Amnesty Journal Deutschland 16. September 2021

Raus aus der Opferrolle

Eine junge Frau mit langem Haar sitzt an einem Tisch und stützt ihr Kinn auf ihre linke Hand und blickt in die Kamera.

Sinti_zze und Rom_nja werden in Deutschland oft ­diskriminiert. Manchmal geschieht das aus Unwissenheit. Betroffene wehren sich und wirken uralten Klischees ­entgegen.

Von Lea De Gregorio

Das Telefon von Amaro Foro e. V. klingelt immer wieder. Die Mitarbeiter_innen des Berliner Vereins, Rom_nja und Nicht-Rom_nja, haben viel zu tun. Sie bieten Empowermentprojekte für Jugendliche an und beraten neu zugewanderte EU-Bür­ger_in­nen aus Bulgarien und Rumänien. Auf einem Flip-Chart, der im Neuköllner Büro des Vereins vor einer Wand mit Rom_nja-Flagge steht, geht es um Antiziganismus in der Schul- und Bildungsarbeit. Amaro Foro kämpft für Teilhabe und Chancengleichheit – und gegen Rassismus.

"Uns ist aufgefallen, welch massive Diskriminierungserfahrungen unsere Klientinnen und Klienten machen", sagt Presse­sprecherin Andrea Wierich. Sie erleben auch in Deutschland Vorurteile und Ausgrenzung. Die zweite Vorsitzende, Violeta ­Balog, sagt: "Eines der klassischen und meistbekannten Klischees ist, dass Rom_nja betteln oder klauen, dass sie arbeitsscheu sind und dass sie ihre Kinder nicht in die Schule schicken."

Dunkelziffer ist groß

Dass Klischees zu Beleidigungen und körperlichen Übergriffen führen, zeigt die Dokumentationsstelle Antiziganismus (DOSTA), die Amaro Foro 2014 gegründet hat. 699 antiziganistische Vorfälle erfasste sie in Berlin in den ersten fünf Jahren. Es werden nicht alle Vorfälle gemeldet, die Dunkelziffer ist groß. Balog moniert, dass Antiziganismus oft nicht wahrgenommen oder aber ignoriert werde: "Wenn irgendwo ein antiziganistischer Vorfall passiert, wird sich nicht einmal darüber empört."

2019 setzte die Bundesregierung die Unabhängige Kommission Antiziganismus ein. Im Juni dieses Jahres präsentierte sie ihre Ergebnisse. Die Soziologin und Romni Elizabeta Jonuz ist Sprecherin der Kommission. "74 Jahre nach der Befreiung von den Nationalsozialist_innen wurde eine Kommission Antiziganismus einberufen: nach 74 Jahren", sagt sie empört.

Eine Frau mit schulterlangem Haar, in das sie ihre Brille hochgesteckt hat, steht vor einer Wand, trägt eine Jacke und Umhängetasche, hält Unterlagen und eine Tasse in den Händen.

Wehrt sich gegen Diskriminierung: Elizabeta Jonuz, Sprecherin der Unabhängigen Kommission Antiziganismus.

Jonuz braucht einen langen Atem, um aufzulisten, wo sich Diskriminierung heute noch findet: "Antiziganismus bzw. ­Rassismus gegen Sinti_zze und Rom_nja zeigt sich für die Betroffenen im Alltag, in der Nachbarschaft, beim Einkaufen, beim Nutzen öffentlicher Verkehrsmittel, in der Schule, in der Ausbildung, an Universitäten, im Arbeitsleben, in Behörden, durch die Polizei, durch die soziale Arbeit, im Gesundheitsbereich, in den sozialen Medien und der Medienberichterstattung." Kurz: überall.

Bis heute werden immer wieder kollektiv Sinti_zze und Rom_nja verdächtigt – wie etwa nach dem Mord an Michèle ­Kiesewetter 2007 in Heilbronn, der vom NSU begangen wurde. Struktureller polizeilicher Antiziganismus ist ein jahrhundertealtes und zugleich aktuelles Problem: In der polizeilichen Kriminalstatistik Berlins von 2017 wurden Sinti_zze und Rom_nja ­verfassungswidrig als einzige ethnische Minderheit hervor­gehoben.

"Negative und positive Klischees"

Es gebe "sowohl negative als auch romantisierende, positive ­Klischees", sagt Balog. Beide seien rassistisch. Unter "positive Klischees" fällt etwa die Vorstellung, dass Sinti_zze und Rom_nja ständig auf der Reise seien, musizierten, "im Zirkus­wagen durch die Gegend ziehen", sagt Wierich. Mehr als 90 ­Prozent der europäischen Sinti_zze und Rom_nja seien jedoch sesshaft. Sie lebten seit mehr als 600 Jahren in Deutschland, viele von ihnen seien seit Generationen am selben Ort. Der ­Rassismus sei schlicht eine Projektion der Mehrheitsgesellschaft.

Und er hat eine lange Geschichte. "Antiziganismus lässt sich in historischen Analysen bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen und hat sich bis heute tradiert", sagt Jonuz. Dass Vorurteile in der gesamten Gesellschaft verbreitet sind, zeigt zum Beispiel die Leipziger Autoritarismus-Studie aus dem Jahr 2020: 41,9 Prozent der befragten Deutschen gaben an, dass sie Probleme damit hätten, wenn sich Sinti_zze und Rom_nja in ihrer Gegend aufhalten.

Während des Zweiten Weltkriegs wurden in Europa etwa 500.000 Sinti_zze und Rom_nja von Nationalsozialist_innen ermordet. Porrajmos wird der Völkermord auf Romanes genannt. Was viele nicht wissen: Die Nationalsozialist_innen stellten auf Sammelplätzen Wohnwagen für die Minderheit auf. "Sinti_zze und Rom_nja wurden aus ihren Häusern geholt und darin untergebracht", sagt Jonuz. So viel zum "romantischen Klischee".

Antiziganismus habe wie alle Formen von Rassismus mit Macht- und Gewaltverhältnissen zu tun, ist sich Jonuz sicher. Darum würden sich Klischees bis heute halten und antiziganistische Vorfälle so oft ignoriert. "Die Dominanzgesellschaft bzw. die Dominanzkultur erhält durch Antiziganismus eine eigene Aufwertung, in dem Sinne, dass sie höherwertiger sei." Die Kommission Antiziganismus kommt zu dem Schluss, dass die Auswirkungen des Völkermords bis heute andauern.

Doch das wollen viele nicht sehen. "Es wird gesagt, es läge an ihrer in Anführungsstrichen ethnischen Herkunft oder es läge an ihrer in Anführungsstrichen Kultur, dass Sinti_zze und Rom_nja so sind, wie sie sind, und dass ihre prekäre soziale Lage selbst verschuldet ist", sagt Jonuz.

Der Nationalsozialismus und die Folgen

Wenn unter Obdachlosen oder bettelnden Menschen Rom_nja sind, gebe man ihnen die Schuld, sagen auch Wierich und Balog. Ein Grund sei häufig jedoch die Diskriminierungserfahrung, etwa bei der Wohnungssuche oder auf dem Arbeitsmarkt. Ähnliches zeigt sich bei der Schulbildung: Jonuz erklärt, dass Sinti_zze und Rom_nja in Deutschland von Lehrer_innen überproportional oft auf Sonderschulen oder Förderschulen geschickt würden – ohne dass entsprechende Gutachten vorlägen.

Außerdem habe das Schulverbot der Nationalsozialist_innen bis heute Spuren hinterlassen. "Insbesondere bei den deutschen Sinti und Sintezze gab es während des Nationalsozialismus einen Runderlass, der besagte, dass Z-Kinder, die eine Gefahr für deutsche Mitschüler_innen bedeuteten, ein Schulverbot bekamen." Die Folgen bekommen die Nachfolgegenerationen immer noch zu spüren.

Antiziganismus lässt sich bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen.

Elizabeta
Jonuz
Sprecherin der Unabhängigen Kommission Antiziganismus

Doch es hat sich etwas getan. Jonuz hat Bildungsbiografien von Romnja und Sintizze in Deutschland erforscht und berichtet von Lichtblicken: zum Beispiel von Frauen, die sich über Diskriminierung hinwegsetzten und Rechtsanwältinnen, Lehrerinnen, Medizinerinnen, Philologinnen, Künstlerinnen wurden. Sinti_zze und Rom_nja sind in allen Bereichen der Gesellschaft zu finden, auch wenn sie oft nicht wahrgenommen werden.

Sie selbst habe sich lange nicht öffentlich zu ihrer Romni-Identität bekannt, erzählt Jonuz. Ihre Eltern hätten gesagt: "Sage nicht, dass du Romni bist, sage lieber: Du hast einen jugoslawischen Pass, also bist du Jugoslawin." Aber auch ihr Migrationshintergrund habe ihr den Weg hin zu der Professur, die sie heute hat, nicht einfach gemacht.

"Wenn in den Medien von bettelnden Rom_nja gesprochen wird oder sie als kriminelle Clans dargestellt werden, wollen Jugendliche sich damit nicht identifizieren", sagt auch Balog von Amaro Foro. Mit seinen Projekten stärkt der Verein deren Identität. Amaro Foro hat außerdem ein Modellprojekt gestartet, um Medienschaffende für Antiziganismus zu sensibilisieren.

Die Darstellung der Minderheit in der Öffentlichkeit beschäftigt auch den neugegründeten Studierendenverband der Sinti und Roma in Deutschland. Als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft wahrgenommen zu werden, darauf arbeitet Gründerin Dotschy Reinhardt hin. Reinhardt ist Sintezza, Sängerin und Schriftstellerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Dokumentationszentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg.

Auch wenn Antiziganismus verbreitet sei, stört es sie, dass Sinti_zze und Rom_nja oft nur als Opfer gesehen werden. "Wer sich als Opfer sieht oder empfindet, wird handlungsunfähig." Mit dem Studierendenverband möchte sie ein anderes Bild schaffen: "Einige unserer Mitglieder haben sehr erfolgreich ­ihren Platz in Deutschland gefunden und sich behauptet. Und mit diesen Beispielen wollen wir nach außen gehen."

Die große Vielfalt

Reinhardt hat eine klare Einstellung: "Aus der Bürgerrechts­bewegung Deutscher Sinti und Roma ist eine selbstbewusste ­Generation herangewachsen, die sich politisch einbringen möchte und sich gegen Diskriminierung einsetzt." Jonuz sagt: "Die Nationalsozialist_innen haben die Elite der Sinti_zze und Rom_nja in Europa getötet." Fast 90 Prozent der in Deutschland lebenden Sinti_zze und Rom_nja wurden umgebracht. "Bis eine Nachfolgegeneration heranwächst, dauert das mindestens drei Generationen." Mit Blick auf den Studierendenverband erklärt sie: "Das ist jetzt der Fall. Das sind die Aufsteiger_innen."

Reinhardt weist auf die Heterogenität von Sinti_zze und Rom_nja hin. Sie betont, dass Sinti_zze, die seit 600 Jahren in Deutschland ansässig sind, eine andere Geschichte haben als Rom_nja-Familien, die erst im vergangenen Jahrhundert als Gastarbeiter_innen nach Deutschland kamen. Dennoch werden sie als Minderheit zusammengefasst. "Die eine Sinti und Roma-Community in Deutschland gibt es gar nicht. Es gibt verschiedene Gruppen innerhalb dieser Gruppe, wie in der Mehrheitsgesellschaft übrigens auch."

Auch Francesco Arman, ebenfalls Gründer des Studierendenvereins, Student der Kulturwissenschaften, Erzieher, deutscher Sinto und Stadtrat der Linken in Gießen, betont die Vielfalt. Dennoch möchte der Verband alle zusammenzubringen. "Es geht nicht darum, Unterschiede festzumachen, sondern sich der Diversität bewusst zu sein, vereint im Kampf gegen Antiziganismus."

Auch Arman will nicht in der Opferposition verharren: "Es sollte nicht der Anschein erweckt werden, dass alle Sinti_zze und Rom_nja den ganzen Tag nur diskriminiert werden." Die Diskriminierung, die er erlebe, basiere oft auf fehlendem Wissen. Er erzählt von Menschen, die ihm nicht geglaubt hätten, dass er Sinto sei. "Weil sie gesagt haben: Die Sinti_zze und Rom_nja, die ich kenne, betteln alle auf der Straße." Dieser ­Unwissenheit möchte er entgegenwirken.

Lea De Gregorio ist Redakteurin des Amnesty Journals. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

HINTERGRUND

Sinti_zze und Rom_nja, eine heterogene Minderheit

Dass sich der Begriff Sinti_zze und Rom_nja gegenüber dem ­rassistischen Z-Wort durchgesetzt hat, war ein Ziel der Bürgerrechtsbewegung der 1970er Jahre in Deutschland. Außerhalb von Deutschland wird der Begriff Rom_nja oft als Bezeichnung für Sinti_zze und Rom_nja verwendet. Der Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma gibt an, dass Sinti bzw. Sintizze diejenigen meint, die seit dem ausgehenden Mittelalter in Mitteleuropa beheimatet sind. Als Roma oder Romnja bezeichnen sich jene, die eine ost- bzw. süd-osteuropäische Herkunft haben. Sinti_zze und Rom_nja bilden die größte Minderheit in ganz Europa. Die Minderheit ist extrem heterogen. Was sie verbindet, ist neben der geteilten Genozid- und Diskriminierungserfahrung die Sprache Romanes, die mit dem ­altindischen Sanskrit verwandt ist, jedoch von verschiedenen Landessprachen geprägt wurde, weshalb unterschiedliche Formen existieren. Wissenschaftler_innen gehen davon aus, dass die Ursprünge der Sinti_zze und Rom_nja in Indien liegen, wo vor 1.500 Jahren die Auswanderung begonnen hat.

Antiziganismus – ein umstrittener Begriff

Einige Organisationen verwenden den Begriff Antiziganismus bewusst nicht, weil er das rassistische Z-Wort enthält – eine Fremdbezeichnung, die die meisten Sinti_zze und Rom_nja ­ablehnen. Andere sprechen von Antiromaismus. Doch auch ­gegen diesen Begriff gibt es Einwände. "Wir finden, ein Begriff wie Antiromaismus suggeriert, dass es um Rom_nja geht, und deshalb wollen wir den Begriff nicht verwenden", sagt etwa ­Andrea Wierich von Amaro Foro. Auch andere Vereine nutzen den Begriff Antiziganismus, um auszudrücken, dass es um Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft geht. "Ähnlich wie bei dem Begriff Rassismus, der sich auf die Dominanzgesellschaft bezieht, beziehe ich den Begriff Antiziganismus auch auf die ­Dominanzgesellschaft, denn es gibt keine Zs", sagt die Wissenschaftlerin Elizabeta Jonuz. Sie spricht neben Antiziganismus ­jedoch auch von "Diskriminierung gegen Sinti_zze und Rom_nja". Francesco Arman vom Studierendenverband sieht auch diesen Begriff kritisch da antiziganistische Klischees auch die ethnische Gruppe der Jenischen treffen könnten. Den Begriff Antiziganismus verwendet er, um auszudrücken, dass verschiedene Gruppen unter dem Stigma "Z" zusammengefasst werden. Und Wierich betont, dass auch Rumän_innen häufig antiziganistisch beleidigt werden, die sich selbst nicht als Roma oder Romnja betrachten, aber von anderen für Angehörige der Minderheit gehalten ­werden.

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