Amnesty Journal Deutschland 02. Oktober 2024

Hoffnung statt Angst

Eine Frau mit schulterlangem Haar steht in der Natur und verschränkt ihre Arme vor dem Oberkörper.

Julia Duchrow, Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion

Nach dem Anschlag in Solingen wird den Bürger*innen vermittelt, dass von Menschen aus Syrien oder Afghanistan generell eine Gefahr ausgeht und der Schutz der Menschenwürde lästiger Ballast ist. Das muss aufhören.

Von Julia Duchrow

Grenzen dichtmachen, Asylrecht abschaffen, Flüchtlinge in Staaten abschieben, in denen Folter droht. All das sind Forderungen und Maßnahmen der vergangenen Wochen aus den Reihen der Ampel-Regierung oder der Unionsparteien. Vor dem Hintergrund steigender Umfragewerte der AfD reagierten sie damit auf die schreckliche Messerattacke in Solingen, bei der ein Syrer drei Menschen tötete. Das politische Kalkül war, AfD-Forderungen aufzunehmen, um deren Wahlsieg in Thüringen, Sachsen, Brandenburg oder gar bei der nächsten Bundestagswahl zu verhindern. 

Dabei zeigen Nachwahlbefragungen aus den drei Bundesländern, dass für die meisten Wähler*innen soziale Sicherheit und die wirtschaftliche Entwicklung wahlentscheidend waren. Im Rest der Republik dürfte das ähnlich sein. Nur AfD-Wähler*innen nennen Zuwanderung als das mit Abstand wichtigste Thema. Was bei ihnen verfängt, ist die rassistische Erzählung von der "Migration als Mutter aller Probleme". Befeuert wird sie allerdings bei Weitem nicht nur von der AfD.

Landtagssitzung als mahnendes Beispiel

Die politische Debatte nach dem Anschlag von Solingen ist ein neuer Tiefpunkt: den Bürger*innen wird von Politiker*innen verschiedener Parteien vermittelt, dass von Menschen aus Syrien oder Afghanistan generell eine Gefahr ausgeht und der Schutz der Menschenwürde bei der Gefahrenabwehr lästiger Ballast ist. Mit anderen Worten: dass die AfD im Kern eigentlich recht hat. Eine Brandmauer lässt sich auch dadurch nutzlos machen, indem man diesseits der Mauer selbst Feuer legt.

Diese Strategie führt auf eine abschüssige Bahn. Die Studienlage dazu ist eindeutig: Wenn demokratische Parteien solche Erzählungen aufgreifen, stärkt das die Parteien und Akteur*innen, die Hass und Ausgrenzung propagieren. Ideologien der Ungleichheit werden auf diese Weise sagbar und in die Breite der Gesellschaft getragen. Am Ende sind menschenverachtende Positionen normalisiert und die menschenrechtlichen Fundamente unseres Rechtsstaats ausgehöhlt. Die konstituierende Sitzung des Thüringer Landtags war hierfür ein mahnendes Beispiel. Nicht zu vergessen: Auf ausgrenzende Worte folgen gewaltsame Taten. Die Zahl politisch motivierter Übergriffe auf Geflüchtete ist deutlich gestiegen. 2023 zählte die Polizei in Deutschland fast doppelt so viele Angriffe wie im Jahr zuvor. 

Es geht darum, Hoffnung statt Angst zu verbreiten: Damit künftig nicht noch mehr Menschen ihr Kreuz bei den Menschenrechtsfeinden machen.

Tatsächlich gibt es weltweit und in Deutschland Probleme, die unsere Zukunft und insbesondere die unserer Kinder gefährden: Die Klimakrise, Kriege, in denen der Schutz von Zivilpersonen völlig missachtet wird, fehlende Ressourcen in der Bildung, steigende Mieten und vieles mehr. Es gilt, die politischen und bürgerlichen Rechte ebenso zu garantieren wie die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen – und zwar für alle Menschen. Es gilt, diese massiven Krisen mit einer Politik zu bewältigen, die auf dem Völkerrecht und den Menschenrechten fußt. Und es gilt, die immer größere Kluft zwischen Arm und Reich zu schließen, ohne Menschen gegeneinander auszuspielen. Denn sie behindert die Realisierung vieler Menschenrechte, da wichtige Ressourcen fehlen oder ungleich verteilt sind. 

Leider gelingt es den Menschenrechtsfeind*innen derzeit sehr gut, diese Probleme zu instrumentalisieren und rassistisch aufzuladen. Verantwortliche Politik darf dieser Erzählung kein Futter geben, sondern muss ihr etwas entgegensetzen: Migration ist keine Gefahr, sondern gestaltbar, und zwar auf der Grundlage der Menschenrechte. Im Hinblick auf die Herausforderungen, vor denen wir stehen, ist sie Teil der Lösung und nicht des Problems. Deutschland ist ein Einwanderungsland, in dem ein Drittel der Bevölkerung Migrationserfahrung hat. Ihre Familien haben nach dem Zweiten Weltkrieg die Grundlage für den heutigen Wohlstand vieler Menschen in Deutschland gelegt. Und ohne Migration werden wir auch heute die sozialen und wirtschaftlichen Probleme in unserem Land nicht in den Griff bekommen.

Es geht darum, Hoffnung statt Angst zu verbreiten: Damit künftig nicht noch mehr Menschen ihr Kreuz bei den Menschenrechtsfeinden machen.

Julia Duchrow ist Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland. 

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