Amnesty Journal 02. Juli 2020

Solidarität heißt Grenzen ziehen

Ein junger Mann mit braunen Haaren und schwarzer Hornbrille, es ist Ulf Tranow, Professor der Soziologie, trägt ein blaues Sakko und blickt in die Kamera.

Was genau ist Solidarität? Ein Gespräch mit Ulf Tranow, Professor für Soziologie an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf, über verschiedenene Formen von Solidarität im Kontext von Menschrenrechten.

Interview: Lea De Gregorio

In der Corona-Krise wird das Wort Solidarität geradezu inflationär verwendet. Was bedeutet Solidarität?

Solidarität ist ein komplizierter Begriff. Die Tatsache, dass er stark verbreitet ist, zeigt, dass er an etwas andockt, was wir intuitiv verstehen und positiv bewerten. Allerdings sind Begriffe, die so oft verwendet werden, häufig ungenau und offen für unterschiedliche Interpretationen. Einigkeit scheint aber darüber zu bestehen, dass Solidarität etwas damit zu tun hat, dass man zugunsten der Gemeinschaft oder anderer Individuen bestimmte Leistungen erbringt, auch wenn diese mit Kosten verbunden sind. Dabei geht es um Verbundenheit und Verantwortung.

Was macht den Begriff kompliziert?

Wenn man ihn spezifizieren will, wird es schwierig. Die Frage ist auch, ob Solidarität immer etwas mit Altruismus zu tun hat. Vielleicht kann man auch aus Eigeninteresse solidarisch sein. Etwa gibt es eigeninteressierte Argumente für einen Sozialstaat. Und es stellt sich die Frage, ob Solidarität freiwillig sein muss oder auch erzwungen werden kann. 

Das Tragen einer Maske zum Beispiel ist in Corona-Zeiten Pflicht.

Das wäre hierfür ein Beispiel.

Und was bedeutet Solidarität im Kontext der Menschenrechte?

Wenn wir mit der Brille der Solidarität auf die Menschenrechte schauen, sehen wir vielfältige Zusammenhänge. Menschenrechte sind individuelle Freiheitsrechte, um diese durchzusetzen und zu verteidigen, ist Solidarität notwendig. Es gibt zudem Menschenrechte wie das Recht auf Vereinigungsfreiheit, die sich als Recht verstehen lassen, Solidargemeinschaften frei bilden zu können. Außerdem gibt es eine ganze Reihe an Menschenrechten, die einen Solidaranspruch des Individuums gegenüber der Gemeinschaft begründen: das Recht auf soziale Sicherheit, das Recht auf gleichen Lohn, das Recht auf Wohlfahrt. Und es gibt das Recht auf Asyl: ein individuelles Recht darauf, dass andere sich solidarisch zeigen, wenn ich verfolgt bin.

Beim Recht auf Asyl geht es um internationale Solidarität.

Genau. Bei Solidarität spielt Grenzziehung immer eine große Rolle. Und die Menschenrechte nehmen eine universelle Grenzziehung vor. Das heißt, dass menschenrechtlich die Solidarität nicht beim Nationalstaat Halt machen kann. Es gilt zu beachten, dass menschenrechtliche Solidarität nicht immer kompatibel ist mit der Solidarität, die in kollektivistischen und autoritären Gesellschaften existiert.

Wie meinen Sie das?

Zum Beispiel wenn von Menschen gefordert wird, dass sie ihre eigene Persönlichkeit zugunsten eines Kollektivs aufgeben müssten. In autoritären Staaten wird die Verweigerung von Meinungs-, Religions- und Versammlungsfreiheiten nicht zuletzt dadurch begründet, dass diese das Wohl und die Einheit der Nation gefährden würden. Das ist natürlich mit den individuellen Freiheitsrechten, die als Menschenrechte deklariert sind, nicht vereinbar. An dieser Stelle könnte man sagen, dass die Menschenrechte uns auch vor zu hohen Solidaritätsanforderungen schützen.

Sie betonen, dass Solidarität nicht immer etwas Positives bedeutet. Warum?

Um Grenzziehungen im Zusammenhang mit Solidarität kommen wir nicht herum. Deswegen müssen wir uns fragen, welche Grenzziehungen ethisch vertretbar sind.  Wenn die Frage diskutiert wird, in welchem Verhältnis ein ausgebauter Wohlfahrtsstaat zu einer humanen Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik steht, ist sehr viel Verantwortungsbewusstsein gefragt. Hier müssen wir aufpassen, dass nationale Solidarität nicht gegen universelle menschenrechtliche Solidarität ausgespielt wird. Denn wenn nationale Solidarität wohlstandschauvinistische Züge annimmt und zur Forderung strikter Grenzziehungen führt, ist das aus der Perspektive der Menschenrechte natürlich höchst problematisch.

Diese Form der Solidarität wird auch von Rechtsextremen bedient.

Genau. Rechtsradikale vertreten die Vorstellung einer geschlossenen und kulturell homogenen nationalen Solidargemeinschaft. Damit rechtsradikale Gruppen funktionieren, müssen sie zudem intern Solidarität praktizieren. Sie müssen Kollektivgüter bereitstellen, intern faire Kooperationsstrukturen herstellen. Zumindest soziologisch muss man sagen, dass das Solidarzusammenhänge sind.

Diese internen Solidaritätsmerkmale gibt es auch bei Gegnern gegen die Corona-Maßnahmen. Vergrößern sich gesellschaftliche Gräben in der Corona-Krise?

Ich glaube, das ist noch nicht wirklich absehbar. Aber man muss sehen, dass wir in solchen Krisensituationen nicht darauf setzen können, dass alle untereinander dieselben Ideen von Solidarität vertreten. Einige scheinen die Einschränkungen, die sich als Solidarmaßnahmen zugunsten des Schutzes von Risikogruppen verstehen lassen, als unzumutbar zu empfinden. Aber es wäre falsch zu sagen, dass die Gegner der Corona-Maßnahmen keinen Sinn für Solidarität hätten. Denn wenn wir davon absehen, dass unter den Kritikern auch Rechtsextreme und Verschwörungstheoretiker sind, argumentieren diese Gegner zumindest vordergründig, dass sie das Grundgesetz und damit unser aller Freiheit schützen wollen. Ich glaube, dass deren Argumentation, unsere Demokratie sei in Gefahr, vollkommen haltlos ist. Aber auch sie organisieren sich über Solidarität. Wir müssen anerkennen, dass wir in einer Gesellschaft mit sehr unterschiedlichen Ideen von Solidarität leben, die in Konflikt geraten. Und das zeigt, wie komplex das Thema der Solidarität ist.

Ulf Tranow ist Junior-Professor für Soziologie an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf. Sein Buch "Solidarität. Soziologische Perspektiven und Konzepte" erschien 2012 im AV Verlag.

Weitere Artikel