Amnesty Journal Brasilien 26. Juni 2020

Von der Regierung im Stich gelassen

Ein junger Mann mit Brille, schwarzen Haaren und Dreitagebart – es ist Thiago Camara, Pressesprecher von Amnesty in Brasilien – blickt lächelnd in die Kamera.

Keine angemessenen Maßnahmen gegen das Virus: Thiago Camara kritisiert die Krisenpolitik der Regierung (Brasilien, 2020).

Was die Zahl der Corona-Fälle betrifft, liegt Brasilien weltweit an zweiter Stelle, hinter den USA. Doch anstatt Maßnahmen zur Bekämpfung des ­Virus zu ergreifen, verharmlost der Präsident die Pandemie. Thiago Camara, Amnesty-Pressesprecher in Brasilien, berichtet.

Protokoll: Parastu Sherafatian

Schon wenige Wochen nach meinem ersten Arbeitstag bei Amnesty begann unsere Zeit im Homeoffice. Obwohl ich erst einige Monate dabei bin, habe ich schon viel erlebt. Wenn der Präsident des eigenen Landes täglich neue Wege sucht, um die Grenzen unserer Demokratie und unserer Menschenrechte auszutesten, dann haben wir als Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler einfach keine Pause.

Mit der Pandemie hat sich das leider nicht verbessert. Viele Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und zu sanitärer Infrastruktur. Die Krankenhäuser sind schon lange überfüllt, worunter vor allem die Marginalisierten und die Indigenen leiden. In der Pandemie verschlimmert sich, was schon seit geraumer Zeit zu beobachten war: Jair Bolsonaro und seine Regierung vertiefen bestehende Ungleichheiten und verletzen unsere Rechte, eines nach dem anderen. Derzeit betrifft das vor allem unser Recht auf Gesundheit. Mitten in der Krise stand Brasilien plötzlich ohne Gesundheitsminister dar, angemessene Maßnahmen gegen das Virus gibt es immer noch nicht.

Das zeigt, mit welcher Sorglosigkeit Bolsonaro der Krise begegnet. Es scheint ihm gleichgültig zu sein, wie viele Menschen dem Virus zum Opfer fallen. Statt auf Expertinnen und Experten zu hören, verbreitet er falsche Informationen. Dabei sind gerade jetzt akkurate Informationen unentbehrlich, und die Menschen müssen sich auf Medien verlassen können, die die Angaben der Regierung überprüfen. Auch auf diesem Weg kann die Regierung zur Verantwortung gezogen werden.

In der Pandemie verschlimmert sich, was schon seit geraumer Zeit zu beobachten war: Jair Bolsonaro und seine Regierung vertiefen bestehende Ungleichheiten und verletzen unsere Rechte, eines nach dem anderen.

Thiago
Camara
Pressesprecher Amnesty Brasilien

Für meine Arbeit bei Amnesty gilt das auch. Wir kritisieren die politisch Verantwortlichen und üben Druck aus, wenn sie unsere Rechte missachten. Auch vom Homeoffice aus geben wir unser Bestes, um die Regierung an ihre Pflichten zu erinnern. Wir können zwar vorerst nicht auf die Straße, doch davon lassen wir uns nicht abhalten. Dank der sozialen Medien sind wir vernetzter denn je und nutzen das, um landesweit zu mobilisieren. Mit unserer neuen Kampagne "Nossas Vidas Importam" ("Unsere Leben zählen") rufen wir zusammen mit 35 weiteren Organisationen die Regierung auf, für den Schutz aller Brasilianerinnen und Brasilianer zu sorgen und niemanden zurückzulassen.

Diese Zusammenarbeit und die solidarischen Reaktionen unserer Unterstützerinnen und Unterstützer geben mir Hoffnung, dass wir diese Krise überstehen werden. Wir ­befinden uns in einem entscheidenden Moment im ­Hinblick auf unsere Menschenrechte, und ich will mir nicht ausmalen, wie düster es ohne Organisationen wie ­Amnesty International aus­sähe.

Dieser Artikel ist Teil einer Mini-Serie, in der wir über die Arbeitsbedingungen von Amnesty-Mitarbeiter_innen aus Indien, den USA, Südafrika und Brasilien berichten.

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