Amnesty Journal Syrien 23. Oktober 2025

Syrien: Ohne Assad, aber nicht ohne Angst

Trümmer, ein Steindenkmal, das einen Menschen darstellt, ist vom Sockel gestürzt und liegt in Trümmern.

Gestürzt: Denkmal zu Ehren des langjährigen Präsidenten Hafiz al-Assad in der Nähe von Baniyas, Mai 2025

Ein Dreivierteljahr nach dem Sturz Baschar al-Assads ist Syrien noch weit von Stabilität ­entfernt. Zivilgesellschaftliche Akteure engagieren sich für ein Zusammenleben jenseits ­ethnischer und konfessioneller Grenzen.

Aus Qamishli von Markus Bickel

Fee Baumann ist immer noch mitgenommen von dem, was sie an der syrischen Mittelmeerküste erlebt hat. Unzählige Häuser seien zerstört, Geschäfte geplündert und Menschen gezwungen worden, zuzuschauen, wie ihre Familienangehörigen von Milizionären ermordet wurden. Das habe ihr eine Mutter in Dschableh erzählt, die im März ihre beiden Söhne verlor. "Der Brandgeruch lag noch in der Luft", berichtet die Hamburger Krankenschwester, die im Frühjahr mit einem Hilfskonvoi des syrisch-kurdischen Roten Halbmonds in den Westen des Landes fuhr, um die bedrohte Bevölkerung mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln zu unterstützen. 

Kurz zuvor hatten Milizionäre sowie der Regierung nahestehende Kämpfer Hunderte Menschen getötet; auch Anhänger der alten Regierung töteten Hunderte Menschen. Nach UN-Angaben kamen insgesamt 1.400 Menschen ums Leben, überwiegend alawitische Zivilpersonen. Der Gewaltausbruch in der Nähe von Latakia und Baniyas war der heftigste seit dem Sturz des Präsidenten Baschar al-Assad im Dezember 2024 – und er belastet bis heute die Regierung von Interimspräsident Ahmed al-Scharaa. Dieser stand bis Jahresbeginn an der Spitze der Organisation Hajat Tahrir al-Scham (HTS), deren Kämpfer nach Recherchen von Amnesty International an den Massakern im März beteiligt gewesen sein sollen. Auch eine Untersuchungskommission der UNO kam im August zu diesem Schluss, konnte aber keine Belege finden, dass die Angriffe von der Regierung angeordnet worden seien.

Flucht nach Moskau

Für Baumann war die Soforthilfe nicht nur selbstverständlich, sondern auch ein Ausdruck von Solidarität. Gemeinsam mit anderen humanitären Helfer*innen fuhr sie im März von Qamishli im Nordosten des Landes mit einem Konvoi aus 16 Lastwagen in die umkämpften Gebiete an der Mittelmeerküste, um ein Zeichen der Einheit zu setzen. Nicht auf ethnische oder konfessionelle Zugehörigkeit komme es im neuen Syrien an, sondern auf Menschlichkeit. Schließlich hätten Angehörige aller Bevölkerungsgruppen ihren Anteil am Sturz Assads gehabt und dazu beigetragen, dass er nach fast einem Vierteljahrhundert an der Macht im Winter nach Moskau floh. 

Doch noch immer kämpft das Land um seine Einheit. Dem Massaker an der alawitischen Bevölkerungsgruppe, der auch Assad angehört, folgten Ende April Kämpfe zwischen Sicherheitskräften al-Scharaas und drusischen Milizionären nahe Damaskus. Die Regierung des Nachbarlandes Israel stellte sich an die Seite der Drus*innen und heizte den Konflikt weiter an; Ministerpräsident Benjamin Netanjahu warnte al-Scharaa, das Leben der rund 700.000 Drus*innen in Syrien durch die Entsendung von Einheiten in deren Siedlungsgebiete zu gefährden. Im Juli lieferten sich in der Provinz Suwaida Drus*innen, Beduin*innen und Regierungskräfte heftige Gefechte mit Hunderten Toten; nach Amnesty-Berichten waren regierungsnahe Kräfte auch an der außergerichtlichen Hinrichtung von 46 Drus*innen beteiligt. Seither hält eine fragile Waffenruhe, doch ist der humanitäre Zugang zur Provinz weiter blockiert.

Ein Friedhof im syrischen Qamishli, Gräber dicht an dicht, auf den Grabsteinen arabische Inschriften, in der Ferne umsäumen Bäume das Gelände

Friedhof in Qamishli: Syriens Kurd*innen verzeichnen nach wie vor viele Tote

Sie wissen nichts über Frauen.
 

Perwin
Yussif
Kurdin, über die Regierung in Damaskus

Nicht nur die alawitische und die ­drusische Minderheit fürchten um ihre Sicherheit. Auch Syriens Christ*innen ­sehen sich seit dem Machtantritt des einstigen Al-Qaida-Kämpfers al-Scharaa in ihrer Existenz bedroht. Ihre schlimmsten Befürchtungen wurden wahr, als sich im Juni während eines Gottesdienstes ein Selbstmordattentäter in der Mar-Elias-Kirche in Damaskus in die Luft sprengte – und mehr als 25 weitere Menschen mit in den Tod riss. Die Miliz Saraya Ansar al-Sunna bekannte sich zu dem Anschlag, dem ersten größeren an Christ*innen seit dem Sturz Assads.

Mehr als sieben Millionen Binnenvertriebene

Dabei ist eine Rückkehr der Gewalt das letzte, was Syrien braucht – acht Jahre nachdem es einer Koalition bewaffneter Kräfte gelang, die bewaffnete Gruppe Islamischer Staat (IS) aus Raqqa und anderen Städten Nordsyriens zu vertreiben. Denn die Herausforderungen, vor denen das Land nach mehr als 14 Jahren Krieg und einem halben Jahrhundert Diktatur steht, sind gewaltig: 90 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze, rund 70 Prozent sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, die Wirtschaft ist völlig zerstört. Für die meisten der sechs Millionen Menschen, die aus Syrien ins Ausland geflohen sind, ist an eine Rückkehr unter diesen Umständen nicht zu denken; hinzu kommen mehr als sieben Millionen Binnenvertriebene. 

Wie weit der Weg aus der Diktatur in ein politisches System ist, das Menschenrechte wie Versammlungs-, Meinungs- und Religionsfreiheit garantiert, zeigt sich nicht zuletzt im Nordosten des Landes. Von dort waren Fee Baumann und die anderen humanitären Helfer*innen im Frühjahr in Richtung Küste aufgebrochen, um den Überlebenden der Massaker beizustehen. Das Gebiet der kurdisch dominierten Autonomen Selbstverwaltung Nordostsyrien (Aanes) reicht vom Tishreen-Staudamm im Westen über Kobane und ­Qamishli bis an die irakische Grenze im Osten; es umfasst auch mehrheitlich arabisch besiedelte Städte wie Raqqa und Hassakah. Seit 2019 patrouillieren in einem Dutzende Kilometer langen Streifen entlang der türkischen Grenze allerdings auch türkische Soldaten. Präsident Recep Tayyip Erdoğan möchte mit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch eine Ausdehnung des kurdischen Einflusses verhindern. 

Wir wollen eine Kultur des Austauschs und der Akzeptanz schaffen.

Welat
Ahmed
Akteur der kurdischen Zivilgesellschaft

Erdoğan ist das von der Partei der Demokratischen Union (PYD) und den syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) kontrollierte Gebiet ein Dorn im Auge. Im Jahr 2014 hatten sie die Region im Dreiländereck Syrien/Türkei/Irak für autonom erklärt und damit begonnen, von den syrischen Institutionen ­unabhängige politische Strukturen auf­zubauen. Rojava nennen Syriens Kurd*innen das Gebiet, in dem auch Hunderttausende arabische Syrer*innen, Christ*innen und Jezid*innen wohnen. Erdogan betrachtet die YPG und PYD als "Terror­organisationen", die gemeinsame Sache mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) machen, auch nach deren Selbstauflösung im Frühjahr.

Für Perwin Yussif, die stellvertretende Vorsitzende des Aanes-Verwaltungsrats, ist die Region ein gutes Jahrzehnt nach der Ausrufung der Autonomie hingegen ein Vorbild für ganz Syrien. So sei es nicht nur gelungen, sämtliche Führungsgremien paritätisch mit Frauen und Männern zu besetzen. Auch habe man es geschafft, die ethnischen und konfessionellen Minderheiten der Region in die Gesamtverwaltung des Gebiets einzubinden. "Wir haben auf einen dritten Weg gesetzt", sagt Yussif. "Um Probleme zu lösen, haben wir nicht die bewaffnete Konfrontation gesucht, sondern den Dialog." Nur so konnte es gelingen, Herrschaftsstrukturen aufzubauen, die der lange ­unterdrückten kurdischen Minderheit endlich Mitspracherechte sicherten. 

Trotz berechtigter Kritik an der Do­minanz kurdischer Kräfte in der Selbstverwaltung und in den Streitkräften der Region – den Syrian Democratic Forces (SDF) –, ist die herausgehobene Präsenz vieler Frauen in Qamishli auffällig, im Straßenbild wie in der Bürokratie. In die Regierung al-Scharaas in Damaskus hingegen hat es nur eine Ministerin geschafft: Die Christin Hind Kabawat leitet das Ressort für Soziales und Arbeit. Für Yussif von der kurdischen PYD ist sie nichts weiter als ein Feigenblatt, um westliche Geberländer zufriedenzustellen. "Sie wissen nichts über Frauen", wirft Yussif den Herrschenden in Damaskus vor, "und sie wollen sie auch nicht in ­ihrer Regierung haben." 

"Für ein vereinigtes, demokratisches Syrien"

Die Ablehnung der neuen Machthaber in Damaskus ist in den Städten im Nordosten Syriens weit verbreitet. Unter seinem Kampfnamen Abu Mohammed al-Dscholani hatte al-Scharaa hier vor einem Jahrzehnt zu Beginn des Aufstands gegen Assad selbst gekämpft. Die kurdischen YPG-Milizen, die später mit US-Luftunterstützung den Islamischen Staat aus Kobane und anderen Städten vertreiben sollten, zählten zu den erbittertsten Feinden der Nusra-Front, dem syrischen Ableger Al-Qaidas, von dem sich der heutige Interimspräsident später lossagte. "Wir wissen, woher al-Scharaa kommt", sagt Yussif. Als Anhänger eines Systems, in dem die Bevölkerung selbst für ihre ­Interessen einstehen könne, habe er sich nicht gezeigt. Doch strecke man "jedem die Hand aus, der bereit ist, für ein vereinigtes, demokratisches Syrien zu arbeiten".

Wie steinig der Weg dorthin ist, weiß Welat Ahmed, der Leiter der Organisation Pêl, die in Qamishli ein zivilgesellschaftliches Zentrum betreibt. Hier kommen das ganze Jahr über Mitglieder von mehr als 20 Gruppen in einer Art Demokratielabor zusammen. Außerdem zeigt das Zentrum Filme, gibt Seminare und Workshops. "Wir wollen eine Kultur des Austauschs und der Akzeptanz schaffen, damit eines Tages der Dialog stärker ist als die Waffen", sagt Ahmed. 

Das ist nicht einfach. Seit 2012, dem Beginn des Aufstands gegen Assad in den kurdischen Gebieten, haben Syriens Kurd*innen Tausende Opfer zu beklagen. Straßenlaternen und Häuserwände sind gespickt mit Bildern gefallener Männer und Frauen, auf dem Märtyrerfriedhof am Stadtrand von Qamishli werden Woche für Woche neue Gräber ausgehoben. Die jüngsten Opfer waren noch keine 16, als sie starben. Ihr Leben gelassen haben sie nicht nur im Kampf gegen die Regierung Assad, sondern vor allem gegen die Einheiten des Islamischen Staats, der erst Ende 2017 aus Raqqa vertrieben werden konnte. "Wir geben uns alle Mühe, dass sich die Jugendlichen nicht mit Militärischem befassen müssen", sagt Ahmed. "Wir konzentrieren uns auf nichts mehr als auf den Frieden."

Auch wenn inzwischen mehr als ein Jahrzehnt vergangen ist, seitdem Pêl 2013 das Zentrum in Qamishli eröffnete, wird es noch viel Zeit brauchen, bis eine zivile Gesellschaft erreicht ist. Viele Jugendliche kennen kein anderes Leben als das im Krieg – eine Erfahrung, die sie mit Syrer*in­nen in anderen Gegenden des Landes teilen. Hinzu kommen berufliche Perspektivlosigkeit und anhaltende Schwierigkeiten, auch nur das Nötigste zum Leben zusammenzubekommen. Da falle es schwer, den Einsatz für die Menschenrechte und ein ziviles Miteinander an die oberste Stelle zu setzen.

Dennoch führe daran kein Weg vorbei, sagt Welat Ahmed. Dass es der Selbstverwaltung nicht gelinge, mehr für die Annäherung zwischen Kurd*innen und anderen Bevölkerungsgruppen zu tun, verteidigt er mit der anhaltenden Bedrohung durch Milizen, die von der Türkei unterstützt werden. Und damit, dass die Selbstverwaltung alle Hände voll zu tun habe, die nach dem Sturz Assads in die autonomen Gebiete gekommenen Geflüchteten zu unterstützen. Mehr als 120.000 sind allein seit Ende 2024 hinzugekommen – eine riesige Aufgabe für die ohnehin vor großen humanitären Aufgaben stehende Administration.

Angriffe von allen Seiten

Inwieweit Kämpfer von YPG und SDF bei ihrem Vorgehen selbst die Menschenrechte verletzten, ist immer wieder Gegenstand von Berichten. Den Behörden der Selbstverwaltung wurde zudem vorgeworfen, sie würden bei der Inhaftierung früherer Kämpfer des Islamischen Staats und deren Familienangehörigen keine internationalen Standards einhalten und diese foltern. So formulierte es auch Amnesty in einem Bericht von 2024. Fayzal Yussif von der Syrischen Kommission für Wahrheit und Gerechtigkeit (STJ) hebt hervor, dass für ihre Organisation die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen aller Konfliktparteien entscheidend sei. "Wir konzentrieren uns nicht auf eine bestimmte Gruppe, sondern versuchen, die Verantwortlichen von Gewalt insgesamt ausfindig zu machen."

Dazu unterhält STJ ein Netzwerk von Informant*innen in ganz Syrien. Ein gefährliches Unterfangen: "Wir werden von allen Gruppen angegriffen, deren Vergehen wir dokumentieren", sagt Yussif. Dass sie die Ergebnisse ihrer Recherchen vorerst geheim hält, hängt auch damit zusammen, dass diese an die Unabhängige Internationale Syrien-Untersuchungskommission der Vereinten Nationen weitergegeben werden. Die war kurz nach ­Beginn des Aufstands gegen Assad ins ­Leben gerufen worden, um die Verbrechen des syrischen Staats zu dokumentieren. Fast anderthalb Jahrzehnte später könnten die von der Kommission gesammelten Indizien dabei helfen, der von Krieg und Menschenrechtsverletzungen erschütterten Bevölkerung ein Gefühl von Gerechtigkeit zu vermitteln. Das ­zumindest ist die kleine Hoffnung von Fayzal Yussif.

Markus Bickel ist Redakteur, Reporter, Balkan- und Nahostkorrespondent und Publizist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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