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Russland: Neue Vorwürfe zu Antikriegsaktion
Die russische Künstlerin Aleksandra Skochilenko protestierte im März 2022 in einem Supermarkt in St. Petersburg gegen die russische Invasion der Ukraine, indem sie Preisschilder durch Anti-Krieg-Slogans ersetzte.
© privat
Die Aktivistin, Songschreiberin und Künstlerin Aleksandra Skochilenko wurde im April 2022 festgenommen, weil sie in einem Supermarkt in Sankt Petersburg Preisschilder durch Antikriegsinformationen ersetzt haben soll. Bei einer Verurteilung drohen ihr bis zu zehn Jahre Haft, nur weil sie friedlich ihren Widerstand gegen den Krieg zum Ausdruck gebracht hat. Ihre Untersuchungshaft wurde mehrfach verlängert, unter anderem weil ihr vorgeworfen wird einer "radikalfeministischen Protestgruppe" anzugehören. Sie erhält in der Untersuchungshaft nicht die Ernährung und medizinische Versorgung, auf die sie dringend angewiesen ist, und wird darüber hinaus schikaniert.
Appell an
Melnik Viktor Dmitrievich
Prosecutor of Saint Petersburg
2/9 Pochtamtskaya street
Saint Petersburg, 190000
RUSSISCHE FÖDERATION
Sende eine Kopie an
Botschaft der Russischen Föderation
S. E. Herrn Sergej J. Netschajew
Unter den Linden 63-65
10117 Berlin
Fax: 030-2299 397
E-Mail: info@russische-botschaft.de
Amnesty fordert:
- Lassen Sie bitte alle Anklagen gegen Aleksandra Skochilenko fallen und veranlassen Sie unverzüglich ihre bedingungslose Freilassung.
- Bitte stellen Sie bis dahin sicher, dass die Haftbedingungen und die Behandlung von Aleksandra Skochilenko internationalen Standards entsprechen und dass sie Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung und angemessener Ernährung zu denselben Standards hat, die außerhalb der Untersuchungshaft verfügbar sind.
Sachlage
Aleksandra Skochilenko ist eine Songschreiberin und Künstlerin aus Sankt Petersburg, die international für ihr Engagement zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen bekannt ist. Ihr wird die "öffentliche Verbreitung wissentlich falscher Informationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation und die Ausübung der Befugnisse der staatlichen Organe der Russischen Föderation" gemäß dem kürzlich hinzugefügten Paragrafen 207.3 Absatz 2 des Strafgesetzbuchs vorgeworfen. Grund für die Anklage ist, dass sie Preisschilder in örtlichen Supermärkten durch Antikriegsinformationen ersetzt haben soll, darunter Informationen über die Toten durch die Bombardierung des Theaters von Mariupol. Eine solche Aktion ist allerdings keine international als Straftat anerkannte Handlung. Alexandra Skotschilenko ist eine gewaltlose politische Gefangene, die nur aufgrund der friedlichen Wahrnehmung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung ihrer Freiheit beraubt ist. Bei einer Verurteilung drohen ihr fünf bis zehn Jahre Haft.
Am 11. April durchsuchte die Polizei die Wohnung von Aleksandra Skochilenko, nahm sie fest und verhörte sie bis 3 Uhr morgens. Am 13. April ordnete das Bezirksgericht Vasileostrovsky in Sankt Petersburg an, sie bis zum 1. Juni in Untersuchungshaft zu nehmen. Diese wird nun immer weiter verlängert.
Am 30. Juni legte das Zentrum für Extremismusbekämpfung einen Bericht vor, in dem behauptet wird, dass Aleksandra Skochilenko Mitglied einer "radikalfeministischen Protestgruppe" namens "Achte Initiativgruppe" sei. Das Zentrum für Extremismusbekämpfung – auch Zentrum "E" – ist eine Polizeieinheit, die auf die Überwachung und Verfolgung von Oppositionellen und Regierungskritiker*innen spezialisiert ist. Aleksandra Skochilenko gibt an, dass sie noch nie von dieser Gruppe gehört habe. Es ist davon auszugehen, dass der Bericht vorgelegt wurde, um die verlängerte Inhaftierung von Aleksandra Skochilenko zu rechtfertigen. Doch vermuten sowohl Aleksandra Skochilenko als auch ihre Rechtsbeistände, dass die im Bericht erhobenen Vorwürfe später gegen sie verwendet werden könnten.
Aleksandra Skochilenko ist durch Zöliakie, eine genetische Glutenintoleranz, gesundheitlich stark beeinträchtigt. Dass sie in der Untersuchungshaft nicht die erforderliche Ernährung und medizinische Versorgung erhält, stellt eine große Gefahr für ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden dar. Wenn sie glutenhaltige Nahrung zu sich nimmt, kann das letztlich zu Organversagen, Krebs oder Autoimmunerkrankungen führen. Angaben ihres Rechtsbeistands zufolge versorgt sie die Untersuchungshafteinrichtung auch weiterhin nicht ausreichend mit glutenfreien Lebensmitteln und lässt es auch nicht zu, dass sie entsprechende Nahrungsmittel von ihrer Familie erhält. Dies stellt eine ernste Gefahr für ihre Gesundheit dar. Aleksandra Skochilenko hat erheblich an Gewicht verloren, und ihr Gesundheitszustand hat sich in der Haft erheblich verschlechtert.
Hintergrundinformation
Die Sankt Petersburgerin ist in der Kunstszene bekannt: Sie schreibt Lieder, verfasst Comic-Bücher und Cartoons, organisiert Konzerte und Jamsessions. Außerdem hat sie das bekannte "Buch über Depressionen" geschrieben, das dazu beiträgt, das Stigma psychischer Erkrankungen zu verringern. Das Buch ist äußerst beliebt. Es wurde mehrfach neu aufgelegt und in mehrere Sprachen übersetzt und hat vielen Menschen innerhalb und außerhalb Russlands geholfen. Viele Videos und Ausstellungen wurden durch das Buch inspiriert.
Aleksandra Skochilenko leidet an Zöliakie, einer genetischen Glutenintoleranz, und muss sich glutenfrei ernähren. Am 20. April hieß es, dass sich ihr Gesundheitszustand durch das Fehlen glutenfreier Nahrungsmittel verschlechtert habe. Am 21. April teilte ihr Rechtsbeistand Amnesty International mit, dass die Haftanstalt ihr schließlich erlaubt habe, ein Paket ihrer Familie mit Lebensmitteln zu erhalten, die ihrer glutenfreien Ernährung entsprechen.
Am 23. April wurde Aleksandra Skochilenko jedoch von der provisorischen Haftanstalt, in der ihr das Lebensmittelpaket ihrer Familie ausgehändigt wurde, in ein Untersuchungsgefängnis gebracht. Nach einem Besuch bei ihr in der Untersuchungshaftanstalt am 25. April berichtete einer der Rechtsbeistände, dass sich ihr Gesundheitszustand verschlechtert habe. Sie konnte nichts essen, da sie nicht das erforderliche glutenfreie Essen erhielt und ihre Familie ihr auch kein weiteres Essen schicken durfte. Daher fühlte sie sich die meiste Zeit über schwach. Zudem wurde sie von den Wärter*innen und ihren Zellengenoss*innen psychisch unter Druck gesetzt.
Ab 7. Mai verbesserten sich die Haftbedingungen von Aleksandra Skochilenko, nachdem die oben geschilderten Zustände in den Medien skandalisiert wurden. So wurde sie in eine Zelle mit nur einer weiteren Mitgefangenen verlegt, die sie nicht schikanierte.
Am 8. Juni wurde Aleksandra Skochilenko in eine psychiatrische Klinik gebracht, wo ein Gutachten über ihren psychischen Zustand erstellt werden sollte. Dort verbrachte sie drei Wochen, obwohl die entsprechende Diagnostik normalerweise nur einen Tag dauert und auch in der Untersuchungshaftanstalt durchgeführt werden kann. Während ihres Klinikaufenthalts verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand weiter. Obwohl Aleksandra Skochilenko offiziell darum gebeten hatte, ihre Lebensgefährtin als solche anzuerkennen, weigerten sich die Ärzt*innen, dieser Auskunft über ihren Gesundheitszustand zu geben – da sie keine nahe Verwandte sei. Auch der Rechtsbeistand von Aleksandra Skochilenko erhielt keinerlei Informationen seitens der Klinik. Obwohl Aleksandra Skochilenko über starke Schmerzen in der Brust und im Bauchraum klagte, wurde sie nicht medizinisch untersucht – begründet wurde dies mit Personalmangel.
Am 28. Juni wurde Aleksandra Skochilenko wieder in die Untersuchungshaftanstalt verlegt. Ihre Lebensgefährtin forderte erneut die medizinischen Unterlagen von Aleksandra Skochilenko an, doch die Behörden verweigerten die Herausgabe weiterhin. Erneut wurde Aleksandra Skochilenko die notwendige medizinische Behandlung verweigert.
In der Untersuchungshaftanstalt erhielt sie mindestens einmal am Tag glutenfreies Essen – das Frühstück und Abendessen musste sie jedoch nach wie vor ausfallen lassen. Die Künstlerin hat in der Haft stark an Gewicht verloren und ihre Gesundheit verschlechtert sich zusehends.
Am 1. August wurde Aleksandra Skochilenko erneut in eine provisorische Haftanstalt überstellt. Da es sich um eine kleinere Einrichtung handelt, könnte die Verlegung die Probleme, die für ihren Zustand erforderliche Ernährung und medizinische Versorgung zu erhalten, weiter verstärken.
Währenddessen wurde die Partnerin von Aleksandra Skochilenko zu einer Zeugin in ihrem Strafverfahren erklärt, was bedeutet, dass sich die beiden nicht sehen dürfen. Die von ihrer Partnerin gestellten Besuchsanträge wurden allesamt abgelehnt.