Das Spiel ihres Lebens

An der Grenze zwischen Bosnien-Herzegowina und Kroatien sitzen mehr als 8.000 Flüchtlinge fest. Sie versuchen, in die Europäische Union zu kommen. Doch die kroatische Grenzpolizei geht brutal gegen sie vor. Dabei missachtet sie europäische Gesetze.
Von Sead Husić (Text und Fotos)
The Game. Das Spiel. So nennen die Flüchtlinge den Versuch, es über die grüne Grenze ins gelobte Land zu schaffen, in die Europäische Union. Sie nennen es so, obwohl es alles andere als ein Spiel ist, eine unbewachte Route über die bewaldeten Berge im äußersten Westen Bosnien-Herzegowinas ins benachbarte Kroatien zu finden. Denn auf der anderen Seite erwartet sie oft genug das Grauen. Schon seit Jahren berichten Flüchtlinge, wie kroatische Polizisten sie schlagen, misshandeln, erniedrigen und illegal über die grüne Grenze nach Bosnien zurückbringen. Für die Flüchtlinge in diesem Teil Europas existieren keine Menschenrechte, gibt es keine fairen Verfahren oder die Achtung ihrer Würde.
Zlatan Kovačević, Gründer der Hilfsorganisation SOS Bihać, fährt mit seiner Tochter Hana und Jannik Jaschinski, einem Praktikanten aus Deutschland, in seinem weißen Bus mehrmals die Woche die Grenzregion ab, um jenen zu helfen, die vom "Game" zurückkehren. Es dauert nicht lange, bis er auf eine Gruppe von Flüchtlingen trifft, die allesamt nur mit Socken an den Füßen und zerschlagenen Gesichtern neben der Straße gehen. Er hält an, steigt aus und grüßt mit "Selam Aleikum". Die Männer sind sichtlich erschöpft, und als ihnen Jannik Mineralwasserflaschen reicht, bedanken sie sich und trinken hastig.
Mohsin ist einer von ihnen und kommt aus Pakistan. Er erzählt, dass sie in der vergangenen Nacht versucht hätten, über die Grenze zu kommen und von kroatischen Polizisten aufgegriffen worden seien. "Sie trugen Sturmmasken, damit man sie nicht erkennen kann. Sie zwangen uns, unsere Schuhe auszuziehen und auf einen Haufen zu werfen zusammen mit unseren Rucksäcken, in denen wir Wasser und etwas zu essen hatten. Das verbrannten sie vor unseren Augen. Dann befahlen sie, uns in einer Reihe aufzustellen und schlugen einem nach dem anderen mit der Faust ins Gesicht. Jeder ging zu Boden, sie schlugen uns mit Schlagstöcken, traten uns mit den Stiefeln ins Gesicht, auf den Kopf, überall hin, wahllos", sagt Mohsin.
Sein Gefährte Asif sitzt auf dem Boden. Er hat so starke Schmerzen in seinen geschwollenen Händen, dass er die Wasserflasche nicht festhalten kann. Jemand hält ihm die Flasche an den Mund, der von Blut verkrustet ist. Nach einigen Schlucken sagt er mühsam: "Es ist schon das fünfte Mal, dass ich versuche, über die Grenze zu gelangen. Einmal habe ich es bis nach Triest geschafft. Dort übergaben mich die italienischen Beamten den Kroaten und die brachten mich wieder nach Bosnien, setzten mich im Wald aus und sagten, dass ich nicht wiederkommen soll."
Zlatan kennt solche Berichte über illegale Pushbacks zur Genüge. Seit mehr als einem Jahr hilft er den Flüchtlingen, so gut er kann. Und das, obwohl er nur ein Bein hat. Zu Beginn des Krieges in Bosnien 1992 riss ihm eine Granate das linke Bein ab. Manchmal quälen ihn die Phantomschmerzen so stark, dass er den Tag nur mit einem starken Schmerzcocktail übersteht, der ihm im Krankenhaus verabreicht wird. So wie heute.
Keine rechtliche Unterstützung
"Für die Flüchtlinge gibt es in dieser Grenzregion keine Anlaufstelle, um einen Asylantrag stellen zu können, und auch keine rechtliche Unterstützung, um gegen die kroatischen Behörden zu klagen. Eigentlich herrscht hier Gesetzlosigkeit", sagt Zlatan, der einem der Männer die Wunde säubert und sie verbindet. Jannik und Hana holen währenddessen aus dem Bus mehrere Kartons voller Schuhe und bieten sie den Männern an.
Nach Angaben des bosnischen Innenministeriums befinden sich derzeit etwa 10.000 Flüchtlinge im Land. Davon 8.000 im Kanton Una-Sana, der an Kroatien grenzt. Die übrigen 2.000 Flüchtlinge sind angeblich auf dem Weg dorthin, denn alle wollen ihr Glück im Game versuchen und endlich in die Europäische Union gelangen, wo aus ihrer Sicht Menschenrechte herrschen. Aber sie erkennen schnell, dass für sie andere Regeln gelten, oder vielmehr: dass es für sie keine Regeln gibt.

Bereits seit Jahren berichten Journalisten aus aller Welt über die Situation an der bosnisch-kroatischen Grenze. Kroatien will schon bald Teil des Schengenraums werden und muss seinen europäischen Nachbarn deshalb beweisen, dass die Grenze im Südosten der Union dicht bleibt. Und die EU stellt sich taub, kündigt höchstens mal eine Untersuchung an, wenn die Kritik von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International unüberhörbar laut wird.
In einer während des Krieges ausgebombten ehemaligen Fabrik am Stadtrand von Bihać verstecken sich Dutzende junger Männer, die aus Afghanistan, Pakistan, Bangladesch und Indien stammen. Viele von ihnen sind minderjährig. Negar (19) ist seit mehr als zwei Jahren er auf der Flucht, im Herbst 2019 kam er in Bosnien an. "Achtmal war ich im Game. Jedes Mal wurde meine Gruppe von kroatischen Beamten gefasst, und dann schlugen sie mit Schlagstöcken auf uns ein. Wir mussten unsere Schuhe ausziehen, die Rucksäcke abgeben, uns auf den Boden legen. Dann traten sie uns mit den Stiefeln. Im Morgengrauen fuhren sie uns in einem Bus durch den Wald und setzten uns auf der bosnischen Seite aus. Einer der Polizisten drohte, uns beim nächsten Mal umzubringen", erzählt Negar. Doch in den kommenden Wochen will er erneut sein Glück versuchen. In der Ruine sind sie auch nicht sicher. Immer wieder taucht die örtliche Polizei auf, um das Gebäude zu räumen. Schon vor Monaten entschieden die Behörden, dass keine Flüchtlinge im Stadtbild zu sehen sein sollen. Bald stehen Kommunalwahlen an, und die herrschende Partei der Demokratischen Aktion (A-SDA) will das Thema aus der Debatte heraushalten.
In dem verfallenen Gebäude schlafen die Geflüchteten auf verschmutzten Matratzen, die sie von der Straße aufgelesen haben, in der Ecke eines Raumes kochen sie über dem offenen Feuer eine Suppe. Durch die bizarr anmutende Kulisse streift ein junger Mann, der sich in eine Decke gehüllt hat und apathisch wirkt. Er will seinen Namen nicht nennen, sagt aber, dass er aus Afghanistan vor den Taliban geflohen sei und es nach Europa schaffen wolle, egal in welches Land. "Dort gibt es Gerechtigkeit", sagt er, und in diesem Moment scheint die Gerechtigkeit unendlich weit weg zu sein.
Untergekommen in ausgebombter Fabrik
"Wir leben von einem Tag auf den anderen und hoffen auf das nächste Game, darauf, dass wir endlich in Europa ankommen, wo es eine Zukunft gibt", sagt der 17-jährige Bassam. Er zieht sein Hosenbein hoch und zeigt seinen Unterschenkel, der voller Wunden ist. Wahrscheinlich hat er Krätze. Hilfe bekommt er keine. "Ich komme aus einem schlimmen Land und dachte, hier ist alles besser. Aber Gesetze gelten nicht für uns", sagt er.
In unmittelbarer Nähe des verfallenen Baus, im städtischen Park, findet in der zweiten Oktoberhälfte ein Fotoshooting für die A-SDA statt. Zugegen ist auch der Spitzenkandidat der Partei und aktuelle Bürgermeister von Bihać, Šuhret Fazlić. "Ich habe Angst, dass wir auf eine Katastrophe zusteuern. Denn wir sind eine kleine Stadt und können mit unseren Mitteln nicht 10.000 Menschen versorgen. Der Winter kommt, und die Flüchtlinge können nicht in den Zeltlagern bleiben. Aber niemand hilft uns, auch nicht die Europäische Kommission, die es explizit ablehnt, uns finanziell zu unterstützen. Dabei haben wir in der Vergangenheit von Europa Hilfen erhalten. Aber jetzt duckt sich Europa weg", sagt Fazlić.
1000 Menschen im Zeltlager
Zlatan Kovačević sitzt wieder hinter dem Steuer. Er fährt fast 20 Kilometer aus der Stadt heraus, biegt dann in einen Waldweg ein und fährt bergauf, bis er auf einem Hochplateau vor dem Zeltlager Lipa anhält, in dem rund 1.000 Menschen untergebracht sind. Außerhalb des umzäunten Camps sitzen einige Flüchtlinge auf dem Rasen. Eine Gruppe von acht Männern bereitet sich auf das Game vor. "Ich bin 30 Mal an der Grenze von kroatischen Grenzern aufgegriffen worden", sagt der 32-jährige Mesut aus Bangladesch. "Sie haben mich immer geschlagen, mich beraubt, mir einmal das Bein gebrochen. Aber ich habe mir geschworen, nicht aufzugeben." Die anderen Männer nicken, als wollten sie sich selbst Mut zusprechen.

Das Zeltlager bietet für den kommenden Winter, der in dieser Gegend kalt ist, keinen Schutz. Wo die bosnischen Behörden die Menschen unterbringen wollen, ist nicht bekannt. "Die Flüchtlinge sind zum Spielball der Politik geworden. Sowohl der großen wie der kleinen. Die Europäer sehen dem Elend tatenlos zu. Wie damals zu Kriegszeiten. In Bosnien nutzt die Opposition das Flüchtlingsthema, um bei der Kommunalwahl zu punkten. Sie behauptet, dass die Flüchtlinge gefährlich wären, Diebe, Brandstifter und Vergewaltiger. Auch wenn nichts davon wahr ist", sagt Kovačević resigniert. Aber dann schlägt er mit der Hand auf seine Prothese. "Es gibt immer Schlimmeres", sagt er, setzt sich hinter den Lenker seines Busses und fährt wieder los.
"Fuck you, Fuck asylum!"
Es dauert nicht lange, bis er erneut am Straßenrand anhält, um zwei Männern zu helfen, die ihr Spiel verloren haben. Zerschlagene Gesichter, keine Schuhe, schmerzende Arme und Beine. Junus heißt einer von ihnen. Kovačević verbindet ihm die Nase. "Ich bin 40 Jahre alt", sagt Junus "und ich ich habe eine Frau und Kinder in Afghanistan. Ich wollte nach Europa, um zu arbeiten, meiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen." Tränen rollen ihm über die Wangen. Da zieht Kovačević sein Hosenbein hoch und klopft auf die Prothese. "Wir alle werden Prüfungen ausgesetzt, die wir zu bestehen haben. Lass dich nicht unterkriegen", sagt er, umarmt ihn, und Junus lächelt sogar für einen Moment.
Auch er beschreibt eindringlich, wie es ihm und seiner Gruppe von zehn Männern ergangen ist, als sie von kroatischen Grenzern beim illegalen Übertritt erwischt wurden. "Sie gaben sich als Grenzbeamte der Republik Kroatien aus und trugen Sturmmasken, sodass wir ihre Gesichter nicht erkennen konnten. Sie nahmen uns die Schuhe ab und das wenige Geld, das wir uns in Bihać erbettelt hatten. Wir sagten, dass wir um Asyl bitten. Als sie das hörten, fluchten sie und schrien uns an: 'Fuck you, Fuck asylum!'. Dann mussten wir uns alle auf den Boden legen. Wer sich weigerte, den würgten sie oder schlugen ihn mit den Fäusten nieder, trampelten auf ihm rum. Als wir auf dem Boden lagen, schlugen sie mit Schlagstöcken auf uns ein. Irgendwann in der Nacht fuhren sie uns in zwei Bussen über die Grenze in den Wald, setzten uns aus und befahlen uns, Richtung Bihać zu gehen", erzählt Junus.
Bei der Verabschiedung trägt Junus nun ein paar passende Turnschuhe an den Füßen. Er wird sich auf den Weg zum Camp Lipa machen. Dort wird er sich von seinen Verletzungen erholen und sich mit anderen Flüchtlingen über mögliche neue Routen austauschen, die in die Europäische Union führen. Denn immer noch gelingt es einzelnen Gruppen, durchzuschlüpfen. Über ihre Mobiltelefone melden sie jenen, die das Spiel noch nicht gewonnen haben, wie sie es geschafft haben. Das spricht sich unter den Flüchtlingen wie ein Lauffeuer herum und weckt die Hoffnung, dass man das Spiel seines Lebens doch gewinnen kann.
Sead Husić ist freier Journalist und Fotograf. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.