Amnesty Journal Deutschland 18. Oktober 2021

Die Polizei hat ein Problem

Ein Polizist läuft in Schutzkleidung mit seinem Helm in der rechten Hand über eine Straße, auf seinem Rücken steht "Polizei" und eine Kombnation aus Buchstaben und Zahlen.

Polizeiarbeit kritisch zu hinterfragen, galt in Deutschland lange als Tabu. Spätestens seit dem Bekanntwerden rassistischer Vorfälle in den Reihen der Polizei sehen Wissenschaft und Medien nun genauer hin. Das zeigt sich auch an vielen Neuerscheinungen zum Thema.

Von Stephan Anpalagan

Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass wir heute kritisch und transparent über die Polizei in unserem Land reden. Noch vor wenigen Jahren galt es in weiten Teilen der Gesellschaft als verpönt und unanständig, die Arbeit der Ermittlungsbehörden mit journalistischer und wissenschaftlicher Distanz zu begleiten. Die meisten Redaktionen begnügten sich mit dem Abschreiben von Polizeimeldungen in ihrer Rubrik "Blaulicht", an anderer Stelle wurde jährlich über die Beliebtheit des Polizeiberufs berichtet (meist an Platz 3 nach Arzt/Ärztin und Feuerwehrmann/-frau). Irgendwo im Mittelteil der Zeitung durften Polizeifunktionäre über die steigende Kriminalität berichten, meist mit besonderem Augenmerk auf "Ausländer". Bücher über Polizeigewalt oder über rechte oder rassistische Grenzüberschreitungen durch Polizist_innen blieben lange Zeit Nischenlektüre.

Jegliche Transparenz abgewehrt

Nur wenige Medien berichteten über rassistische Polizeigesetze, über strukturelle Probleme in der Polizeiorganisation und über Straftaten, die Polizist_innen verübten. Meist durften in solchen Fällen Innenminister und Polizeigewerkschafter im direkten Anschluss abwiegeln und die Vorfälle verharmlosen. Es gibt wohl kaum ein Wort, das in den vergangenen Jahren im Kontext der Polizeiarbeit derart häufig bemüht wurde wie das Wort "Einzelfall". Dicht gefolgt von der Formulierung "Spiegelbild der Gesellschaft" und der Warnung vor "Generalkritik" und "Vorverurteilung". Die sachliche und gesellschaftliche Kritik an der Polizei wurde als Angriff auf die Sicherheit Deutschlands umgedeutet, jede Form von Transparenz und Aufsicht wurde abgewehrt, Kritiker_innen wurden diffamiert und kriminalisiert. Auch als Amnesty International im Jahr 2010 die Studie "Täter Unbekannt" veröffentlichte, mit der das Problem der Polizeigewalt in das öffentliche Blickfeld geriet, ließ die Kritik von Seiten der Polizei und der Politik nicht lange auf sich warten. Die Polizei – sie schien in Deutschland lange Zeit unantastbar.

Drohende Unterwanderung

Das ist heute zumindest teilweise anders. Zahlreiche Journalist_innen, Wissenschaftler_innen und Polizist_innen haben in den vergangenen Monaten die Verhältnisse in den Sicherheitsbehörden beschrieben, strukturelles Versagen und systematische Vertuschung aufgedeckt und rechte Netzwerke innerhalb der Polizei identifiziert. Ihre Arbeit ist ein Kompendium des Schreckens. In ausnahmslos jeder Polizeibehörde in diesem Land gibt es rassistische und rechtsextreme Vorfälle. Der Unwille, die Unfähigkeit und das rassistische Menschenbild, das sich nach dem Terror des NSU und den Anschlägen in Halle und Hanau in der Polizei Bahn brach, sind atemberaubend. Die zahlreichen Fälle rechter Vernetzung wie in den Fällen "Nordkreuz", "NSU 2.0", "Gruppe S." oder im "Neukölln-Komplex" zeigen, wie die Sicherheitsbehörden von rechten Extremist_innen unterwandert zu werden drohen. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht eine rechte Polizei-Chatgruppe, eine rassistische Polizeikontrolle oder ein Fall von Polizeigewalt öffentlich werden. Die Polizei hat ein Problem, und es ist gut, dass wir nun offen darüber reden.

Wer sich mit dem Themenkomplex Polizei auseinandersetzen möchte, sollte die unten stehenden Veröffentlichungen mit besonderer Aufmerksamkeit lesen. Sie alle bieten aus unterschiedlichen Perspektiven einen guten Überblick über die Vorgänge in der Polizei.

Stephan Anpalagan ist Journalist, Unternehmensberater und Musiker. Er hat die gemeinnützige Organisation "Demokratie in Arbeit" gegründet. Anpalagan engagiert sich in der Themenkoordinationsgruppe Polizei von Amnesty Deutschland.

BUCHEMPFEHLUNGEN ZUM THEMA

Rassismus, Rechtsextremismus, Polizeigewalt

Der Name ist Programm. Der 14. Band der Reihe "Polizieren: Polizei, Wissenschaft und Gesellschaft" trägt den Titel "Rassismus, Rechtsextremismus, Polizeigewalt". Die Autorenschaft besteht zu einem großen Teil aus Polizist_innen und Wissenschaftler_innen, die an Universitäten oder an Polizeihochschulen Kriminologie oder Kriminalistik lehren. Das wird an den 17 Beiträgen der Autor_innen durchaus deutlich. Die Analysen sind weitreichend, beziehen sich im Kern auf die Polizei selbst, ihre Ausbildungsorgane, ihre Organisation, ihre Kultur und ihre Kommunikation. Das Buch geht mit wissenschaftlicher Akribie den Vorwürfen gegen die Polizei nach. Dabei beschreiben und erläutern die Autor_innen die Herkunft, die historischen Linien, den Wahrheits- und Wesensgehalt der häufigsten Anwürfe gegen die Polizei.

Neben der in Polizeikreisen beliebten "Einzelfallhypothese" befassen sich die Texte auch mit der Fehlerkultur und der Selbstwahrnehmung innerhalb der Polizeiorganisation. Auch die Fragen, ob die Polizei auf dem "rechten Auge blind" sei und wie es um die individuellen Einstellungen und Stereotype der Polizist_innen bestellt ist, werden behandelt und mit dem Versuch einer Annäherung beantwortet. Darüber hinaus geht es um die Binnenperspektive der Polizeiorganisation im Umgang mit Polizeistudien, die sogenannte "Dominanzkultur" und ein möglicherweise immanentes Rassismusproblem innerhalb der Polizei. An anderer Stelle geht es um das klare Bekenntnis zur wissenschaftlichen Begleitung der Polizeiarbeit. Zwei große Chronologien fassen die rechten und rassistischen Vorfälle in der Polizei im Jahr 2020 zusammen. Wer sich einen Überblick über die Problemfelder innerhalb der Polizei aus Sicht der Polizeiwissenschaft verschaffen möchte, sollte dieses Buch lesen.

Thomas Feltes, Holger Plank (Hrsg.): Rassismus, Rechtsextremismus, Polizeigewalt. Beiträge für und über eine rechtschaffen(d)e demokratische Bürgerpolizei. Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt am Main 2021, 300 Seiten, 29,90 Euro. Transparenzhinweis: Stephan Anpalagan hat einen Beitrag für diesen Sammelband verfasst.

Staatsfeinde in Uniform

Dirk Laabs hat sich mit der Aufarbeitung der rechten Netzwerke in den Sicherheitsbehörden einer Mammutaufgabe verschrieben. Auf 445 Seiten erläutert er, wie sich Polizist_innen, Bundeswehrangehörige, Geheimdienstmitarbeiter_innen und Rechtsextreme verbünden, um an einem Tag X die staatliche Ordnung in diesem Land zu stürzen. Dabei werden Waffen beiseite geschafft, Leichensäcke und Löschkalk gehortet, Krankenhäuser und Infrastruktur ausgespäht. Teile der Elitetruppe KSK innerhalb der Bundeswehr bilden den harten Kern und bereiten gemeinsam mit rechtsextremen Polizist_innen den Zusammenbruch der bestehenden Ordnung vor. Laabs spannt einen großen Bogen und berichtet von den Zusammenhängen zwischen NSU, Nordkreuz und Uniter. Er berichtet von der Unterwanderung der Bundeswehr, dem Versagen der Nachrichtendienste und der Weitergabe von Informationen durch Verwaltungsbeamt_innen an Rechtsextreme. Sein Text liest sich einerseits leicht und kurzweilig, andererseits eröffnet der Inhalt ein derart bedrohliches Szenario, dass man kaum glauben kann, was sich einem zwischen den beiden Buchdeckeln eröffnet. Laabs berichtet präzise und mit tiefem Sachverstand von seiner journalistischen Arbeit, wertet Akten und Dokumente aus und spricht mit Eingeweihten über die rechte Unterwanderung der Sicherheitsbehörden. Das Buch ist wohl die ausführlichste Darstellung der rechten Netzwerke in Bundeswehr, Polizei und Nachrichtendiensten, die es zurzeit zu lesen gibt.

Passend zum Buch seien die Podcasts Day X der New York Times und Das Hannibal-Netzwerk der taz empfohlen.

Dirk Laabs: Staatsfeinde in Uniform. Wie militante Rechte unsere Institutionen unterwandern. Econ Verlag, Berlin 2020, 448 Seiten, 24 Euro.

Auf dem rechten Weg?

Das Buch beginnt mit einer Selbstverständlichkeit: "Nicht jeder Polizist ist ein Rassist." Es ist ein Satz, der in all seiner Banalität nicht beruhigt, weil zwischen den Worten "Nicht" und "jeder" ein Leerraum existiert, über dessen Größe nur spekuliert werden kann. Wie viele Polizist_innen sind überzeugte Rassist_innen? Wie sehr finden rassistische und rechte Gedanken Eingang in die Ausbildung und den Alltag der Polizei? Wie finden Radikalisierungsprozesse bei Polizist_innen statt? Und was ist mit den bereits erwähnten "Einzelfällen", die sich wie ein Mosaik zu einem systematischen Problem zusammenfügen? Kempen geht diesen und vielen weiteren Fragen auf den Grund und legt den Schwerpunkt seines Buches auf die Beziehung zwischen Polizei und Demokratie und auf das Verhältnis zwischen Staatsvolk und Staatsgewalt. Er erklärt anhand zahlreicher Vorfälle strukturelle Probleme in der Polizei und beleuchtet die wesentlichen Akteure der deutschen Sicherheitspolitik – zu denen neben der Polizei selbst auch die Politik und die Polizeigewerkschaften gehören. Gerade diese Gewerkschaften kultivieren eine bedenkliche Resistenz gegen jede Form von Fehlerkultur und Weiterentwicklung der Organisation Polizei. Eine solche könnte in Form von externen Kontrollinstanzen Eingang in die Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik Deutschland finden oder in Form von Regelabfragen beim Verfassungsschutz vor der Einstellung von Polizist_innen.

Dieses Buch eignet sich als ausführlicher Überblick über die zahlreichen rassistischen Vorfälle in der Polizei, die der Investigativjournalist Kempen plausibel als Indizien für strukturelle und systematische Fehlentwicklungen innerhalb der Polizei aufarbeitet. Die Erzählung von den "Einzelfällen" lässt sich nach der Lektüre dieses Buches nicht weiter aufrechterhalten.

Aiko Kempen: Auf dem rechten Weg? Rassisten und Neonazis in der deutschen Polizei. Europa Verlag, München 2021, 240 Seiten, 20 Euro.

Fehlender Mindestabstand

Zu den zahlreichen schwerwiegenden Problemen innerhalb der Polizei – Rassismus, Rechtsextremismus, Machtmissbrauch, Polizeigewalt etc. – kommt im Zuge der Pandemie ein weiteres hinzu: der fehlende Mindestabstand zwischen der Polizei und den Coronaleugner_innen. In diesem Buch wird in 40 Beiträgen die Szene der "Hygienedemonstranten", der "Querdenker" und der Coronaleugner_innen tiefgreifend analysiert. Dabei werden die antisemitischen, rechtsextremen, rassistischen und staatsfeindlichen Umtriebe dieser Menschen genauso umrissen wie die Vernetzung dieser Personen mit Vertreter_innen von Politik und Polizei. Es werden die verschwörerischen Erzählungen innerhalb der Szene aufgedeckt sowie die personellen und organisatorischen Verbindungen zwischen Querdenker_innen und Polizist_innen aufgezeigt. Das Buch ist nicht auf die Polizei bzw. die Sicherheitsbehörden beschränkt, sondern offenbart ganz allgemein die vielen gesellschaftlichen und politischen Gefahren für unsere plurale Gesellschaft im Rahmen der Corona-Pandemie. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, schreibt in seinem Geleitwort darüber, wie die AfD versucht, diese Demonstrationen für sich zu instrumentalisieren und wie Rechtsextreme nach immer neuen Wegen suchen, um ihre Ideologie zu verbreiten. Schuster fordert, dass diese Netzwerke sichtbar gemacht und ihre Methoden aufgedeckt werden müssen. Das ist den Herausgeber_innen und Autor_innen dieses Buches gelungen.

Heike Kleffner, Matthias Meisner (Hg.): Fehlender Mindestabstand. Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde. Herder Verlag, Freiburg 2021, 352 Seiten, 22 Euro. Transparenzhinweis: Stephan Anpalagan hat einen Beitrag für diesen Sammelband verfasst.

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