Amnesty Journal Bangladesch 17. April 2025

Bangladesch: Arbeitsbedingungen in der Modeindustrie

Hände einer Näherin, die Stoff mit einer Nähmaschine bearbeitet.

In der Textilindustrie Bangladeschs arbeiten überwiegend Frauen: Textilfabrik in Dhaka, Bangladesch, 2024

Kleidung wird millionenfach in Bangladesch hergestellt – häufig unter schlechten Arbeitsbedingungen. Ein Gespräch mit der Gewerkschaftsführerin Kalpona Akter über gefährdete Aktivist*innen und darüber, was Verbraucher*innen in Deutschland gegen Missstände tun können.

Interview: Bernhard Hertlein

Im vergangenen Jahr führten Hunderte Tote durch Polizeigewalt zum Sturz der Regierung in Bangladesch. Wie ist die Lage heute?

Wir haben schwierige Zeiten hinter uns. Derzeit befindet sich unser Land im Umbruch, und wir hoffen das Beste. Seit die vorherige Regierung abgelöst wurde, können die Beschäftigten in der Industrie ihre Meinung frei äußern. Aber die Lage bleibt herausfordernd.

Wie stark sind die Textilgewerkschaften in Bangladesch?

Leider ist die Bewegung sehr zersplittert. Bis zur Katastrophe von Rana Plaza im April 2013, als beim Einsturz einer Textilfabrik mehr als 1.100 Menschen starben, gab es landesweit 146 größere Gewerkschaften. Heute sind mehr als 1.300 registriert, von denen die meisten aber nur in einer Fabrik tätig sind. Etwa die Hälfte dieser Gewerkschaften wurde von den Unternehmern selbst initiiert, um nach außen gut dazustehen. Diese sogenannten gelben Gewerkschaften schwächen unsere Bewegung, weil sie in Konflikt­fällen fast immer aufseiten des Arbeit­geberverbands stehen.

Gibt es Betriebsräte?

Es gibt einige, doch viele dieser "Arbeiter-Mitbestimmungsausschüsse", wie sie hier heißen, existieren nur auf dem Papier. Die Unternehmen wissen, dass die internationalen Einkäufer*innen darauf achten, ob ein Betriebsrat existiert. Die Beschäftigten kennen aber oft nicht einmal die Namen der Mitglieder, die überwiegend vom Management ausgewählt werden. In Wirklichkeit sind diese Fake-Betriebsräte nichts weiter als Erfüllungsgehilfen der Arbeitgeber.

Wie viele der vier Millionen Beschäftigten in der Textilindustrie sind ­gewerkschaftlich organisiert?

In den echten Gewerkschaften etwa ein Prozent. Die anderen 99 Prozent haben einfach Angst: um ihren Job, aber auch um ihre Gesundheit und um ihr Leben. Die Arbeitgeber haben in der Vergangenheit immer wieder Schlägertrupps angeheuert, um Gewerkschafter*innen, Demonstrierende sowie Anwält*innen und Journalist*innen, die sich für sie einsetzen, zu verletzen oder zu töten. Die Drohungen sind alltäglich – auch vonseiten der Geheimdienste. Aber wir kämpfen weiter. Die Entwicklung seit dem Sturz der Regierung im August 2024 macht uns Hoffnung. Gleichzeitig wissen wir, dass die Probleme nicht gelöst sind, nur weil sie im Augenblick weniger sichtbar sind. Die politische Lage ist instabil – und wird es vermutlich noch eine Weile bleiben.

In der Vergangenheit stand die Polizei stets auf der Seite der Textilunternehmen. Das galt vor allem für die bewaff­nete Industriepolizei.

Wurden Sie auch bedroht?

Mehrfach. Ich war in den vergangenen Jahren mit Dutzenden von Strafanzeigen konfrontiert und musste stets mit Haftstrafen und anderen Repressalien rechnen. Besonders prekär war die Lage im Wahlkampf von September 2023 bis Januar 2024, als sogar meine Mutter bedroht wurde. Sie sollte Druck auf mich ausüben, damit ich die Gewerkschaftsarbeit einstelle. Bei Protesten für höhere Löhne sind in den vergangenen Jahren viele Menschen gestorben, sehr viele wurden verletzt. Außerdem wurden Protestierende unter falschen Anklagen vor Gericht gestellt. Besonders schmerzlich war für mich der Mord an meinem engen Vertrauten Shahidul Islam. Er wurde am 25. Juni 2023 in Gazipur von bezahlten ­Killern umgebracht.

Welche Rolle spielten dabei die ­Behörden?

In der Vergangenheit stand die Polizei stets auf der Seite der Textilunternehmen. Das galt vor allem für die bewaff­nete Industriepolizei, die direkt vor den Fabrikeingängen platziert war. Offiziell sollte sie dort Konflikte beschwichtigen. In der Praxis hat sie jedoch jeden aufkeimenden Protest von Arbeiter*innen sofort unterbunden. Inzwischen wurde die Industriepolizei teilweise von den Fabriktoren abgezogen. Hoffentlich auf Dauer und hoffentlich bald überall.

Nach der Katastrophe von Rana Plaza wurden Abmachungen für sichere ­Arbeitsplätze getroffen, vor allem der "Accord on Fire and Building Safety". Wirkt er?

In den Textilfabriken, in denen die Abmachung greift, auf jeden Fall. Sie gilt aber nicht in den vielen kleineren Textilbetrieben, die vor allem für den bangladeschischen Markt produzieren. Von den insgesamt 4.000 Textilproduzenten in Bangladesch werden etwa 1.600 durch den Accord erfasst. Außerdem gilt er nicht für andere Industriezweige. In den zwölf Jahren seit dem Unglück von Rana Plaza sind Hunderte Menschen bei vermeidbaren Katastrophen ums Leben gekommen.

Die meisten Beschäftigten in der ­Textilindustrie sind Frauen. Sind sie an ihrem Arbeitsplatz sicher?

Überhaupt nicht. Und wenn etwas geschieht, haben sie kaum eine Chance, zu ihrem Recht zu kommen. Schon der Gang zur Polizei kostet Überwindung und birgt neue Gefahren. Außerdem fehlt vielen Frauen das Geld, um einen Rechtsanwalt zu bezahlen. Das oberste Gericht Bangladeschs hat angeordnet, dass es in den Betrieben unabhängige Anlaufstellen geben muss, an die sich von Missbrauch und ­Belästigung Betroffene wenden können. Doch diese Bestimmung wurde in kaum einem Betrieb umgesetzt. Dieses Thema sowie die Umsetzung des ILO-Übereinkommens gegen Gewalt und Belästigung von 2019 werden uns leider noch lange beschäftigen.

Anfang 2024 wurde der staatlich festgesetzte Mindestlohn erhöht – zum ersten Mal nach fünf Jahren. Reicht das?

Der Mindestlohn beträgt jetzt 12.500 Taka monatlich, das sind umgerechnet knapp 100 Euro – das ist auch in Bangladesch viel zu wenig. Wir hatten 23.000 Taka gefordert.

Wie lange müssen die Beschäftigten auf die nächste Erhöhung warten?

Normalerweise wird der Mindestlohn vor Wahlen erhöht. Aber die aktuelle Übergangsregierung hat im September eine Kommission eingerichtet, die bis April ­einen Vorschlag für eine Reform des Mindestlohns vorlegen soll. Wir hoffen diesmal auf mehr Fairness, es gibt großen Nachholbedarf. Die frühere Regierung war vom Wohlwollen der Textilunternehmer abhängig. ­Diese waren nicht nur im Parlament sehr stark vertreten, sie hatten auch direkten Einfluss auf die Regierung. Das ist erst einmal vorbei.

Deutschland und die Europäische Union haben Lieferkettengesetze angestoßen. Bemerken Sie positive Folgen?

Diese Gesetze sind wichtig, da sie verpflichtend sein werden. Um ein Fazit zu ziehen, ist es noch zu früh. Aber zwei ­Dinge sind aus unserer Sicht bedeutsam: Erstens muss das Lieferkettengesetz regeln, wer die Kosten für Verbesserungen trägt. Und zweitens muss in Klagefällen der Zugang zur Justiz gewährleistet sein. Dazu gehört ein Fonds, der eventuelle Verfahrenskosten trägt.

Was können Verbraucher*innen in Deutschland tun?

Sie sollen weiterhin schöne Kleidung aus Bangladesch kaufen – schön was Mode, Farbe, Form und Stil betrifft. Aber auch schön, was faire Arbeitsbedingungen ­betrifft. Nach Rana Plaza haben Verbraucherproteste bewirkt, dass die Sicherheitsbedingungen in den Fabriken in Bangladesch heute weitaus besser sind – besser als vor der Katastrophe und besser als in den meisten anderen Industriebetrieben des Landes. Ich würde den Verbraucher*innen dringend empfehlen, nicht nur auf Farbe, Größe, Preis und Stil zu achten, sondern im Geschäft, aber auch auf den Websites der Einzelhandelskonzerne und in den Online-Netzwerken nach den Arbeiter*innen zu fragen und unter welchen Bedingungen sie diese Kleidung hergestellt haben. Das wird die Chefs aufhorchen lassen und kann ein Ausgangspunkt für Veränderungen sein.

Kein Boykott?

Auf keinen Fall. Ansonsten würden bis zu vier Millionen Beschäftigte arbeitslos. Wir brauchen diese Jobs, aber unter menschenwürdigen Bedingungen.

Was können die Verbraucher*innen noch tun?

Sie sollten Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International unterstützen, die uns zur Seite stehen. 

Kalpona Akter ist Präsi­dentin der Vereinigung der Textil- und Industriearbeiter (BGIW) in Dhaka. Die ­ehemalige Kinderarbeiterin war wegen ihres Engagements bereits in Haft.

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