Amnesty Journal Deutschland 16. August 2024

"Wenn unser Land nach rechts rückt, wird es für alle schwieriger"

Vogelperspektive auf einen Schulhof, der dicht an dicht mit Vornamen unterschiedlichster Nationalitäten beschrieben ist.

Rassismus im Bildungsbereich zeigt sich auf vielfältige Weise: Kinder mit migrantischem ­Hintergrund werden schlechter benotet, Schulbücher vermitteln ein falsches Bild von ­Schwarzen Menschen, Antisemitismus hat seit dem Krieg in Nahost massiv zugenommen. ­Rassismus- und Didaktik-Experte Karim Fereidooni fordert, Lehrkräfte besser auf den Umgang mit Menschen- und Demokratiefeindlichkeit vorzubereiten.

Interview: Tanja Dückers

Sie forschen seit vielen Jahren zu Rassismus an deutschen Schulen. Nimmt er zu?

Ich glaube, dass wir sensibler geworden sind in Bezug auf Rassismus. Wir erkennen Rassismus stärker als früher, auch an Schulen. Wir schauen intensiver hin. Die Mehrheit in der bundesdeutschen Bevölkerung ist sensibilisiert, sie verbalisiert heute, was früher vielleicht unter den Teppich gekehrt worden wäre. Aber: Wir haben auch eine kleine, laute Minderheit, die versucht, Rassismus salonfähig zu machen. 

Werden Schüler*innen in Deutschland abhängig von ihrer Herkunft ­unterschiedlich benotet und bewertet?

Wenn wir Bildungserfolg oder -misserfolg messen wollen, reicht ein Merkmal nicht aus. Der stärkste Einfluss ist die soziale Herkunft der Eltern. Zahlreiche Studien belegen, dass bei gleichem sozioökonomischem Status Kinder mit migrantischem Hintergrund sogar bessere Chancen haben, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten. Wissenschaftliche Studien zeigen auch, dass ein nicht-deutscher Name Einfluss auf den Bildungserfolg hat: So wurden 200 angehende Lehrkräfte gebeten, ein identisches Diktat zu benoten – einmal mit "Max" überschrieben, einmal mit "Murat". Eigentlich hätte dieselbe oder eine vergleichbare Note herauskommen müssen, aber Murat wurde eindeutig schlechter beurteilt. Eine andere Studie belegt, dass ein deutscher Pass bei Kindern mit Migrationshintergrund eher dazu führt, dass sie an Gymnasien beschult werden und seltener von Klassenwiederholungen betroffen sind.

Richtet sich der Rassismus gegen eine bestimmte Gruppe? 

In der Forschung sprechen wir von Rassismen: Es gibt anti-Schwarzen Rassismus, antimuslimischen Rassismus, Antisemitismus, antiasiatischen, antislawischen Rassismus oder Gadjé-Rassismus, der früher als Antiziganismus bezeichnet wurde. Wir müssen auch über anti-Schwarzen Rassismus in muslimischen Gemeinden sprechen. Denn auch diejenigen, die von Rassismus betroffen sind, reproduzieren Rassismus gegenüber anderen.

Karim Fereidooni ist Professor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum. Die Schwerpunkte seiner Arbeit sind Rassismuskritik in pädagogischen Institutionen, Schulforschung und Politische Bildung in der Migrationsgesellschaft sowie eine diversitätssensible Lehrer*innenbildung, die alle Schüler*innen in ihrer Unterschiedlichkeit anerkennt. Darüber hinaus hat er die Bundesregierung zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus, zu Muslimfeindlichkeit sowie zu Integration durch Bildung beraten.

Ist Rassismus mit einem Vorurteil ­gegenüber Jungen verbunden?

Das ist wichtig, was Sie hier fragen, denn Menschen sind aufgrund verschiedener Persönlichkeitsmerkmale wie Alter, Geschlecht, Sexualität, Hautfarbe, zugeschriebener oder faktischer Herkunft von unterschiedlichen Diskriminierungen betroffen. Jungen, die als muslimisch wahrgenommen werden, machen andere Rassismuserfahrungen als Mädchen: Muslimische Mädchen, die Kopftuch tragen, werden oft als Opfer ihrer Religion wahrgenommen, während muslimische Jungen eher als Machos und Täter betrachtet werden. Hier gibt es also geschlechtsspezifische Rassismuserfahrungen.

Zieht der Nahostkonflikt neue Rassismen unter Schüler*innen nach sich?

Der Nahostkonflikt hat keine neuen Rassismen an Schulen hervorgerufen, aber er hat bestehende antisemitische Muster reproduziert und vervielfältigt. Die Zahl antisemitischer Vorfälle an Schulen ist seit dem 7. Oktober 2023 massiv angestiegen. Mich erreichen Zuschriften von jüdischen Eltern, deren Kinder Homeschooling machen, weil sie sich nicht trauen, in die Schule zu gehen. Aber ich erhalte auch Zuschriften von palästinensischen und arabischen Eltern, deren Kinder Verhören ausgesetzt sind.

Erhalten die pädagogischen Fachkräfte ausreichend Fortbildungen? 

Wir haben drei Jahre zu Antisemitismus an Schulen geforscht und Unterricht beobachtet. Dabei konnten wir feststellen: Wenn Schüler*innen Antisemitismus reproduzieren, sind die meisten Lehrkräfte nicht in der Lage, damit angemessen umzugehen. Häufig reproduzieren Lehrkräfte Antisemitismus. Und zwar nicht, weil sie antisemitisch sein wollen, sondern weil sie nicht gelernt haben, adäquat über Antisemitismus zu sprechen. Wir müssen uns an die eigene Nase fassen: Wir bereiten Lehrer*innen zu wenig auf den Umgang mit Menschen- oder Demokratiefeindlichkeit vor, auf das, was sie in der Schule erwartet. 

Wenn der Islam vorkommt, dann häufig in einem negativen Licht, Konflikte werden betont – auch in Qualitätsmedien.

In Deutschland ist Bildung Länder­sache. Wie wirkt sich das bei diesem Thema aus?

Wir haben einen Flickenteppich in der Lehrer*innenbildung. Die Landesregierungen sollten sicherstellen, dass Menschenfeindlichkeit stärker zum Thema im Unterricht gemacht werden muss. Das Lehrerausbildungsgesetz in Nordrhein-Westfalen verpflichtet jede Didaktik-Lehrkraft, den angehenden Lehrkräften Inklusion beizubringen. Nach diesem Vorbild wünsche ich mir eine Ergänzung zum Thema Menschenfeindlichkeit in den Lehrerausbildungsgesetzen.

Sie gehörten dem Unabhängigen Expert*innenkreis Muslimfeindlichkeit an. Dieser hat für das Bundesinnenministerium eine große Studie zum Thema durchgeführt. Was waren Ihre Erkenntnisse?

Im Bildungsbereich haben wir 761 Schulbücher analysiert. In der Mehrheit dieser Bücher kommen muslimische Menschen nur in konflikthaften Situationen vor. Der größte Themenbereich, in dem Muslime anzutreffen sind, sind die Kreuzzüge – also konflikthafte Kulturbegegnungen. Dann haben wir uns 358 Lehrpläne angeschaut: Kommen darin antimuslimischer Rassismus oder Muslimfeindlichkeit vor? Das war nicht der Fall. Wie aber kann ich als Lehrkraft ein gesellschaftliches Phänomen im Unterricht thematisieren, wenn es nicht einmal im Curriculum auftaucht? 

Außerdem haben wir Boulevardmedien mit Qualitätsmedien verglichen. Dabei mussten wir feststellen: Wenn der Islam vorkommt, dann häufig in einem negativen Licht, Konflikte werden betont – auch in Qualitätsmedien. Ein weiterer Punkt: Die Berichterstattung über Muslime ist männlich. Frauen kommen kaum vor. 

Zudem haben wir uns 83 Film- und Serienproduktionen aus Deutschland, ­Österreich und der Schweiz angeschaut: Über die Hälfte der Filme, in denen muslimische Menschen vorkommen, sind Dramen. Wenn muslimische Menschen auftreten, dann meist in einem kriminellen Zusammenhang oder in anderen Kontexten, die den Fernsehzuschauer*innen Angst machen. Antimuslimischer Rassismus findet nicht nur auf dem Arbeitsmarkt statt oder im Bildungswesen, sondern in vielen unterschiedlichen Lebensbereichen. Und das macht ihn so gefährlich. 

Was war die Empfehlung des Expert*innenkreises?

Wir brauchen einen Beauftragten für muslimisches Leben in Deutschland ­analog zum Antisemitismus-Beauftragten. Wir brauchen eine Gesamtstrategie der Bundesregierung zum antimuslimischen Rassismus. Wir schlagen einen Sachverständigenrat vor, der alle Ressorts zu neuen Gesetzen in diesem Bereich berät.

Wie beurteilen Sie die Darstellung Afrikas in Schulbüchern? 

Elina Marmar, eine der führenden Forscher*innen in Bezug auf das Afrikabild in deutschen Schulbüchern, hat festgestellt, dass Schwarze Menschen kaum vorkommen, afrodeutsche Menschen schon gar nicht. Schwarze Menschen werden immer als Afrikaner*innen präsentiert, dabei wissen wir, dass seit 400 Jahren Schwarze Menschen in Deutschland leben. Eine Million Menschen versteht sich als Schwarz in Deutschland. Wenn Afrika dargestellt wird, dann erst mit der Ankunft von weißen Menschen, das vorkoloniale Afrika kommt so gut wie nie vor. Und wenn Schwarze Menschen in Erscheinung treten, dann häufig als hilfsbedürftige Personen. Der Reichtum Afrikas wird nicht dargestellt. Afrika heißt meist: Lehmhütten, Barfüßigkeit, Kindersoldaten. Damit will ich nicht sagen, dass es das nicht gibt. Aber Afrika ist größer als das Bild, das wir in Schulbüchern transportieren. Ich würde mir ein differenzierteres Bild wünschen. Da müssen Schulbuchverlage nachsteuern. 

Viele Kinder bringen aus ihrer Heimat eine Vielfalt an Lernpraktiken mit. Wird darauf an den Schulen eingegangen?

Die Kompetenzen von Schüler*innen, die zu uns kommen, werden im deutschen Schulwesen selten wertgeschätzt. Das hat auch mit den mangelnden Deutschkenntnissen der Schüler*innen zu tun. Viele können ihre mitgebrachten Kompetenzen nicht unter Beweis stellen. Was die Lernmethodik angeht, hat sich in den letzten 20 Jahren in der Ausbildung von Lehrkräften viel verändert. Statt Frontalunterricht bringen wir den angehenden Lehrkräften gute Methoden bei, Lernen zu begleiten. Aber das System Schule konterkariert diese Methoden häufig, weil es meistens noch auf einen starren 45-minütigen Unterricht in getrennten Fächern angelegt ist. Und Lehrkräfte unterrichten zu viele Schüler*innen. Ich war selber Lehrkraft. Ich hatte in der Unter- und Mittelstufe 32 Schüler*innen vor mir sitzen. Wie soll ich denen in 45 Minuten Demokratiekompetenzen beibringen? 

Im September wird in Brandenburg, Sachsen und Thüringen gewählt. Eine Landesregierung mit AfD-Beteiligung ist möglich. Was würde das für das Bildungswesen bedeuten?

Die Gefahr, dass diese Partei Einfluss nimmt, wird nicht erst Realität, wenn sie in einer Landesregierung tätig ist. Je größer die Zustimmungswerte, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass Gesetzesvorhaben anderer Parteien torpediert werden. Wenn eine Landesregierung von der AfD mitbestimmt wird, wirkt sich das nicht nur auf die Beschulung neu zugewanderter Menschen aus. Ressourcen würden dann für die Integration neu zugewanderter Menschen und geflüchteter Menschen eingespart. Initiativen, die sich für ein gemeinsames Miteinander einsetzen, bekämen vielleicht kein Geld mehr. Ich glaube, dass antidemokratische Stimmungen im Lehrer*innen- und im Klassenzimmer breiteren Raum finden werden. Es würde auch Auswirkungen auf die Kulturpolitik geben: Welche Theaterstücke werden gefördert, welche nicht? In Bezug auf öffentlich-rechtliche Medienfinanzierung muss man annehmen, dass Verträge gekündigt werden. Das wäre dann ein Eingriff in die Pressefreiheit. Wenn unser Land ein Stück weit nach rechts rückt, wird es nicht nur für Schüler*innen mit internationaler Familien­geschichte schwieriger, sondern für alle Menschen.

Tanja Dückers ist Autorin und Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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