Aktuell Russische Föderation 15. Oktober 2021

Russland: Polizei-Razzia bei Menschenrechtsorganisation Memorial

Das Bild zeigt einen Schriftzug an einer Mauer

Am Abend des 14. Oktober 2021 wurde das Büro der Nichtregierungsorganisation Memorial International in Moskau von einem gewalttätigen Mob gestürmt. Anschließend durchsuchte die Polizei das Büro und hielt die Anwesenden mehrere Stunden lang rechtswidrig fest und verhörte sie.

Der Abend begann zunächst friedlich: Am 14. Oktober 2021 um 19 Uhr zeigte Memorial International zusammen mit dem Polnischen Kulturzentrum in Moskau den Film Mr. Jones der polnischen Filmemacherin Agnieszka Holland. Der Film erzählt die Geschichte des britischen Journalisten Gareth Jones, der als erster über Holodomor berichtete. Holodomor bezeichnet die Hungersnot 1932-33 in der Ukraine, die durch die Politik der Sowjetunion ausgelöst wurde und Millionen von Toten zur Folge hatte. 

Die Vorführung wurde durch die Ankunft von etwa 30 aggressiven Personen gestört. Videomaterial aus dem Memorialbüro zeigt, wie einige von ihnen auf die Bühne gehen und laut "Schämt euch!", "Faschisten!" und weitere Beleidigungen rufen, während andere Teile des Mobs einzelne Zuschauer_innen anpöbeln. Nach Angaben von Augenzeug_innen wurde der Mob von einer_m Reporter_in und mehreren Kameraleuten des regierungsfreundlichen Fernsehsenders NTV begleitet. Der Sender ist für seine Berichterstattung berüchtigt, die die Arbeit von Menschenrechtsverteidiger_innen und anderen zivilgesellschaftlichen Akteur_innen verunglimpft. Die Angreifer_innen weigerten sich, das Gelände zu verlassen, sodass Memorial-Mitarbeiter_innen die Polizei riefen. 

Nach dem Angriff folgte die Polizei-Razzia

Als die Polizei eintraf, hatten die meisten Angreifer_innen das Gebäude bereits verlassen, drei befanden sich noch im Haus. Bei ihrer Ankunft wurden sie von der Polizei festgenommen, ihre Pässe fotografiert und dann mitgenommen. Die Polizist_innen waren von der Polizeiwache Twerskoje. 

Memorial-Mitarbeiter_innen begaben sich gleichzeitig zu dieser Polizeiwache, um über den Angriff zu berichten und Anzeige zu erstatten. Sie bemerkten, dass die Festgenommenen während der etwa 90 Minuten, die die Mitarbeiter_innen auf der Polizeiwache verbrachten, dort nicht erschienen. Offenbar waren die Festgenommenen von der Polizei einfach wieder freigelassen worden. In Anbetracht dessen sowie des Ortes, an dem sich der Vorfall ereignete, und der geltenden Vorschriften hätten die Festgenommen normalerweise auf die Polizeiwache in Twerskoje gebracht und ein Verwaltungs- oder Strafverfahren gegen sie eröffnet werden müssen.

Informationen und Berichten in den Sozialen Medien zufolge verschloss die Polizei zwischenzeitlich die Türen des Memorialbüros mit Handschellen und ließ niemanden aus dem Büro. OVD-Info, ein unabhängiges Menschenrechts-Medienprojekt, veröffentlichte ein Video, das zeigt, wie die Polizei einen Mann unter Einsatz körperlicher Gewalt daran hindert, das Gebäude zu verlassen. Die Organisator_innen der Veranstaltung und das Publikum wurden über fünf Stunden lang rechtswidrig festgehalten. 

In der Zwischenzeit kontrollierten die Polizist_innen das Büro und unterzogen die Anwesenden einer sehr aufdringlichen Befragung. So wollte die Polizei beispielsweise wissen, wie die Teilnehmenden von der Vorführung erfahren hatten und ob sie vorbestraft waren. Diejenigen, die sich weigerten, diese Fragen zu beantworten und sich auf ihr verfassungsmäßiges Recht beriefen, nicht gegen sich selbst auszusagen, wurden von der Polizei offen bedroht. 

Gewalt, Drohungen, Verhöre

Die Polizei-Razzia und die unrechtmäßige Festsetzung der Anwesenden durch die Polizei dauerten über fünf Stunden. Die meiste Zeit verweigerte die Polizei den Anwält_innen, die gekommen waren, um den Festgenommenen Rechtsbeistand zu leisten, den Zutritt. Die Polizei beschlagnahmte einen Teil der Einbruchs- und Feuermeldeanlagen von Memorial (deren Wert als Beweismittel für die Untersuchung des Vorfalls fraglich ist). Dies führte unter anderem dazu, dass die Systeme unwirksam wurden, die Organisation nun anfälliger für weitere Angriffe ist und in dem Gebäude (das teilweise zu Wohnzwecken genutzt wird) unentdeckt ein Brand ausbrechen könnte. 

Die Umstände des Angriffs auf das Büro von Memorial deuten darauf hin, dass es sich um eine geplante und koordinierte Aktion gegen Memorial im Zusammenhang mit der unabhängigen Menschenrechtsarbeit der Organisation handelt. Dafür spricht die Tatsache, dass die Angreifer_innen von einem regierungsnahen Fernsehteam begleitet wurden, das anschließende Vorgehen der Polizei, einschließlich der rechtswidrigen Freiheitsberaubung der Anwesenden. Der Angriff ist Teil einer Reihe von Repressalien gegen Menschenrechts- und andere Aktivist_innen der Zivilgesellschaft ein, durchgeführt oder initiiert von den russischen Behörden. 

Amnesty International fordert die russischen Behörden auf, die Ereignisse des Angriffs auf das Büro von Memorial und die nachfolgende Polizei-Razzia unparteiisch und effektiv zu untersuchen, die Verantwortlichen des Angriffs zu identifizieren und sie in einem fairen Verfahren zur Rechenschaft zu ziehen. Die Polizist_innen, die für die rechtswidrige Festsetzung und andere Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Memorial-Mitarbeiter_innen und Zuschauer_innen verantwortlich sind, müssen ebenfalls zur Rechenschaft gezogen werden. 
 

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