivisten kauft ein Schiff und fährt ins Mittelmeer." Dariush Beigui überlegte, sich zum Hochseematrosen fortzubilden, um mitfahren zu können – dann erfuhr er, dass die Schiffe als Sportschiffe unterwegs waren und er als Hafenschiffer sofort helfen konnte. Zwar nicht der Sea Watch, aber im November 2016 nahm er ein Flugzeug nach Malta und ging an Bord der ­Iuventa, ein Schiff der NGO Jugend Rettet.

 

Ich rette Leben, weil viel zu viele weggucken, wie Europas Politik Leben raubt.

Dariush
Beigui
Kapitän und ­Seenotretter

 

Er merkte bald, dass es einen großen Unterschied macht, ob man ein Schiff im Hafen steuert oder auf offener See. "Ich bin es gewohnt, nie mehr als 200 Meter vom Ufer entfernt zu sein – und ich kenne den Hamburger Hafen besser als meine Westen­tasche, kenne alle Strömungen, weiß, wann Ebbe und Flut kommen." Auf dem Meer war das anders. "Da kommen mal Wellen von rechts, mal von links, und als wir damals von Malta losgefahren sind, ging es 24 Stunden nur geradeaus, das war ungewohnt." Doch relativierte sich das schnell angesichts des Schicksals der Flüchtlinge. "Ich dachte, ich wüsste, was mich erwartet, ich hatte das ja im Fernsehen gesehen. Aber dann passiert das 150 Meter vor dir. Man kann sich darauf nicht vorbereiten."

Als Kapitän hat er nicht direkt mit den Geflüchteten zu tun, und Dariush Beigui hat Respekt vor den Leuten aus seiner Crew, die sich um sie kümmern. "Ich weiß nicht, ob ich je wieder ruhig schlafen könnte, wenn ich direkt anhören müsste, welches Leid sie durchlebt haben. Sie durchqueren die Sahara, sie werden gefoltert und sind dann auf dem Meer in Lebensgefahr."

 

Leben retten bedeutet für mich, solidarisch zu sein mit jedem Menschen in Not oder auf der Flucht. Völlig egal, warum dieser Mensch geflohen ist oder woher dieser Mensch kommt.

Dariush
Baigui
Kapitän und ­Seenotretter

 

Er ist wütend auf die staatliche Politik, die die Rettungsmaßnahmen behindert. Rettungsschiffe werden in den Häfen festgehalten, weil sie angeblich zu viele Schwimmwesten an Bord haben oder zu wenige Toiletten; reine Schikane aus seiner Sicht. "Da sind Menschen in Seenot, und man darf ihnen nicht helfen? Entscheidet die Farbe ihres Passes oder ihrer Haut, ob ich ihnen helfen darf? Das widerspricht meinem Weltbild!"

Für ihren Einsatz auf dem Mittelmeer bekam die Crew der Iuventa 2020 den Menschenrechtspreis von Amnesty International. Das Schiff wurde 2017 vom italienischen Staat beschlagnahmt, es laufen Ermittlungen, auch gegen Dariush Beigui, doch er macht weiter, zuletzt an Bord der Mare Liberum in der Ägäis, um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. "Da sind Menschen in Not, und ich kann helfen. Also tue ich es."

 

Dicht an den Patienten

Lene Sörensen arbeitet als Krankenpflegerin auf einer ­Corona-Station in Berlin.

Eine Frau in einem Krankenschwesternhemd steht vor einer Wiese.

Klare Vision: "Ich wusste immer, ich will etwas Sinnvolles tun, die Welt ein bisschen besser machen."

 

"Ja, auch wir hatten Angst, Anfang März, als Corona kam", sagt Lene Sörensen. Die 39-jährige Berlinerin war von Anfang an mittendrin in der Pandemie, als Krankenpflegerin im St.-Joseph-Krankenhaus in Berlin-Tempelhof. Sie arbeitete auf der Nephrologie, also der Station für Patientinnen und Patienten mit Nierenerkrankungen. Die wurde nach und nach zur Corona-Station umfunktioniert. "Zunächst waren es nur zwei Zimmer am Ende des Flures, dann wurden es mehr, zwischendurch war das halbe Stockwerk voll mit Covid-19-Patienten, 22 Betten in zwölf Zimmern." Sie waren kurz davor, das ganze Stockwerk zu räumen, als im Mai die Corona-Welle dann abflachte.

 

Ich rette Leben, weil ich dem internationalen Ethikkodex der Pflegenden verpflichtet bin. Weil gemäßt Grundgesetz und Menschenrecht jeder das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit hat. Und ich an die Nächstenliebe und an die Verpflichtung füreinander Sorge zu tragen, glaube.

Lene
Sörensen
Krankenpflegerin

 

Jetzt gibt es acht Zimmer, Materialmängel sind überwunden, Desinfektionsmittel, Kittel und Masken sind genug da. Die Angst ist Routine gewichen. "Die Leute kommen mit Verdacht auf Covid, wir machen einen Abstrich und behalten sie da, wenn es ihnen nicht gut geht. Wenn es ihnen ganz schlecht geht, schicken wir sie auf die Intensivstation." Covid hat keinen geradlinigen Verlauf, das macht alles kompliziert. "Man kann nur helfen, wenn man dicht am Patienten ist", sagt Lene Sörensen. Daher kommt der Krankenpflege eine wichtige Rolle zu, sie ist Tag und Nacht für die Patientinnen und Patienten da.

Geboren wurde Lene Sörensen 1981 in Berlin-Wilmersdorf, wuchs in Moabit auf. "Ich bin eine Westberliner Göre!", sagt sie. Sie nimmt ihre Verantwortung im Job sehr ernst und ist dem internationalen Ethikkodex der Pflegenden verpflichtet: "Gesundheit zu fördern, Krankheit zu verhüten, Gesundheit wiederherzustellen und Leiden zu lindern." Ihre Arbeit entspricht ihren persönlichen Zielen: "Ich wusste immer, ich will etwas Sinnvolles tun, die Welt ein bisschen besser machen."

 

Leben retten bedeutet für mich, das für uns Selbstverständlichste und trotzdem Allergrößte zu bewahren: das Leben selbst.

Lene
Sörensen
Krankenpflegerin

 

Als sie Abiturientin war, im Jahr 2000, war ihr erster Reflex: Ab in die Politik! "Ich habe mir verschiedene Parteiprogramme durchgelesen und bin dann der Linken beigetreten, das hat mir am besten gefallen." Doch bald merkte sie: "Politik zieht bestimmte Menschen an, da geht es um Macht, immer muss man kämpfen. Das war nichts für mich." Also studierte sie Jura, um Anwältin oder Richterin zu werden und sich so für andere Menschen einzusetzen. Auch dort kamen ihr bald Zweifel: "Das war so theoretisch, man musste so viel rumsitzen und lernen."

In dieser Zeit begleitete sie ihren Vater beim Sterben, er hatte Krebs, und sie erlebte mit großem Respekt, wie sich die Pflegekräfte im Hospiz um ihn kümmerten. Als er gestorben war, stand sie vor der Entscheidung: Weiter durch das Studium quälen oder etwas anderes machen? Die zweifache Mutter entschied: "Das einzige, was ich schaffen kann, ist etwas, was ich toll finde." Also sich selbst um kranke Menschen kümmern.

Sie begann eine Ausbildung zur Krankenpflegerin. Ihre Studienfreunde waren kritisch. "Aber heute beneiden mich manche Freunde, die inzwischen am Sinn des eigenen Jobs zweifeln." Und ihr Sohn sagte, als er sieben war: "Ich möchte später das machen, was Mama macht." Seine Begründung war gut: "Du kommst immer zufrieden von der Arbeit nach Hause."

Malte Göbel arbeitet als freier Journalist in Berlin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

Leben retten – hier und überall: www.amnesty.de/allgemein/kampagnen/retten-verboten

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