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Eine verwundete Stadt: Halle nach dem Anschlag
Gedenkkränze an der Synagoge in Halle nach dem Anschlag vom 9. Oktober 2019
© Frieder Heitmann
+++ Wenige Wochen nach dem Anschlag in Halle recherchierten der Journalist Paul Hildebrandt und der Fotograf Frieder Heitmann vor Ort. In ihrer am 6. Dezember 2019 veröffentlichten Multimedia-Reportage hielten sie ihre Eindrücke fest. +++
Fast zwei Monate nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle kommt die Stadt nicht zur Ruhe. Das Attentat hat tiefe Gräben sichtbar gemacht. Wie weiter, Halle?
Es ist der 9. Oktober 2019, der die Stadt Halle für immer verändern wird. Während die jüdische Gemeinde den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur begeht, steigt nur wenige Meter von der Synagoge entfernt ein junger Mann aus seinem Mietwagen, um zu töten. Der 27 Jahre alte Stephan B. ist Antisemit, er will die Menschen in der Synagoge umbringen. Mit einem selbst gebauten Gewehr schießt er mehrfach in die Synagogen-Tür um sie zu öffnen. Als er daran scheitert, tötet er zuerst eine Passantin, dann fährt er weiter zu einem nahe gelegenen Döner-Imbiss und erschießt dort einen jungen Bauarbeiter. Es ist ein Anschlag, der weltweit für Entsetzen sorgt. Hätte die Tür der Synagoge nicht gehalten und wären die Waffen des Attentäters nicht so stümperhaft gebaut gewesen – es wären an diesem Tag noch mehr Menschen gestorben.
Einschussloch im Fenster des "Kiez-Döner" in Halle. Bei dem rechtsextremen Terroranschlag am 9. Oktober 2019 wurde unter anderem ein Gast des Ladens erschossen.
© Frieder Heitmann
Der Anschlag erschüttert die Stadt tief im Inneren, denn er zeigt: Für viele Menschen ist Deutschland kein sicheres Land. Und er macht die Gräben in der Gesellschaft sichtbar: zwischen "wir" und "ihr", Mehrheit und Minderheit. Noch Wochen danach ringt die Stadt deshalb mit der Frage: Wie soll es nun weitergehen?
Der Versöhner
Rund sechs Wochen nach dem Anschlag steht Izzet Cagac vor dem Kiez-Döner und zieht an einer Zigarette. Sein Gesicht wirkt blass, die Augen schauen müde. Der 41 Jahre alte Mann ist der Besitzer des "Kiez-Döner", in dem der junge Mann erschossen wurde. Er ist an jenem 9. Oktober in Istanbul gewesen, nur wenige Minuten nach dem Anschlag erreichten ihn die Videos auf dem Handy. Er sagt, seit dem Tag sei sein Leben nicht mehr dasselbe.
Izzet Cagac, ehemaliger Besitzer des "Kiez-Döner" in Halle
© Frieder Heitmann
Cagac lebt seit zwanzig Jahren in Halle, vor zehn Jahren hatte er seinen ersten Laden eröffnet, heute gehören ihm vier Geschäfte in der Innenstadt. Im Kiez-Döner hat er eine Gedenkecke für den Ermordeten Kevin S. errichtet, mit Schals und Trikots. Er ist Fan gewesen vom "Hallescher FC". Außerdem schloss Cagac den Laden nach islamischem Brauch für 40 Tage als Zeichen der Trauer. Kurz vor der Wiedereröffnung verkündete er schließlich, den Imbiss seinen Mitarbeitern schenken zu wollen. Es sind die verzweifelten Versuche, Zeichen der Versöhnung zu setzen.
Ein Einzeltäter?
Wenige Stunden nach der Tat durchsuchte die Polizei das Zimmer des Attentäters Stephan B. und drang ein in das Leben eines Mannes, das im Internet stattfand. In Chat-Rooms hatte er über eine "jüdische Weltverschwörung" geschrieben, seine Taten übertrug er live ins Netz. Immer wieder behaupten Politiker, der Mann sei nur ein verwirrter Einzeltäter gewesen. Doch die Polizeistatistiken in Sachsen-Anhalt zeichnen ein anderes Bild.
Naziplakate am Haus der Identitären Bewegung
© Frieder Heitmann
Die Radikalisierung des Attentäters erfolgte in einem gesellschaftlichen Klima, das weit nach rechts gerückt ist. In den Jahren zwischen 2014 und 2018 wurden in Sachsen-Anhalt 234 antisemitisch- und 1951 fremdenfeindlich motivierte Straften registriert. Die Dunkelziffer liegt vermutlich deutlich höher, denn viele Straftaten werden nie zur Anzeige gebracht. Seit einigen Jahren sammelt die mobile Opferberatung in Halle solche Fälle. Die Liste zeigt: Rassistische Übergriffe gehören zum Alltag vieler Menschen in Sachsen-Anhalt.
Da sind die beiden syrischen Männer, die in der Nacht vom 01. Juni 2019 in Halle von mehreren Männern verprügelt und mit Messern bedroht werden.
Da ist der Mann, der am 24. April 2019 von zwei Unbekannten in Salzwedel zuerst rassistisch beleidigt und dem anschließend das Nasenbein gebrochen wird.
Da ist der 15-jährige Schüler, vor dem am 18. April 2019 zwei Männer auftauchen, "Sieg Heil" schreien und ihm dann mit der flachen Hand ins Gesicht schlagen.
Von der Polizei erfasste politisch rechts motivierte Straftaten in Sachsen-Anhalt:
Grafik: Paul Hildebrandt | Quelle: Innenministerium Sachsen-Anhalt
Die größte Initiative gegen Rechtsextremismus in Halle nennt sich "Halle gegen Rechts". Vor neun Jahren hatte sich ein breites Bündnis aus Gruppen und Einzelpersonen zusammengeschlossen, um gemeinsam gegen Neonazi-Aufmärsche zu demonstrieren. Heute beschäftigt sich das Bündnis vor allem mit der rechtsextremen Identitären Bewegung, die sich die Stadt Halle als eine Art Zentrum ausgesucht hat. Seit einigen Jahren betreibt sie ein Hausprojekt direkt am Uni-Campus.
Das Haus der Identitären Bewegung in Halle
© Frieder Heitman
Als am 20. Juli dieses Jahres die Identitäre Bewegung durch die Innenstadt von Halle marschieren will, stellen sich ihnen tausende Demonstranten in den Weg. Eine von ihnen ist Katharina Hindelang. Sie vertritt als Sprecherin "Halle gegen Rechts". Die 28-Jährige sagt, die Gegendemonstration sei ein wichtiges Zeichen gewesen, denn mit dem Erstarken der AfD gerate das Engagement gegen Rechts immer stärker unter Druck.
Gehen oder bleiben
Am 9. November veröffentlicht die Süddeutsche Zeitung ein Interview mit Max Privorozki, dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Halle. Es schlägt gewaltige Wellen. In dem Interview sagt Privorozki: Er könne sich vorstellen nach Israel auszuwandern, in Deutschland fühle er sich nicht mehr sicher. Daraufhin beginnt die Wut. Hunderte Nutzer beschimpfen Privorozki in den sozialen Netzwerken. Die Facebook-Seite der Mitteldeutschen Zeitung, dem wichtigsten Lokalmedium in Halle, wird innerhalb kürzester Zeit mit antisemitischen Kommentaren überschwemmt.
Solidaritäts-Wimpel im Paulusviertel
© Frieder Heitmann
Nach dem Anschlag hatten sich viele Menschen in Halle mit den Opfern des Anschlags solidarisiert. Der MDR und die Mitteldeutsche Zeitung veranstalteten noch im Oktober ein großes Konzert, zu dem etwa 16.000 Menschen kamen. Im Paulus-Viertel, in dem auch die Synagoge liegt, haben Anwohner Wimpelketten und große Banner über die Straßen gespannt, bis heute legen Menschen Blumenkränze und Gedenktafeln vor den Eingang der Synagoge ab. Aber reicht das?
Die Synagoge in Halle
© Frieder Heitmann
Am 13. November veröffentlicht das ZDF ein kurzes Video im Internet. Darin sieht man den AfD-Stadtrat Donatus Schmidt, der behauptet, Juden seien vor dem Anschlag auf das World-Trade-Center gewarnt worden. Er sagt: "Man muss nur sehen, woher kommt das Geld?" Es sind dieselben antisemitischen Verschwörungstheorien, denen auch der Attentäter anhing. Der Antisemitismus ist tief in der Gesellschaft verankert. Was bedeutet das für jüdische Menschen in Deutschland?
Deutsch und jüdisch
Der 28 Jahre alte Igor Matvyiets trägt seine Kippa selten in der Öffentlichkeit, er habe ein mulmiges Gefühl dabei. Vor einigen Jahren ist er zum Studieren nach Halle gekommen, er würde gerne dortbleiben. Er sagt: "Ich mag die Stadt sehr." Aber er sagt auch: Sicher fühle er sich nicht. Mehrfach hatte die jüdische Gemeinde vor dem Anschlag um Polizeischutz gebeten, passiert ist nie etwas.
Igor Matvyiets, Mitglied der jüdischen Gemeinde
© Frieder Heitmann
Einmal im Jahr hilft Matviyets bei der Organisation der jüdischen Kulturtage. Über mehrere Wochen hinweg veranstalten er und die anderen Freiwilligen Klezmer-Konzerte und Tanz-Abende. Damit wollen sie jüdische Kultur in Halle präsent halten. Matvyiets glaubt, dort wo jüdisches Leben verschwindet, wächst auch der Antisemitismus.
Ende November schreibt der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Max Privorozki in einer E-Mail: "Nach dem Anschlag gab es eine unvorstellbare Solidaritätswelle – nicht nur von Politikern sondern von ganz einfachen unbekannten Menschen die keine Pflicht haben sich zu positionieren. Diese Welle macht mir wirklich Hoffnung."
Und dann ergänzt er: "Was darf nicht passieren, dass in zehn Jahren jüdische Feste in Halle nicht gefeiert werden? Es darf nicht so weiter gehen wie jetzt. Die Politik muss radikal geändert werden."
Jüdische Kultur in Halle: Klezmer-Tanzabend im November 2019
© Frieder Heitmann