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Russland: Unterdrückung von Kritik am russischen Angriffskrieg in der Ukraine
Kritik unerwünscht: Festgenommene Demonstration-Teilnehmer*innen, die in der russischen Stadt Sankt Petersburg gegen den Ukraine-Krieg protestierten (24. Februar 2022).
© IMAGO / ITAR-TASS
Während die russische Führung ihren Angriffskrieg gegen die Ukraine fortsetzt, geht sie im eigenen Land gegen diejenigen vor, die den Krieg und die von den russischen Streitkräften begangenen Kriegsverbrechen kritisieren.
Zahlreichen Menschen in Russland drohen bis zu zehn Jahre Haft, in manchen Fällen sogar länger, weil sie laut den Behörden "falsche Informationen über die Streitkräfte" verbreitet haben sollen – ein neuer Straftatbestand, der eingeführt wurde, um gegen Kriegskritiker*innen vorzugehen. Betroffen von den strafrechtlichen Maßnahmen sind unter anderem Studierende, Rechtsbeistände, Kunstschaffende und Politiker*innen. Die Stimmen derjenigen, die sich gegen den Krieg und die von den russischen Streitkräften begangenen Verstöße aussprechen, dürfen nicht zum Schweigen gebracht werden. Durch die Unterdrückung kritischer Stimmen versuchen die russischen Behörden, die öffentliche Meinung über den Ukraine-Krieg zu ihren Gunsten zu beeinflussen.
Amnesty International dokumentiert hier beispielhaft die Fälle von zehn Personen, die derzeit wegen ihrer öffentlichen Kritik am Krieg inhaftiert sind. Die Zahl derer, die wegen ihrer Kritik am Krieg nach verschiedenen Paragrafen des Strafgesetzbuches verfolgt werden, liegt Berichten zufolge bei über 200. Amnesty International fordert die russischen Behörden auf, diese Personen unverzüglich und bedingungslos freizulassen und die neuen Gesetze sowie alle anderen mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung unvereinbaren gesetzlichen Bestimmungen aufzuheben.
Außerdem appelliert Amnesty erneut an die internationale Gemeinschaft, ihre Handhabe durch internationale und regionale Mechanismen voll auszuschöpfen, um eine wirksame Untersuchung der Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte in der Ukraine sicherzustellen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Ein entscheidendes Element, um diesen Verstößen ein Ende zu setzen, ist die Unterstützung derjenigen in Russland, die sich dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine aktiv entgegenstellen.
Protest trotz Repressionen: Demonstration gegen den Angriffskrieg in der Ukraine in der russischen Stadt Sankt Petersburg am 27. Februar 2022.
© IMAGO / NurPhoto
Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte in der Ukraine
Seit dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine am 24. Februar 2022 hat Amnesty International in mindestens 20 ukrainischen Städten schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht seitens der russischen Streitkräfte aufgedeckt. In vielen Fällen handelt es sich eindeutig um Kriegsverbrechen. Amnesty fand Belege dafür, dass russische Soldat*innen in der Region um Kiew außergerichtliche Hinrichtungen durchführten, in Charkiw bei wahllosen Angriffen Zivilpersonen töteten und in Mariupol wissentlich ein Theater bombardierten, in dem Hunderte Zivilpersonen Schutz gesucht hatten.
Weitere mutmaßliche Kriegsverbrechen müssen umgehend völkerrechtlich untersucht werden, so zum Beispiel eine Explosion im Dorf Oleniwka, bei der am 29. Juli mehr als 50 ukrainische Kriegsgefangene getötet wurden, die von Truppen der sogenannten "Volksrepublik Donezk" in der Ostukraine festgehalten worden waren. Die russischen Behörden verweigern internationalen Ermittlungsteams jedoch bisher den Zugang.
Berichte über Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht durch russische Truppen werden von der russischen Führung größtenteils ignoriert oder mittels der Verbreitung von Desinformationen und Fehlinformationen zu diskreditieren versucht. Die russische Bevölkerung wird durch ein hartes Vorgehen der Behörden daran gehindert, diese Anschuldigungen zur Kenntnis zu nehmen oder zu debattieren. Das wichtigste Instrument dieses Vorgehens ist die Strafverfolgung aller derjenigen, die kritische Ansichten äußern.
Hintergrund und Einführung des Gesetzes über "Verbreitung falscher Informationen über den Einsatz der russischen Streitkräfte"
Der Einmarsch in die Ukraine stieß in Russland auf Kritik. Zehntausende Russ*innen protestierten friedlich auf der Straße und kritisierten den Angriffskrieg in den Sozialen Medien. Die russischen Behörden reagierten mit scharfen Maßnahmen gegen Demonstrierende und Kritiker*innen und nahmen laut Berichten der Menschenrechtsorganisation OVD-Info mehr als 16.000 Personen fest, weil sie gegen die übermäßig restriktiven Vorschriften für öffentliche Versammlungen verstoßen hatten. Die Behörden gingen auch hart gegen die wenigen verbliebenen unabhängigen Medien vor, indem sie viele Medienschaffende zwangen, die Redaktionen zu schließen, das Land zu verlassen oder ihre Berichterstattung über den Krieg einzuschränken und stattdessen offizielle russische Berichte zu zitieren. Seither wurden weitere Menschenrechtsorganisationen als "ausländische Agenten" bzw. "unerwünscht" eingestuft, willkürlich geschlossen, in ihrer Online-Präsenz eingeschränkt und anderweitig schikaniert.
Diese harte Linie wurde von den Behörden zügig mit neuen Gesetzen untermauert. Nur wenige Tage nach dem Einmarsch in der Ukraine bedienten sich die Abgeordneten der Staatsduma eines Gesetzentwurfs, der fast vier Jahre zuvor nach erster Lesung auf Eis gelegt worden war, und änderten dessen Inhalt mittels zahlreicher neuer Zusätze komplett ab. Dies war offenkundig ein Versuch, beim Gesetzgebungsverfahren Abkürzungen zu nehmen. Die überarbeitete Gesetzesvorlage führte den Paragrafen 207.3 ("öffentliche Verbreitung wissentlich falscher Informationen über den Einsatz der russischen Streitkräfte") sowie zwei weitere neue Bestimmungen im Strafgesetzbuch ein – Paragrafen 280.3 ("öffentliche Aktionen, die darauf abzielen, die russischen Streitkräfte zu diskreditieren") und 284.2 ("Aufrufe zur Einführung restriktiver Maßnahmen gegen die Russische Föderation, ihre Bürger oder juristische Personen"). Sie alle stellen die Äußerung kritischer Ansichten über die russischen Behörden oder deren politische Maßnahmen unter Strafe.
Die Änderungen wurden am 2. März vorgelegt, woraufhin der Entwurf von beiden Kammern des Parlaments angenommen und von Präsident Putin unterzeichnet wurde. Am 4. März war das Gesetz bereits rechtskräftig. Die Verabschiedung im Eiltempo verhinderte eine öffentliche Debatte über die Gesetzesänderungen und machte deutlich, dass die Behörden keinerlei Kritik am Ukraine-Krieg dulden.
Drei Wochen später, am 25. März, wurden weitere Änderungen an Paragraf 207.3 vorgenommen, um das Verbot der "Verbreitung wissentlich falscher Informationen" nicht nur auf die russischen Streitkräfte, sondern auch auf andere russische Staatsorgane im Ausland anzuwenden. Diese Änderung wurde ebenfalls im Schnellverfahren angenommen.
Derzeit laufen mehr als 80 Strafverfahren in Verbindung mit nur einem dieser neuen Straftatbestände, nämlich der "Verbreitung wissentlich falscher Informationen" bezüglich des russischen Einsatzes in der Ukraine.
"Nein zum Krieg": Demonstration gegen den Angriffskrieg in der Ukraine in der russischen Stadt Sankt Petersburg am 27. Februar 2022.
© IMAGO / ITAR-TASS
Inhalt der neuen Gesetzesänderungen
Paragraf 207.3 des Strafgesetzbuchs kriminalisiert die "öffentliche Verbreitung wissentlich falscher Informationen, die als wahrheitsgemäße Nachrichten getarnt sind und Angaben über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation zum Schutz der Interessen der Russischen Föderation und ihrer Bürger*innen und zur Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der Sicherheit enthalten, sowie Angaben über staatliche Organe der Russischen Föderation, die ihre Befugnisse über russische Grenzen hinweg mit demselben Ziel ausüben". Bei einer Verurteilung im Sinne dieses Paragrafen kann je nach Situation eine Haftstrafe von bis zu 15 Jahren verhängt werden. Absatz 2 dieses Paragrafen, der in den meisten berichteten Fällen herangezogen wird, sieht entweder fünf bis zehn Jahre Haft oder eine Geldstrafe zwischen drei und fünf Mio. Rubel (etwa 50.000 bis 83.000 Euro) vor.
Aus Amnesty International vorliegenden Fallakten geht hervor, dass die Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden nicht überprüfen, ob die veröffentlichten Informationen tatsächlich falsch beziehungsweise "wissentlich falsch" sind. Stattdessen führen Angehörige der Ermittlungsbehörden in den meisten Fällen lediglich an, dass die besagten Veröffentlichungen im Widerspruch zu Aussagen stünden, die von russischen Regierungsangehörigen wie zum Beispiel dem Außenminister oder dem Sprecher des Verteidigungsministeriums gemacht wurden.
Diese Aussagen, die sich gelegentlich widersprechen und häufig Desinformationen oder Fehlinformationen enthalten, werden faktisch als "die Wahrheit" betrachtet, die nicht überprüft werden muss. In der Folge werden allgemein bekannte und gut recherchierte Fakten als "falsche Informationen" ausgegeben, da sie der offiziellen Linie der russischen Regierung widersprechen. Sich auf diese Fakten zu beziehen, wird zu einer schweren Straftat.
Internationale Standards
Russland ist mehreren internationalen Menschenrechtsinstrumenten beigetreten, wie zum Beispiel dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, der GUS-Konvention über die Rechte und Grundfreiheiten der Menschen sowie der Schlussakte von Helsinki. Auch wenn Russland nicht mehr Mitglied im Europarat ist, bleibt die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten für das Land noch bis zum 16. September 2022 gültig. Gemäß all dieser internationalen Instrumente, dem Völkergewohnheitsrecht und Russlands eigener Verfassung sind die russischen Behörden verpflichtet, die Menschenrechte zu achten, was auch das Recht auf freie Meinungsäußerung einschließt.
Das Verbot der Weitergabe von Informationen über die Aktivitäten der russischen Streitkräfte beeinträchtigt das Recht auf freie Meinungsäußerung und damit auch das Recht, Informationen zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben, das unter anderem durch den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, die Europäische Menschenrechtskonvention, die GUS-Konvention und die russische Verfassung garantiert ist. Die russischen Behörden können diese Rechte zwar einschränken, doch müssen solche Einschränkungen notwendig und verhältnismäßig sein, um die Existenz der russischen Nation, ihre territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit vor Gewalt oder Gewaltandrohung zu schützen. Die pauschale Kriminalisierung von Kritik an den Streitkräften erfüllt diese Anforderung nicht.
Die Anwendung dieser Gesetzgebung zur Unterdrückung von Kritik verstößt gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung, insbesondere indem alle Informationen, die der offiziellen Linie der russischen Regierung zuwiderlaufen, als "falsche Informationen über die Streitkräfte" deklariert werden. Laut UN-Menschenrechtsausschuss ist die "Meinungsfreiheit eine notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung der Grundsätze von Transparenz und Rechenschaftspflicht, welche wiederum unverzichtbar sind für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte". Die Strafverfolgung von Personen, die über Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht durch russische Truppen berichtet haben, scheint zur Straffreiheit für Kriegsverbrechen und zu Russlands offensichtlicher Verschleierung schwerer Verstöße gegen das Genfer Abkommen beizutragen. Diese Praxis läuft daher den Verpflichtungen Russlands gemäß dem humanitären Völkerrecht zuwider, und insbesondere Artikel 1 der Genfer Abkommen, in dem sich die Vertragsparteien verpflichten, die Abkommen einzuhalten und ihre Einhaltung durchzusetzen – unter anderem durch die Verhinderung von Kriegsverbrechen und die Bestrafung der Verantwortlichen.
Betroffene Personen
Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts waren über 80 Strafverfahren nach Paragraf 207.3 eingeleitet worden. Amnesty International hat nicht alle diese Strafverfahren prüfen können, es wurde jedoch kein Fall gemeldet, bei dem die russischen Behörden damit auf eine international anerkannte Straftat reagierten. Die folgenden Beispiele zeigen, wie Menschen in Russland strafrechtlich verfolgt werden, weil sie friedlich ihre abweichende Meinung oder ihren Protest gegen die Menschenrechtsverletzungen des russischen Militärs in der Ukraine geäußert haben.
Alexej Gorinow und Ilja Jaschin sind Mitglieder der russischen Oppositionsbewegung Solidarität und Gemeinderatsmitglieder im Moskauer Bezirk Krasnoselskij. Der Anwalt Alexej Gorinow ist seit den späten 1980er Jahren politisch aktiv. Damals unterstützte er den demokratischen Wandel in der ehemaligen Sowjetunion. Ilja Jaschin ist ein bekannter Aktivist der Opposition, der Proteste anführt, Wahlkampagnen organisiert hat und einen beliebten YouTube-Kanal betreibt.
Alexej Gorinow wurde am 26. April wegen Äußerungen festgenommen, die er auf einer Gemeinderatssitzung am 15. März gemacht hatte. Den Ermittler*innen zufolge verbreitete er "wissentlich falsche Informationen", indem er den Konflikt als Aggression und Krieg bezeichnete und sagte, darin würden täglich Kinder sterben. Zudem behaupteten die Ermittler*innen, ohne Beweise vorzulegen, dass Alexej Gorinow sich mit seiner Kollegin Jelena Kotjonotschkina verschworen habe, um diese "falschen Informationen" zu verbreiten. Am 8. Juli verurteilte ihn ein Bezirksgericht in Moskau zu einer siebenjährigen Haftstrafe, der ersten Freiheitsstrafe, die nach dem neu eingeführten Paragrafen 207.3 verhängt wurde. Jelena Kotjonotschkina konnte Russland verlassen.
Ilja Jaschin wurde in der Nacht des 27. Juni festgenommen, als er mit einer Freundin spazieren ging. Ihm wurde vorgeworfen, "polizeiliche Anordnungen missachtet" zu haben, obwohl er und die Freundin bestritten, dass die Polizei ihnen irgendwelche Anordnungen gemacht hatte. Ilja Jaschin wurde für 15 Tage in Verwaltungshaft genommen. Am Abend des 12. Juli, wenige Stunden vor seiner Entlassung, wurde dem Politiker mitgeteilt, dass gegen ihn ein Ermittlungsverfahren nach Paragraf 207.3, Absatz 2 eingeleitet wurde. Dem Strafverfahren soll ein YouTube-Video zugrunde liegen, in dem Ilja Jaschin Berichte über Tötungen von Zivilpersonen durch die russischen Streitkräfte in der Stadt Butscha in der Ukraine diskutiert und die Desinformation des Kremls dazu kritisiert. Am 13. Juli kam Ilja Jaschin in Untersuchungshaft.
Marina Ovsyannikova ist eine ehemalige Redakteurin des staatlichen Ersten Kanals, die internationale Aufmerksamkeit erregte, als sie am 14. März eine Live-Nachrichtensendung störte, indem sie mit einem Antikriegsplakat durch das Studio lief. Daraufhin wurde sie wegen "Abhalten einer rechtswidrigen öffentlichen Versammlung" zu einer Geldstrafe verurteilt, gab ihren Job beim Fernsehen auf und zog nach Deutschland.
Im Juli kehrte Marina Ovsyannikova nach Moskau zurück. Am 15. Juli protestierte sie allein in der Nähe des Kremls mit einem Plakat, auf dem sie Wladimir Putin als Mörder bezeichnete und darauf hinwies, dass in der Ukraine 352 Kinder getötet worden seien. Das Büro der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte meldete ähnliche Zahlen. Ihr Protest dauerte nur vier Minuten, aber die unabhängigen Medien berichteten ausführlich darüber. Marina Ovsyannikova veröffentlichte auch ein Foto und ein kurzes Video des Protests auf ihrem Telegram-Kanal.
Am 10. August durchsuchte das Untersuchungskomitee – eine eigenständige staatliche Behörde, die für die Untersuchung schwerer Verbrechen zuständig ist – die Wohnung von Marina Ovsyannikova, nahm sie fest und verhörte sie. Sie wurde gemäß Paragraf 207.3, Artikel 2 angeklagt, weil sie am 15. Juli eine Demonstration abgehalten und das Foto und das Video verbreitet hatte. Den Behörden zufolge hatte sie "wissentlich falsche Informationen" darüber verbreitet, dass die russischen Streitkräfte Zivilpersonen, darunter auch Kinder, getötet haben. Am nächsten Tag wurde sie nach einer Gerichtsverhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit unter Hausarrest gestellt, in dem sie sich zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Berichts befand.
Viktoria Petrova arbeitete als Managerin in Sankt Petersburg. Sie ist bei der russischen Online-Plattform Vkontakte (VK) angemeldet, wo sie sich mit einigen Dutzend Freund*innen über aktuelle Geschehnisse austauscht. Ihr Rechtsbeistand beschreibt sie als "ein ganz normaler Mensch... wie du und ich". Nach der russischen Invasion der Ukraine am 24. Februar begann sie damit, regelmäßig Videos von verschiedenen Quellen zusammenzutragen und auf ihrer VK-Seite einzustellen; gleichzeitig mahnte sie, offiziellen Medienkanälen nicht zu trauen und gegen den Krieg zu protestieren. Viktoria Petrova selbst wurde zweimal wegen friedlicher Straßenproteste festgenommen und verbrachte im März zehn Tage in Verwaltungshaft.
Am frühen Morgen des 6. Mai nahm die Polizei Viktoria Petrova bei ihr zuhause fest und warf ihr vor, gegen Paragraf 207.3, Absatz 2 verstoßen zu haben. Man durchsuchte ihre Wohnung und beschlagnahmte elektronische Geräte und Anti-Kriegs-Plakate. Seither befindet sie sich in Untersuchungshaft.
Viktoria Petrova wird vorgeworfen, mehrere VK-Beiträge veröffentlicht zu haben, in denen sie sich kritisch über die Entscheidung der russischen Behörden zum Einmarsch in die Ukraine sowie über Unterstützer*innen des Krieges und durch russische Truppen begangene Kriegsverbrechen äußerte. Sie teilte zudem Aufnahmen von Reden des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, Beiträge russischer Journalist*innen und Aktivist*innen gegen den Krieg sowie Videomaterial, auf dem zerstörte Infrastruktur zu sehen ist, wofür russische Truppen verantwortlich sein sollen. Sie nahm außerdem ein eigenes Video auf. Viktoria Petrova forderte andere Nutzer*innen auf, sich kriegskritischen Protesten anzuschließen, humanitäre Hilfe für die Ukraine zu leisten, und Verwandten und Freunden alternative Informationen über den Krieg zukommen zu lassen.
Maria Ponomarenko ist als Journalistin für das Online-Nachrichtenportal RusNews in Barnaul in der Region Altai tätig. Sie wurde am 24. April in Sankt Petersburg festgenommen, gemäß Paragraf 207.3, Absatz 2 angeklagt und in Untersuchungshaft genommen. Später wurde sie nach Barnaul verlegt und mehrere Wochen lang in einer psychiatrischen Klinik festgehalten, wo man ihre n Geisteszustand untersuchte. In einem Brief, der von ihren Unterstützer*innen veröffentlicht wurde, gibt die Journalistin an, in der Klinik gegen ihren Willen mit einem unbekannten Wirkstoff injiziert worden zu sein.
Amnesty International vorliegenden Informationen zufolge lag ihrer Strafverfolgung ein Beitrag zugrunde, der am 17. März veröffentlicht und inzwischen wieder gelöscht wurde. Darin ging es um den Angriff auf das Akademische Dramatheater in Mariupol durch russische Truppen am 16. März. Es handelte sich um Aufnahmen, die das Theater vor dem Angriff zeigten, mitsamt einem kurzen Kommentar, der zivile Todesopfer verurteilte. Amnesty International kam aufgrund eigener Recherchen zu dem Schluss, dass der Angriff von russischen Truppen ausging und dass es sich dabei um ein Kriegsverbrechen handelte.
Dmitry Ivanov, ein Informatikstudent und Sprecher der Initiativgruppe der Staatlichen Universität Moskau (auf Russisch abgekürzt als "IG MGU"), einer Gruppe für die Rechte von Studierenden, wurde am 28. April auf dem Campus festgenommen. Ihm wurde vorgeworfen, auf dem Telegram-Kanal der IG MGU einen Beitrag geteilt zu haben, der zu friedlichen Protesten aufrief. Aufgrund der restriktiven Bestimmungen über öffentliche Versammlungen gilt allein dies bereits als Vergehen. Der Student wurde daraufhin zehn Tage lang in Verwaltungshaft genommen. Am 8. Mai, als Dmitry Ivanov aus der Hafteinrichtung entlassen wurde, nahm man ihn umgehend erneut fest und verlängerte seine Verwaltungshaft um weitere 25 Tage auf Grundlage des Vorwurfs, zu Protesten aufgerufen zu haben. Er hätte am 2. Juni freigelassen werden sollen, doch stattdessen wurde er zum dritten Mal in Folge festgenommen.
Diesmal wurden schwerere Vorwürfe gemäß Paragraf 207.3, Absatz 2 gegen ihn erhoben. In von Amnesty International eingesehenen Fallakten machen die Behörden geltend, Dmitry Ivanov habe "wissentlich falsche Informationen über die russischen Streitkräfte verbreitet", indem er Beiträge anderer Aktivist*innen und Journalist*innen, in denen Kriegsverbrechen angeprangert wurden, sowie einige Aussagen des ukrainischen Präsidenten Selenskyj geteilt hatte. Zudem hatte er den Konflikt als Krieg bezeichnet und nicht wie vorgeschrieben als "militärischen Sondereinsatz", und gesagt, das russische Militär würde friedliche Städte in der Ukraine zerstören. Der Aktivist befindet sich derzeit noch in Untersuchungshaft und sein Verfahren soll am 21. September beginnen. Aufgrund seiner wiederholten Festnahme und Inhaftierung war Dmitry Ivanov nicht in der Lage, seine Prüfungen abzulegen und seinen Abschluss zu machen.
Ioann Kurmoyarov, ein orthodoxer Priester und Mönch aus Sankt Petersburg, hat einen YouTube-Kanal und eine VK-Seite, auf denen er über spirituelle Themen und aktuelle Geschehnisse spricht. Seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine verurteilt er die Invasion als Aggression und fordert Christ*innen auf, sich dagegen auszusprechen. Am 1. April 2022 wurde er des Priesteramts enthoben. Am 7. Juni wurde Ioann Kurmoyarov festgenommen und unter dem Vorwurf der "Verbreitung wissentlich falscher Informationen" gemäß Paragraf 207.3, Absatz 2 in Untersuchungshaft genommen.
Aleksandra Skochilenko, eine Künstlerin aus Sankt Petersburg, ersetzte in örtlichen Supermärkten Preisschilder durch Antikriegsinformationen, darunter Informationen über die Bombardierung einer Kunstakademie in Mariupol am 31. März. Am 11. April wurde sie von Angehörigen des Untersuchungskomitees festgenommen, gemäß Paragraf 207.3, Absatz 2 wegen "Verbreitung wissentlich falscher Informationen" angeklagt und in Untersuchungshaft genommen. Die Künstlerin leidet an Zöliakie und erhält in der Haft nicht die dafür erforderlichen glutenfreien Nahrungsmittel. Im Juni wurde sie 20 Tage lang in eine psychiatrische Klinik in Sankt Petersburg verlegt, um ihren Geisteszustand untersuchen zu lassen.
Vladimir Kara-Murza ist ein politischer Aktivist und Journalist, der in Russland für seine öffentliche Unterstützung der "Magnitsky-Liste" (EU-Mechanismus für gezielte finanzielle Sanktionen und Reisebeschränkungen gegen Personen, denen Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden) bekannt ist. In jüngsten Jahren hat er zwei Vergiftungsversuche überlebt, die von den russischen Behörden nicht untersucht wurden.
Am 22. April wurde Vladimir Kara-Murza in der Nähe seiner Wohnung in Moskau willkürlich festgenommen, weil er sich der Polizei widersetzt haben soll. Er wurde 15 Tage lang in Verwaltungshaft genommen und gegen Ende seiner Haftzeit unter Paragraf 207.3, Absatz 2 angeklagt. Grundlage für die Anklage war eine Rede, die der Politiker am 15. März im Abgeordnetenhaus des US-Bundesstaats Arizona gehalten hatte. Darin verurteilte er den Einsatz von "Streubomben in Wohngebieten, die Bombardierung von Entbindungsstationen und Krankenhäusern und Schulen" durch das russische Militär in der Ukraine als Kriegsverbrechen. Er befindet sich nach wie vor in Untersuchungshaft.
Am 2. August erhob die Ermittlungsbehörde einen weiteren Vorwurf gegen Vladimir Kara-Murza. Man warf ihm vor, ein Diskussionsforum über politische Gefangene in Russland organisiert zu haben, welches angeblich Gelder von einer "unerwünschten Organisation" erhalten hat. Wer Verbindungen zu einer solchen Organisation unterhält, macht sich in Russland gemäß Paragraf 284.1, Absatz 1 des Strafgesetzbuches strafbar und muss mit bis zu vier Jahren Haft rechnen. Amnesty International kritisiert das russische Gesetz über "unerwünschte Organisation" als Verstoß gegen die Rechte auf Vereinigungs- und Meinungsfreiheit, und hat in vergangenen Veröffentlichungen auf die willkürliche Anwendung und Durchsetzung des Gesetzes hingewiesen.
Dmitry Talantov arbeitet als Rechtsanwalt in Ischewsk in der Republik Udmurtien und ist Präsident der Anwaltskammer der Republik Udmurtien. Einer seiner Mandanten ist Ivan Safronov, ein ehemaliger Journalist, der seit Juli 2020 wegen Hochverrats inhaftiert ist. Amnesty International ist der Ansicht, dass das Verfahren gegen den Journalisten aller Wahrscheinlichkeit nach politisch motiviert ist, und hat dokumentiert, dass seine Rechtsbeistände unangemessen unter Druck gesetzt werden.
Gegen Dmitry Talantov läuft ein Strafverfahren, weil er in einem Facebook-Post den russischen Einmarsch in der Ukraine kritisiert hat. Er wurde am 28. Juni in Ischewsk festgenommen und nach Moskau gebracht, wo tags darauf ein Gericht entschied, ihn in Untersuchungshaft zu nehmen. In der Untersuchungshafteinrichtung erhielt der 61-Jährige Berichten zufolge kein Bett, sondern musste mehrere Nächte lang auf einer Bank zubringen.
Schlussfolgerung
Amnesty International ist der Ansicht, dass alle oben genannten Personen – Alexej Gorinow, Ilya Yashin, Marina Ovsyannikova, Viktoria Petrova, Maria Ponomarenko, Dmitry Ivanov, Ioann Kurmoyarov, Aleksandra Skochilenko, Vladimir Kara-Murza und Dmitry Talantov – gewaltlose politische Gefangene sind, die allein aufgrund der friedlichen Wahrnehmung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung strafverfolgt werden. Sie müssen umgehend und bedingungslos freigelassen und die gegen sie erhobenen Anklagen fallengelassen werden.
Darüber hinaus fordert Amnesty International die russischen Behörden auf:
- Paragraf 207.3 des Strafgesetzbuches aufzuheben, da er mit Russlands Verpflichtungen gemäß den internationalen Menschenrechtsnormen unvereinbar ist.
- Weitere gesetzliche Bestimmungen aufzuheben, welche die Ausübung des Rechts auf Meinungsfreiheit übermäßig einschränken, zum Beispiel Straftatbestände wie "Verbreitung falscher Informationen", "Diskreditierung staatlicher Organe", "Aufrufen zu Sanktionen", "Verletzung religiöser Gefühle", "Teilnahme an Aktivitäten einer unerwünschten Organisation" und weitere.
- Bis zur Umsetzung dieser Gesetzesänderungen: umgehend die Strafverfolgung von Personen einzustellen, die friedlich ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen, da in diesen Fällen keine international als Straftat anerkannte Handlung begangen wurde.
- Alle Personen, die nur aufgrund der friedlichen Ausübung ihres Rechts auf Meinungsfreiheit in Haft sind, umgehend und bedingungslos freizulassen und sie umfassend und fair zu entschädigen.
- Die zwangsweise psychiatrische Einweisung und Behandlung von Inhaftierten zu beenden, da dies Folter und anderen Misshandlungen gleichkommen kann. Alle für derartige Praktiken Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden.
- Dafür zu sorgen, dass alle Menschen in Russland ihre Meinung frei äußern und Informationen weitergeben können, auch was den Krieg in der Ukraine betrifft.