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Koloniale Spaltung auf Dauer
Völkermord: Gedenkstätte und Bildungseinrichtung "Kigali Genocide Memorial" (Gisozi, Ruanda, 09.09.2012).
© IMAGO / ZUMA Wire
Im Juli jährt sich die Unabhängigkeit von Ruanda und Burundi zum 60. Mal. Beide Länder verbindet eine Geschichte von Gewalt zwischen den Bevölkerungsgruppen der Hutu und Tutsi. Die deutsche Kolonialisierung nimmt dabei eine Schlüsselrolle ein.
Von Bastian Gabrielli
Es ist eine ruandische Märtyrergeschichte: 1997 überfielen Bewaffnete ein Internat in Gisenyi, einer Stadt im Nordwesten Ruandas. Sie zerrten Schülerinnen aus den Unterkünften und forderten sie auf, sich als Angehörige der Bevölkerungsgruppe der Hutu oder Tutsi erkennen zu geben. Wenige Jahre zuvor waren während des ruandischen Völkermords 1994 bis zu eine Million Tutsi ermordet worden. Und auch in der Schule in Gisenyi wollten die Bewaffneten die Tutsi unter den Schülerinnen erschießen, die Hutu am Leben lassen. Die Mädchen aber weigerten sich, ihre Mitschülerinnen dem Tod preiszugeben; sie seien Ruanderinnen, keine Hutu oder Tutsi. Im folgenden Kugelhagel starben 17 von ihnen – ungeachtet ihrer Gruppenzugehörigkeit.
Angriff radikaler Hutu
Chantal Mutamuriza, eine burundische Frauenrechtlerin, erzählt von einem ähnlichen Vorfall im benachbarten Burundi: "Am 30. April 1997, während des Höhepunktes des Bürgerkriegs in Burundi, griffen radikale Hutu das Priesterseminar in Buta an. Sie befahlen den Schülern, sich in Hutu und Tutsi aufzuteilen. Die Schüler aber sagten, sie seien alle Söhne Gottes. Schließlich feuerten die Angreifer*innen in die Gruppe und töteten 40 von ihnen."
Im heutigen Ruanda werden die gemeinsame Geschichte, Sprache und Kultur von Hutu und Tutsi betont. Der Heldenmut der Schülerinnen steht stellvertretend für den Wunsch nach Einheit. Wie tief die Spaltung zwischen den Gruppen in beiden Ländern dennoch sitzt, erläutert Mutamuriza: "Sie verursachte sehr tiefe Wunden, die nur schwer heilen. Eigentlich leben die Gruppen in Frieden miteinander. Wenn es aber um Machtteilung geht, reaktivieren politische Anführer*innen ethnische Ressentiments und bedienen sich derselben Teile-und-Herrsche-Ideologie wie die Kolonialist*innen."
Der Völkermord an den Tutsi 1994 in Ruanda, die Ermordung Hunderttausender Hutu in den 1970ern in Burundi und in beiden Ländern langjährige Bürgerkriege zwischen den beiden Gruppen – all das wäre ohne die Kolonialisierung durch Deutschland und später Belgien kaum möglich gewesen.
Kolonialismus: Mord, Vergewaltigung, Ausbeutung
Auf der Berliner Kongo-Konferenz 1884-85 teilten sich die europäischen Mächte Afrika untereinander auf. Mit ihren Handelsposten, Missionsstationen und Siedlungen brachten die Europäer*innen Raub, Mord, Vergewaltigung, Zwangsarbeit und Ausbeutung. Dazu kamen Krankheiten, Krieg und die pseudowissenschaftliche Lehre des Rassismus.
Demnach wurden Menschen in verschiedene "Rassen" mit eigener Wertigkeit und Fähigkeiten eingeteilt. Daran glaubten auch die Deutschen, die nach Deutsch-Ostafrika (u.a. das heutige Ruanda und Burundi) gingen. Als sie in den 1890ern dort ankamen, trafen sie auf Monarchien mit komplexen sozialen Gefügen. Hutu, Tutsi und die kleine Minderheit der Twa waren soziale Gruppen mit eigenen Aufgabenbereichen in der Gesellschaft. Aus den Tutsi gingen Könige und Adel hervor. Bei ihnen mehrte sich Reichtum, in der Regel in Form von Rindern.
Die Deutschen interpretierten die Unterschiede zwischen den Gruppen rassistisch: Die Tutsi mit oft hellerer Haut und größerer Statur seien aus Äthiopien eingewandert und den Europäer*innen als "Rasse" näher. Die Hutu dagegen seien kleiner, kräftiger gebaut und aus Zentralafrika stammend. Seriöse wissenschaftliche Belege hat es für diese Behauptungen nie gegeben – doch ihre Spaltkraft war gewaltig, weiß Mutamuriza: "Burundi und Ruanda sind seit 60 Jahren unabhängig, doch leiden sie bis heute unter den furchtbaren Konsequenzen der kolonialen Ideologie, welche unvorstellbare Grausamkeiten wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen hervorbrachte." Mit ihrer Organisation "Light for All" betreut sie Frauen und Kinder, die vor diesen Schrecken geflohen sind.
Soziale Gruppen in ehtnische verwandelt
Mit Hilfe von Vermessungen der Schädel, Nasen und Körper verwandelten die Deutschen sozialen Gruppen in ethnische, die sie in ihr Herrschaftssystem integrierten: Die Tutsi-Könige wurden beibehalten, weitere Verwaltungsposten mit Tutsi besetzt, Hutu waren für einfache Arbeiten vorgesehen. Die Bevorzugung der Tutsi verstärkte das Misstrauen zwischen den Gruppen. Gleichzeitig mussten die Tutsi-Könige kooperieren, die militärische Übermacht Deutschlands war erdrückend.
Nach dem Ersten Weltkrieg gingen Ruanda und Burundi im belgische Kolonialreich auf. Die aus europäischer Sicht nützliche Spaltung der Gesellschaft zur einfacheren Kontrolle und Herrschaft in den Kolonien übernahmen auch sie. Mehr noch: in den 1930er Jahren führte Belgien in den Kolonien Pässe ein, in denen die Gruppenzugehörigkeit festgeschrieben war. Wer zum Stichtag zehn oder mehr Rinder besaß, wurde als Tutsi registriert, wer dies nicht vorweisen konnte als Hutu oder Twa. Ab diesem Zeitpunkt galt die Zugehörigkeit als vom Vater an die Kinder vererbbar. Vor der Kolonialisierung konnte ein Hutu Tutsi und ein Tutsi Hutu werden. Das war danach nicht mehr möglich. Deutschland und Belgien hatten Hutu und Tutsi gegeneinander ausgespielt, schrieben sie ethnisch fest und bestimmten damit bis heute die Konflikte in Ruanda und Burundi.
Wie schwer es ist, diese auch nach 60 Jahren Unabhängigkeit zu überwinden, ist ein Zeugnis der unglaublichen Gewalt und Macht des Kolonialismus. Dafür braucht es Held*innen – wie jene aus Gisenyi und Buta.
Bastian Gabrielli arbeitet in der Amnesty-Expert_innengruppe zu Burundi und Ruanda.