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Endlich Aufklärung in Sicht
Marielle Franco im Sommer 2016
© Mídia NINJA
Mehr als fünf Jahre nach der Ermordung der brasilianischen Politikerin Marielle Franco kommen die Ermittlungen voran. Sogar ein Prozess scheint möglich.
Aus Rio de Janeiro von Niklas Franzen und Carsten Wolf
Am 14. März 2018 saß Fernanda Chaves auf der Rückbank eines Autos, schrieb eine Nachricht. Plötzlich knallte es, Glasscherben flogen umher. Eine Schießerei, dachte sie. Nicht ungewöhnlich in Rio de Janeiro, ihrer Heimatstadt. Dann wurde es still. Chaves kletterte aus dem Auto. Auf den Vordersitzen regte sich nichts. Erst später verstand sie, dass sie einen Anschlag überlebt hatte. Dass ihre Chefin und Freundin ermordet wurde. Dass sie Zeugin eines politischen Verbrechens wurde, das das Land bis heute bewegt. Auch Jahre später fällt es Chaves schwer, darüber zu sprechen. Es vergehe kein Tag, an dem sie nicht an jenen 14. März 2018 denke, sagt sie.
An jenem Abend moderierte die linke Stadträtin Marielle Franco eine Debatte Schwarzer Frauen im Zentrum Rio de Janeiros. Chaves war damals Francos Mitarbeiterin und ebenfalls vor Ort. Gegen 21 Uhr verließen die beiden Frauen den Veranstaltungsort. Vor dem Gebäude wartete der Wagen der Politikerin, hinter dem Steuer saß ihr Fahrer. Als sie losfuhren, bemerkten sie nicht, dass ihnen ein Auto folgte. Wie aus dem Nichts wurde auf der Straße Joaquim Paralhes das Feuer auf sie eröffnet. Trotz getönter Scheiben wussten die Mörder genau, wo Marielle Franco saß. Drei Schüsse trafen sie in den Kopf, einer in den Hals. Sie starb noch im Auto. Auch Francos Fahrer war sofort tot. Die Mordkommission sprach später von einer Hinrichtung. Chaves überlebte unverletzt.
Mahnwachen rund um die Welt
Mehr als fünf Jahre nach dem Anschlag sind viele Fragen offen: Warum musste Franco sterben? Wer steckt hinter der Tat? Wann wird der Fall endlich aufgeklärt? Die Antworten auf diese Fragen führen in ein Netz aus staatlichen und kriminellen Strukturen; in eine Gesellschaft, die mit chronischer Gewalt zu kämpfen hat. Aber auch zu Menschen, die sich dagegen wehren: die Familie Marielle Francos, ehemalige Wegbegleiter*innen, Anwält*innen, Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen.
Die Geschichte Marielle Francos beginnt im Norden Rio de Janeiros. Franco wuchs in der Maré auf. Der Favela-Komplex liegt eingequetscht zwischen zwei Verkehrsadern, rund 140.000 Menschen leben hier auf wenigen Quadratkilometern. Regelmäßig liefern sich Drogengangs und die Polizei stundenlange Schusswechsel.
Franco unterschied sich in vielem von ihren Kolleg*innen in der Politik, die zumeist aus der Elite stammen: Sie war die einzige Schwarze Stadträtin in Rio de Janeiro, und sie war bisexuell. Sie begann ihre Karriere als Mitarbeiterin des bekannten linken Menschenrechtlers und Politikers Marcelo Freixo, der die damalige Studentin in sein Team aufnahm. Sie trat der Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL) bei, 2016 wurde sie in den Stadtrat von Rio de Janeiro gewählt. Als Politikerin kämpfte sie gegen die strengen Abtreibungsgesetze, für Menschenrechte und gegen Rassismus. Franco galt als Hoffnungsträgerin, als Stimme einer neuen Generation. Sie engagierte sich auch gegen Polizeigewalt, kritisierte die paramilitärischen Milizen. Eine akute Drohung gegen sie habe es allerdings nicht gegeben, sagt Francos ehemalige Mitarbeiterin Fernanda Chaves.
Posthum wurde aus der nur regional bekannten Politikerin eine im ganzen Land verehrte Märtyrerin. Nach dem Mord gab es Demonstrationen und Mahnwachen rund um die Welt, in New York, Rom, Berlin und Sydney. Intellektuelle wie Noam Chomsky und Popstars wie Katy Perry solidarisierten sich. Selbst der Papst sprach der Familie sein Beileid aus. Große Wandbilder in verschiedenen Städten Brasiliens fordern seither eine schnelle Aufklärung des Mordes.
Verehrte Märtyrerin
Doch die polizeilichen Ermittlungen verliefen alles andere als professionell. Wichtige Zeug*innen wurden nicht befragt, Kamerabilder wegen technischer Defekte nicht ausgewertet, Falschaussagen führten monatelang in die Irre. Mehrere Menschen, die im Fall Marielle Franco als Zeug*innen oder Tatverdächtige geführt worden waren, starben bei Schießereien. Immer neue Verstrickungen zwischen Polizei, Politik und organisiertem Verbrechen kamen ans Licht.
Immerhin konnte die Polizei im März 2019 einen Erfolg vorweisen: Der mutmaßliche Todesschütze und sein Fahrer wurden festgenommen und sitzen seitdem in Untersuchungshaft. Der eine ein ehemaliger Polizist, der andere ein aktiver Polizist. Gegen den Mann im Polizeidienst wurde zum Zeitpunkt der Tat bereits wegen Waffenschmuggels ermittelt. Die Waffe, die für die Tat benutzt wurde, war eine Maschinenpistole des deutschen Herstellers Heckler & Koch, die vermutlich aus Polizeibeständen stammte.
Details aus den Ermittlungen zeigen, wie abgebrüht die beiden mutmaßlichen Täter vorgingen. Demnach benutzten sie eine spezielle Ausrüstung, um im Sitzen und während der Fahrt auf das verspiegelte Auto der Politikerin schießen zu können. "Sie haben genau getroffen. So etwas ist extrem kompliziert", sagt Fabio Amado, Menschenrechtsanwalt aus Rio de Janeiro, der die Familie Franco juristisch vertritt. Und sie hätten darauf geachtet, dass ihr Auto nicht nachträglich geortet und ihre Handy-Nachrichten nicht gefunden werden konnten. "So eine Professionalität habe ich in 20 Jahren noch nicht gesehen", betont Amado.
Die mutmaßlichen Täter hätten genau gewusst, wie die Polizei versuchen würde, sie zu finden. "Vielleicht haben sie schon seit Jahren solche Auftragsmorde ausgeführt", vermutet der Anwalt Amado. Der Fall lege die erschreckende Nähe zwischen Staat und organisiertem Verbrechen offen, vor allem zu den Milizen.
Im Westen der Stadt reihen sich etliche Favelas wie ein dichter Wald aus Wellblech und Backstein aneinander. Es sind Regionen, in die sich selten ein*e Tou-rist*in verirrt. Es ist das Gebiet der Milizen, über deren Macht niemand spricht, schon gar nicht öffentlich. Es herrscht ein Gesetz des Schweigens, es gibt es nur wenige Informationen aus dem Innenleben.
Paramilitärische Milizen
Nach allem, was man weiß, setzen sich die Milizen vor allem aus ehemaligen und aktiven Polizisten zusammen. Da viele Milizionäre aus den Spezialkräften der Polizei kommen, sind sie nicht nur gut ausgebildet, sondern auch hochgerüstet. Ihre Feuerkraft reicht aus, um sogar Hubschrauber abzuschießen. Während sich in vielen Favelas an Checkpoints Drogenhändler*innen zeigen, die bis an die Zähne bewaffnet sind, sieht man Waffen in den Gebieten der Milizen seltener. Sie agieren im Hintergrund, und sie haben enge Verbindungen zu den Mächtigen in Politik und Wirtschaft.
Etliche Milizbosse sitzen in Parlamenten, Politiker*innen stehen auf ihren Gehaltslisten. Die Milizen sorgen wiederum für die nötigen Wahlstimmen in den von ihnen kontrollierten Stadtgebieten. Auch die Familie des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro suchte immer wieder ihre Nähe. Längst haben sich die Milizen in immer mehr armen Stadtvierteln breit gemacht. "Sie haben ihre Geschäfte in den vergangenen Jahren enorm ausgeweitet und kontrollieren in vielen Stadtteilen fast alles, auch den Drogenhandel. Damit machen sie Millionen", sagt der Soziologe José Claudio Alves, der seit mehr als 20 Jahren zum Thema Milizen forscht.
Außerdem führen sie Auftragsmorde durch und kassieren Schutzgeld. Wer nicht kooperiert, gerät in Gefahr. Immer wieder verschwinden Menschen, häufig werden Massengräber entdeckt. Und Personen, die dagegen kämpfen, leben gefährlich. Marcelo Freixo, der politische Mentor Marielle Francos, brachte im Jahr 2007 eine Parlamentarische Untersuchungskommission über die Milizen in Gang. Nach dem Abschlussbericht wurden Hunderte Milizionäre verhaftet, Verstrickungen in die Politik offengelegt. Das Thema war plötzlich in aller Munde. Doch für die Milizen wurde Freixo zur Persona non grata. Aufgrund von konkreten Anschlagsplänen musste er kurzfristig in Europa untertauchen. Bis heute hat er zehn Sicherheitsleute und wird rund um die Uhr bewacht. Einige vermuten: Der Mordanschlag auf seine politische Ziehtochter Franco könnte eine späte Rache an Freixo gewesen sein.
Zwar ereignete sich der Anschlag auf Franco vor Bolsonaros Präsidentschaft. Doch der damalige Abgeordnete Bolsonaro hielt es nicht für nötig, sich dazu zu äußern. Kein Mitgefühl, kein Beileid, nichts. Besonders pikant für den rechtsextremen Politiker: Der mutmaßliche Mörder lebte in derselben Wohnanlage wie er. Und sein Komplize ließ sich mit Bolsonaro fotografieren. In der Zeit seiner Präsidentschaft unternahm die Regierung wenig, um den Fall Marielle Franco aufzuklären. Sie erschwerte der Polizei sogar noch zusätzlich die Arbeit, indem sie die Leitung der Ermittlungen mehrmals austauschte. Das sei zwar nicht unüblich, sagt Anwalt Amado, behindere aber die Ermittlungen stark.
"Wir sind uns sicher, dass es eine politische Einflussnahme gab", sagt Renata Souza. Sie ist die ehemalige Stabschefin Marielle Francos und heute selbst Abgeordnete im Stadtparlament. Sie war die letzte, die Marielle umarmte, bevor sie am 14. März 2018 in ihr Auto stieg. Dass die Polizei fünf Jahre lang versagt habe, liege auch an der Nachlässigkeit der Politik.
Neuer Schwung in den Ermittlungen
Das änderte sich erst Anfang 2023. Mit den Worten, es handele sich um "eine Frage der Ehre", machte der neue Justizminister Flávio Dino klar, wie wichtig ihm die Aufklärung des Attentats ist. Dino gehört zur Regierung des Sozialdemokraten Luiz Inácio "Lula" da Silva, der die Wahl im Oktober 2022 knapp gegen Bolsonaro gewann. Seither kam Schwung in die Ermittlungen, auch weil sich die Bundespolizei einschaltete. Beamt*innen durchsuchten Häuser und verhafteten weitere Verdächtige. Der mutmaßliche Fahrer des Tatwagens stimmte einer Kronzeugenreglung zu, große Teile seiner Aussage sind allerdings unter Verschluss. Inzwischen sieht es so aus, als könne der Fall noch in diesem Jahr vor eine Geschworenen-Jury kommen. Dann könnten die beiden Hauptverdächtigen endlich verurteilt werden – mehr als fünf Jahre nach der Tat. Dennoch: Über mögliche Auftraggeber*innen ist bislang nur wenig bekannt.
Anfang des Jahres erhielt der Fall auch aus einem anderen Grund erneute Aufmerksamkeit. Denn der Präsident nominierte eine besondere Frau für das neu geschaffene Ministerium für Antirassismus: Anielle Franco. Die 39-Jährige ist Pädagogin und Journalistin. Und sie ist die Schwester von Marielle Franco. "Marielle war meine Schwester, meine Partnerin, meine Freundin, meine Komplizin", sagt sie heute. Jede Sekunde vermisse sie ihre große Schwester. Gern erinnere sie sich, wie sie als Kinder zusammen lachten oder ihre geliebten Schoko-Crepes aßen. Und wie sie später gemeinsam Flugblätter verteilten.
Zusammen mit der Politikerin Renata Souza und anderen hat sie das Instituto Marielle Franco gegründet. Dort soll die Erinnerung an die ermordete Stadträtin aufrechterhalten werden. Das Attentat markierte auf tragische Weise einen Neuanfang, viele Schwarze Frauen fragten sich danach: Wenn Marielle es geschafft hatte, wieso sollte ich es nicht auch schaffen? Souza ist deshalb Abgeordnete geworden. Sie ist eine Schwarze Frau aus einfachen Verhältnissen, genau wie Marielle Franco. Diese sei ein Vorbild und habe ein Vermächtnis weit über Rio de Janeiro hinaus hinterlassen. "Die Lawine, die von Marielle in Gang gesetzt wurde, lässt sich nicht mehr aufhalten."
Niklas Franzen und Carsten Wolf sind freie Reporter. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.
HINTERGRUND
Die Mörder Marielle Francos benutzten eine 9 mm-Maschinenpistole des deutschen Herstellers Heckler & Koch. Eigentlich liefert das deutsche Unternehmen nur an staatliche Stellen. Doch in Mittel- und Südamerika gelangen deutsche Waffen immer wieder in die Hände von Kriminellen, wie zum Beispiel mexikanischen Drogenkartellen. Das Unternehmen aus Oberndorf erklärte, mittlerweile alle Exporte nach Brasilien gestoppt zu haben. Aktivist*innen betonen dagegen, dass weiterhin Waffen des Unternehmens über Drittländer wie die USA nach Brasilien gelangen können. Aus dem jüngsten Rüstungsexportbericht des Bundeswirtschaftsministeriums geht hervor, dass die Bundesregierung im ersten Halbjahr 2022 Rüstungsexporte im Wert von mehr als 85 Millionen Euro nach Brasilien genehmigte. Neuere Zahlen liegen nicht vor.