Amnesty Journal Deutschland 28. März 2020

Geflüchtete in Zeiten von Corona

Vier Polizeibeamte mit Helm und in weißen Ganzkörperschutzanzügen führen zwei Männer ab.

Ein Lager unter Quarantäne. Polizeieinsatz in der Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete im thüringischen Suhl.  

Geflüchtete in Massenunterkünften sind einer besonderen Corona-Gefährdung ausgesetzt. Wegen erster Infektionsfälle wurden bereits ganze Einrichtungen unter Quarantäne gestellt. Bundesweit fordern Flüchtlingsräte die Schließung von Aufnahmelagern.

von Phillip John Koller und Tobias Oellig

Die Corona-Krise hat Deutschland im Griff. Kaum ein Lebensbereich bleibt von den Auswirkungen der Pandemie unberührt: Eltern im Home-Office versuchen Kinderbetreuung, Haushalt und Arbeit unter einen Hut zu kriegen. Auf oftmals verwaisten Straßen achten Polizisten auf die Einhaltung der Kontakteinschränkungen und lösen Gruppen in Parks auf. Die seit fast zwei Wochen herrschenden Notstandsregelungen lassen uns hautnah erleben, was es bedeutet, auf alltägliche Freiheiten und soziale Kontakte verzichten zu müssen. Wie es sich anfühlt, auf die eigene Wohnsituation und den engsten Familienkreis zurückgeworfen zu sein, mitunter von manchen Angehörigen auf unbestimmte Zeit getrennt. Dazu die Sorgen um die gesundheitliche Versorgung im Krankheitsfall, die wirtschaftliche Existenz und eine ständige  Ungewissheit darüber, wie es in den nächsten Wochen und Monaten weitergehen wird.

Für viele Menschen, die auf der Flucht vor Krieg, Hunger oder politischer Verfolgung nach Deutschland gekommen sind, war dieser Ausnahmezustand bereits vor Ausbruch der Corona-Krise Teil ihres Alltags. Trennung von Familienangehörigen. Warten auf die nächste behördliche Entscheidung. Beengte Wohnverhältnisse. Trotzdem weitermachen. Hoffen.

Den Auswirkungen der Corona-Pandemie müssen sich die Geflüchteten besonders hart stellen. Dies betrifft insbesondere die mehr als 40.000 Geflüchteten, die derzeit in den Erstaufnahmeeinrichtungen der Bundesländer leben. In diesen Gemeinschaftsunterkünften wohnen häufig Hunderte auf engstem Raum zusammen. Was bereits unter Normalbedingungen eine Nervenprobe ist, kann in Zeiten von Corona schnell zu einer drastischen Situation heranwachsen. Bundesweit fordern daher Flüchtlingsräte eine sofortige Schließung aller Erstaufnahmeeinrichtungen, um die Bewohner vor der Corona-Epidemie zu schützen.



Suhl, Thüringen – ein ganzes Lager in Quarantäne



Im thüringischen Suhl eskalierte vor wenigen Wochen die Lage, als nach Bekanntwerden einer Corona-Infektion eines Bewohners die komplette Erstaufnahmeeinrichtung für zwei Wochen unter Quarantäne gestellt wurde.


Rund 500 Geflüchtete wohnen außerhalb des Suhler Zentrums am südöstlichen Stadtrand. Die Quarantäne versetzte die Bewohner der abgelegenen Unterkunft in erhebliche Unruhe. Einer der Bewohner berichtete dem Nachrichtenportal inSüdthüringen.de durch den Zaun, dass Mitbewohner wegen der Quarantäne zum Hungerstreik aufgerufen hätten. Und den Zugang zum Speisesaal blockierten. Manche Bewohner hätten versucht, über den Zaun zu klettern oder durch die Kanalisation zu entkommen, konnten aber mit Gesprächen davon abgehalten werden.

Eine lange Einfahrt führt zwischen einem Zaun und einem Grünstreifen entlang zu zwei Gebäuden.

Rund 500 Menschen unter Quarantäne: Die Erstaufnahmereinrichtung in Suhl.

 

Anspannung und Angst unter den Bewohnern



"Wir wollen Schutzmasken, bekommen aber keine. Und wir wollen eine ärztliche Untersuchung mit einem Test, um Klarheit zu bekommen, damit die gesunden Leute wieder normal rausgehen können", zitiert das Nachrichtenportal den Bewohner. Die medizinische Versorgung sei dürftig. Die Anspannung und Angst, vor allem bei Familien mit Kindern, sei sehr groß. "Wir versuchen ruhig zu bleiben, aber ob das alle so sehen, wenn wir hier noch länger eingesperrt sind?"




Als die Situation zu eskalieren drohte, beorderte das Gesundheitsamt die Polizei zur Unterkunft. Etwa 200 Beamte, viele von ihnen in weißen Ganzkörperschutzanzügen, liefen vor der Flüchtlingsunterkunft auf. Darunter auch Spezialkräfte des Landeskriminalamtes. Ein Wasserwerfer und ein Räumpanzer fuhren vor. Weil nach Angaben der Polizei die Gefahr bestand, die Einrichtung könnte in Brand gesetzt werden, hielt sich die Feuerwehr bereit.



Nach Angaben der Polizei Suhl wurden 22 Personen "gemäß den Regelungen zur Unterbringung von Asylsuchenden unter Beibehaltung der Quarantänemaßnahmen" in die leerstehende ehemalige Jugendarrestanstalt in Arnstadt verlegt. Die Männer hätten sich in den vergangenen Tagen "in grober Weise" den getroffenen Quarantäneanordnungen widersetzt.

"Wichtig ist: Man muss die Bewohner ausreichend aufklären", erklärt Oliver Razum von der Universität Bielefeld. Seit mehreren Jahren erforscht er, wie Geflüchtete in Deutschland medizinisch versorgt werden. "Sie müssen verstehen, warum bestimmte Einschränkungen in diesem Moment notwendig sind." Denn viele von ihnen seien während der Flucht in geschlossenen Lagern festgehalten worden. "Wenn sie Angst haben, wieder eingesperrt zu werden, verfallen sie möglicherweise in Panik. Dann kann es schnell zu solchen Situationen kommen."

Auf einem Tisch liegen Konserven, Brotaufstriche und eine Scheibe Toast.

Quarantäne-Kost: Kombinierte Abendbrot- und Frühstücksration.

 

Soldaten zur Sicherung angefragt



Nach Angaben von inSüdthüringen.de  blieben während der Quarantäne Polizeibeamte vor Ort, die den Zaun um das weitläufige Gelände sicherten und nachts ausleuchteten.


Derweil stellte das Land Thüringen bei der Bundeswehr einen Antrag auf "Abstellung von Soldaten zum Betrieb zusätzlicher, durch die Quarantäne der Ersthilfeeinrichtung in Suhl notwendig gewordener, provisorischer Erstaufnahmeeinrichtungen".



Der Flüchtlingsrat Thüringen reagierte kritisch auf das Vorgehen der Landesregierung. Dass Hilfe der Bundeswehr angefragt wird, zeuge von "tiefgreifenden Strukturproblemen" in der Suhler Einrichtung. Gegenüber dem MDR erklärte die Bundeswehr, die Anträge der Thüringer Landesregierung seien vom Kommando territoriale Aufgaben in Berlin abgelehnt worden. Die Bundeswehr werde die Durchsetzung der Quarantäne, nicht unterstützen.



Ähnliche Situationen wie in Thüringen könnten sich mit der verschärften Corona-Lage auch bald in anderen Teilen des Landes abspielen.



Von den Ereignissen in Suhl alarmiert, fordern in Bremen Bewohner der dortigen Landeserstaufnahmestelle, ihr Recht auf gesundheitlichen Schutz und eine dezentrale, Unterbringung. Unterstützt werden sie dabei vom Bremer Flüchtlingsrat und dem lokalen Bündnis together we are Bremen. "Wir befürchten, dass die Behörde die Situation eskalieren lässt, bis nur noch die repressive Abriegelung durch Polizei und Security als Lösung erscheint. Das wäre kein Schutz, sondern Freiheitsentzug im Internierungslager. Die Erfahrungen, wie jüngst in Thüringen, zeigen, dass es dabei zu Gewalt gegen die Bewohnerinnen und Bewohner kommt", erklärte Nazanin Ghafouri vom Bremer Flüchtlingsrat.



Acht Betten auf engstem Raum



Die "Lindenstraße", Bremer Landeserstaufnahmestelle für Geflüchtete, liegt am nördlichen Stadtrand, im Stadtteil Vegesack. Rund 600 Menschen leben derzeit in dem fünfstöckigen, ehemaligen Verwaltungsgebäude der früheren Großwerft Bremer Vulkan.

Draußen, auf dem Außengelände in der Lindenstraße, befinden sich ein kleines Fußballfeld, ein Spielplatz für die Kinder und ein paar Sitzbänke. Der Hof wirke zuletzt wie ausgestorben. So beschreibt es Alpha J., einer der Bewohner. Keine tobenden Kinder auf der Rutsche. Keine jungen Männer, die beim Kicken den tristen Lageralltag vergessen. Niemand, der auf den Bänken an der frischen Luft sitzt und die Sonne genießt. Seit einigen Tagen sei alles mit rot-weißem Absperrband abgeriegelt: Schutzmaßnahmen in Zeiten der Corona-Krise.

Drinnen leben die Bewohner nach wie vor auf engem Raum zusammen, in Zimmern mit vier bis acht Betten. Die Fenster in den Schlafzimmern – sofern es welche gibt – lassen sich nicht öffnen, sagt Alpha J. Mangels anderer Aufenthaltsmöglichkeiten säßen die Bewohner in Grüppchen auf ihren Zimmern. Die Kinder, die nicht mehr auf den Spielplatz können, treffen sich im Flur.

Flüchtlingsrat fordert Schließung

Als Konsequenz der Corona-Krise, fordert der Bremer Flüchtlingsrat eine Schließung der Lindenstraße. Ein wirksamer Schutz der Bewohner sei in der Gemeinschaftsunterkunft nicht möglich, schrieb der Flüchtlingsrat in einer Presseerklärung.

Die für die Landeserstaufnahmestelle zuständige Senatsverwaltung versucht indes einer Ausbreitung der Corona-Pandemie im Lager zu trotzen: mit strengen Einlasskontrollen, höheren Reinigungsintervallen und einer veränderten Essensausgabe. Neu ankommende Geflüchtete würden zunächst isoliert untergebracht, bis ein COVID-19-Test mit negativem Befund vorliege, heißt es in der Pressemitteilung.

Die Wirksamkeit der Maßnahmen wird von Alpha J. bezweifelt: "Ich schlafe hier mit vier anderen Personen in einem kleinen Zimmer. Auf circa 15 Quadratmetern, ohne Fenster. Eine Belüftung ist nur über den Flur möglich. Bei der Essensausgabe können wir zwar in der Schlange Abstand halten. Aber am Tisch sitzen wir Ellbogen an Ellbogen. Das Bad und die Toilette teile ich mir mit 15 anderen Personen. Wie sollen wir unter solchen Umständen Abstand halten? Wir machen uns hier alle sehr große Sorgen und haben Angst uns mit dem Corona-Virus anzustecken", erklärt der junge Mann aus Gambia.



Behördlicher Willkür ausgeliefert

Als unhaltbar und gesundheitsgefährdend, bewertet Gundula Oerter vom Bremer Flüchtlingsrat die aktuelle Lage in der Lindenstraße. Die Situation im Lager sei schon vor Ausbruch der Corona-Krise hoch problematisch gewesen, kritisiert sie: Die extreme Enge der Wohnsituation. Die fehlende Privatsphäre in Mehrbettzimmern. Und das Erleben der Bewohner, der Willkür, insbesondere von Securities, ausgeliefert zu sein. All das erzeuge eine hohe psychologische Belastung für die Menschen. Zumal sie oftmals traumatisierende Fluchterfahrungen mit sich tragen würden, berichtet Oerter."Aktuell zeigt sich die Entrechtung durch Massenunterbringung in aller Deutlichkeit. Die beengten Wohnverhältnisse machen einen Gesundheitsschutz der Bewohner in der Corona Krise unmöglich. Sobald sich eine Person im Lager infiziere, ist es kaum zu vermeiden, dass auch ein Großteil der anderen Bewohner in der Lindenstraße sich ansteckt."

Nach Einschätzung des Flüchtlingsrates bietet das Infektionsschutzgesetz die Möglichkeit zur Schließung der Unterkunft. Während der Bremer Innensenator bereits seit dem 20. März weitreichende Auflagen zur Schließung aller Gastronomiebetriebe für den Publikumsverkehr in der freien Hansestadt erlassen hat, laufen die Essensausgabe und Mahlzeiten in der Lindenstraße weiterhin wie in einer Großkantine ab.

Mit der Forderung nach einer Schließung der Unterkunft konfrontiert, verweist Anja Stahmann (Senatorin für Soziales, Jugend, Integration und Sport) auf die Zuständigkeit der Gesundheitsbehörde und des Ordnungsamtes. Rechtlich sei das Land verpflichtet eine Erstaufnahmeeinrichtung zu betreiben, erläutert Bernd Schneider, Pressesprecher der Senatorin, auf Nachfrage.

Für Gundula Oerter vom Flüchtlingsrat ist diese Argumentation nicht nachvollziehbar: "Hier wird mit zweierlei Maß gemessen: Der Mehrheitsbevölkerung wird das Recht auf Schutz vor Corona gewährt – den Menschen in der Lindenstraße werden diese Rechte verweigert. Bremen unterläuft in der Einrichtung seine eigenen Regeln."



Evakuierung von Risikogruppen

Derweil wurde angeordnet, die Essenszeiten in der Unterkunft zu entzerren, Reinigungsintervalle zu verdoppeln und Türklinken, Handläufe, Tische und Stühle fortlaufend zu desinfizieren, um die Bewohner zu schützen. Gleichzeitig versuche die Senatsverwaltung die Belegungsdichte in der Einrichtung zu reduzieren, sagt Bernd Schneider. Rund 30 Menschen, die nach Einschätzung des Robert Koch Instituts ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf tragen, wurden bereits aus dem Lager evakuiert. Dem Pressesprecher zufolge seien weitere Umzüge eingeleitet worden. "Die Behörde und der Träger treffen alle Maßnahmen, die zum Schutz der Bewohnerinnen und Bewohner erforderlich sind. Dabei fließen aktuelle Entwicklungen und Erkenntnisse stets in Entscheidungen ein", erläutert Schneider die aktuelle Lage in Bremen.

Fünf Männer mit selbstgeschriebenen Transparenten stehen vor einem Zaun.

Angst vor Ansteckung: Kundgebung von Bewohnern der Aufnahmeeinrichtung in Bremen.

 

Protest von Geflüchteten 

Die Bewohner der Lindenstraße jedoch scheinen nicht davon überzeugt zu sein, dass diese Maßnahmen ausreichen. "Shut down Lindenstraße. Protect us from Covid-19", "Safe the children, women and the youths" und "Social distancing is not possible here", steht auf ihren handegemalten Transparenten, als sich zehn von ihnen zu einer kleinen Kundgebung auf dem Parkplatz vor der Einrichtung versammeln.

Die bereits erteilte Genehmigung für eine größere Demonstration mit 50 Personen hatte das Bremer Ordnungsamt überraschend zurückgezogen: "Die von Ihnen angemeldete Teilnehmerzahl von 50 Personen stellt bei der tatsächlichen Zusammenkunft der Teilnehmenden über einen Zeitraum von ca. 1 Stunde ein sehr hohes Infektionsrisiko für jeden Einzelnen dar", heißt es in der Erklärung.

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