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"Eine Gemeinschaft unter Generalverdacht"
Die CLAIM-Allianz vernetzt zivilgesellschaftliche Akteur*innen gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit in Deutschland. Leiterin Rima Hanano über antimuslimischen Rassismus, Migrationsdebatten und Sensibilisierung in Behörden.
Interview: Hannah El-Hitami
Muslimfeindlichkeit und antimuslimischer Rassismus – was verbirgt sich hinter den Begriffen?
Islam- und Muslimfeindlichkeit bezeichnen Stereotype auf individueller Ebene. Wir arbeiten mit dem Begriff antimuslimischer Rassismus, weil wir einen ganzheitlichen Begriff brauchen, der auch Strukturen, Normen und Gesetze betrachtet. Grundsätzlich funktioniert antimuslimischer Rassismus, wie jeder andere Rassismus auch, als Ideologie, die Menschen hierarchisiert. Betroffen sind Muslim*innen und Menschen, die wegen ihrer Sprache, Haarfarbe oder Kleidung als solche wahrgenommen werden. Sie werden aufgrund äußerlicher Merkmale zu einer vermeintlich homogenen Gruppe zugeordnet und diese wird abgewertet. Zum Beispiel, wenn Muslim*innen als besonders religiös, besonders gewalttätig oder besonders rückständig bezeichnet werden.
Wie äußert sich das in der Praxis?
Im Juli 2023 haben wir das erste Lagebild zu antimuslimischem Rassismus in Deutschland veröffentlicht. Da hat sich gezeigt, dass zum Beispiel Kinder in der Schule besonders sanktioniert werden, wenn sie muslimisch sind oder so wahrgenommen werden. Wir haben Fälle, wo Menschen aufgrund ihres vermeintlich oder tatsächlich muslimischen Namens eine Wohnung nicht bekommen oder im Beruf diskriminiert werden. Es gibt verbale Attacken auf der Straße, wo Menschen mit Terrorismus gleichgesetzt werden. Betroffen sind vor allem Frauen mit Kopftuch, häufig auch im Beisein ihrer Kinder. Auch religiöse Einrichtungen werden gezielt angegriffen, und online gibt es sehr viel Hass.
Wer steckt hinter antimuslimischen Einstellungen?
Antimuslimischer Rassismus kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Studien zeigen, dass die Gesamtgesellschaft erkennt, dass es Rassismus gibt, und dass Menschen auch bereit sind, sich dagegen zu engagieren. Aber antimuslimischer Rassismus wird weitaus weniger erkannt als andere Rassismen. Da braucht es noch viel mehr Aufklärung. Stattdessen tragen öffentliche Debatten zur Legitimierung bei – genauso wie zu anderen Rassismen und zu Antisemitismus (siehe auch "Das Massaker am 7. Oktober markiert einen tiefen Einschnitt", Amnesty Journal 01/2024). Sie liefern den Boden für Übergriffe.
Was sind das für Debatten?
Wenn wir mediale Debatten über Muslim*innen betrachten, fällt auf, dass über sie vor allem im Zusammenhang mit Terror oder Radikalisierung berichtet wird. In Debatten um das Kopftuch ging es um Unterdrückung. Solche Diskussionen führen dazu, dass Muslim*innen vor allem als Sicherheitsproblem angesehen werden und nicht als Bereicherung. Letztes Jahr hat der Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit gezeigt, dass jede zweite Person in Deutschland muslimfeindlichen Aussagen zustimmt.
Manche würden argumentieren, das sei Islamkritik – andere Religionen dürfe man auch kritisieren. Wo ist die Grenze?
In einer idealen Welt ist Kritik konstruktiv und differenziert, nicht pauschalisierend. Wenn ich eine religiöse Überzeugung oder Praktik ablehne, ist das mein gutes Recht. Kritik zu üben genauso. Problematisch wird es, wenn ich die Kritik mit Vorurteilen und antimuslimischen Stereotypen verknüpfe und ein Pauschalurteil über eine Gruppe fälle. Da verschwimmen häufig die Grenzen zwischen Kritik und Islamfeindlichkeit.
Seit wann gibt es antimuslimischen Rassismus in Deutschland?
Antimuslimische Motive sind bis ins 15. Jahrhundert zurückzuverfolgen, als Christ*innen sowohl Muslim*innen als auch Jüd*innen zu "den Anderen" erklärten. Das ist historisch tradiert und gewachsen. In der jüngeren Vergangenheit gab es Momente, wo antimuslimische Narrative stärker wurden. Der 11. September 2001 ist so ein Datum und nun der 7. Oktober 2023 mit dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel. Viele Menschen aus der Zivilgesellschaft, die sich gegen Rassismus und Antisemitismus engagieren, fühlen sich dadurch sehr zurückgeworfen.
Was haben Sie seit dem 7. Oktober beobachtet?
Jüdische und muslimische Menschen werden pauschal für die Geschehnisse in Israel und Gaza verantwortlich gemacht. Rassistische und antimuslimische Debatten haben ein Zwei-Lager-Denken reproduziert. Gleichzeitig sind Migrationsdebatten wieder aufgeflammt: darüber, wer zum deutschen "Wir" dazugehören darf, und an welche Bedingungen das geknüpft wird. All das wurde benutzt, um antimuslimische Stereotype zu legitimieren. Damit wurde dann wiederum Wahlkampf gemacht. Bei Betroffenen führt das dazu, dass sie ihr Vertrauen in die Institutionen verlieren, weil der Staat seiner Fürsorgepflicht nicht nachkommt. Der Schutz von Minderheiten ist nicht an Bedingungen geknüpft.
Rima Hanano ist Gründungsmitglied und seit 2021 Leiterin von CLAIM.
© Holger Talinski
Welche Folgen hatten der 7. Oktober und Israels Krieg in Gaza?
In kurzer Zeit gab es überdurchschnittlich viele Fälle von Diskriminierung und Angriffen. Menschen wurden auf der Straße als Terroristen beschimpft. Muslimische Kinder wurden in der Schule dazu genötigt, sich zur Hamas zu positionieren. Moscheen erhielten Drohschreiben. Dann gab es noch die pauschalen Verbote von Demonstrationen. Da hat man eine ganze Gemeinschaft mit einem Antisemitismusvorwurf belegt und unter Generalverdacht gestellt. Ganz abgesehen davon wurden noch Grund- und Freiheitsrechte eingeschränkt (siehe auch "Unmittelbare Demokratie", Amnesty Journal 01/24). Natürlich sind Terrorverherrlichung und Antisemitismus keine Meinung, und wenn jüdische Menschen oder Einrichtungen angegriffen werden, ist das überhaupt nicht hinnehmbar. Aber das Problem auf eine vermeintlich homogene Gruppe zu schieben, hat bisher zu keiner Lösung geführt und wird es auch in Zukunft nicht.
Werden hier Minderheiten gegeneinander ausgespielt?
Ich glaube, dieses Land hat noch nicht gelernt, Probleme ohne Opferhierarchien zu benennen und zu verstehen, dass es notwendig ist, Rassismus und Antisemitismus ganzheitlich zu betrachten. Wir wissen, dass da, wo Antisemitismus erstarkt, auch antimuslimischer Rassismus erstarkt, und umgekehrt.
Was muss die Bundesregierung tun, um antimuslimischen Rassismus anzugehen?
In Verwaltung und Behörden ist Sensibilisierung dringend notwendig. Das schließt auch Sicherheitsbehörden, Polizei und Justiz ein. Mangelnde Expertise führt oft dazu, dass Minderheiten nicht ausreichend geschützt werden, weil antimuslimischer Rassismus beispielsweise gar nicht erkannt wird. Weiche Maßnahmen reichen aber nicht aus, sie müssen von Gesetzen flankiert werden. Eine Sensibilisierung der Polizei bringt nur etwas, wenn ich Beschwerde- und Überprüfungsmechanismen einführe.
Gibt es positive Entwicklungen?
Junge betroffene Menschen sind heute weniger bereit, Rassismus zu akzeptieren. Da gibt es große Unterschiede zwischen den Generationen. Ich finde es auch ermutigend, dass jetzt so viele Menschen auf die Straße gehen. Es gibt also schon einen gewissen Konsens gegen Rechtsextremismus. Aber wenn ich mir die Wahlumfragen anschaue, habe ich kein positives Bild. Noch mehr besorgt mich, dass rechte Positionen durch alle Parteien normalisiert werden. Dabei sind Rassismus und Antisemitismus Wasser auf die Mühlen der Rechten. Da braucht es eine stärkere Reflektion der eigenen Rassismen. Als Zivilgesellschaft müssen wir jetzt enger zusammenrücken. Von einem Rechtsruck wären sehr viele unterschiedliche Menschen betroffen. Wir brauchen mehr Allianzen, damit wir mehr Gehör finden.
Rima Hanano, Jahrgang 1979, ist Gründungsmitglied und seit 2021 Leiterin von CLAIM. Vorher arbeitete sie für das außerschulische Bildungsprojekt Junge Islamkonferenz. CLAIM hat sich 2017 in Berlin gegründet und vereint als Allianz mehr als 50 muslimische und nicht-muslimische zivilgesellschaftliche Organisationen.
Hannah El-Hitami ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.