Aktuell Russische Föderation 09. Mai 2022

Swetlana Gannuschkina: "Wir fordern, den Krieg zu beenden"

Das Bild zeigt das Porträtfoto einer Frau

Die russische Menschenrechtsverteidigerin Swetlana Gannuschkina (Archivbild)

Die russische Menschenrechtsverteidigerin Swetlana Gannuschkina ist Leiterin der Flüchtlingshilfsorganisation Civil Assistance und setzt sich schon seit Jahrzehnten für die Menschenrechte und für Schutzsuchende in Russland ein. Den russischen Angriffskrieg in der Ukraine verurteilt Gannuschkina öffentlich und riskiert damit ihre eigene Sicherheit.

Interview: Bernhard Clasen

Frau Gannuschkina, womit beschäftigen Sie sich gerade? 

Ich mache, was ich immer getan habe. Zunächst einmal helfen wir weiter Flüchtlingen. Und natürlich gibt es im Moment viele Flüchtlinge aus der Ukraine, die im Rahmen dieser von Putin organisierten Evakuierung evakuiert wurden. Wir werden auch von Flüchtlingen angesprochen, die schon lange hier sind, von Ukrainern, denen ein Status verweigert wurde.

Aber das ist natürlich nicht alles. Gleichzeitig versuchen wir als Gemeinschaft, als Zivilgesellschaft, dem Krieg entgegenzutreten, dem entgegenzuwirken, was jetzt durch unsere Schuld geschieht. 

Was hat sich durch den Kriegsbeginn verändert?

Die Situation hat sich historisch verändert, denn jetzt haben wir etwas verloren, worauf wir als Volk stolz waren. Etwas, worauf wir als Nation, die den Faschismus besiegt hatte, zu Recht stolz sein konnten. Wir waren stolz auf diesen Sieg, auf die Tatsache, dass wir im Zweiten Weltkrieg auf der Seite des Guten standen.

Jetzt haben wir durch das Verschulden unserer Regierung, durch das Verschulden des Staatsoberhauptes persönlich, diesen Wert verloren, einen sehr wichtigen Wert und eine Quelle des Stolzes. Das ist natürlich äußerst schwierig und unmöglich zu akzeptieren. Und das lastet auf unserem Gewissen, es quält uns. Meine Weggefährtinnen und Weggefährten sprechen sich alle gegen den Krieg aus.

Wir haben ein Anti-Kriegs-Manifest herausgegeben. Anderthalb Millionen Unterschriften wurden für die Petition "Nein zum Krieg" gesammelt, und die Repressionen gegen die, die sich gegen den Krieg aussprechen, haben begonnen. Ich bin 80 Jahre alt, ich erinnere mich an das Ende des Zweiten Weltkriegs, ich erinnere mich an dieses Gefühl der Freude über den Sieg.

Ich weiß, dass ich Weggefährten habe, die jetzt bereit sind, bis zum Letzten zu gehen, die bereit sind, jede Unterdrückung zu ertragen, weil sie genauso wie ich nicht akzeptieren können, was geschieht. Ich habe da eine etwas günstigere Situation, weil ich neben den öffentlichen Aktionen, an denen ich mehr oder weniger beteiligt bin, auch unmittelbar Menschen helfe. Ich verstehe, dass ich involviert bin, dass ich gebraucht werde und dass ich wieder auf der Seite des Guten stehe. 

Amnesty-Video mit Swetlana Gannuschkina:

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Und wie beeinflusst der Krieg Ihre Arbeit?
Unsere Arbeit war und ist natürlich schon dadurch beeinträchtigt, dass viele von denen, die wir angeblich im Donbass und im Gebiet Luhansk schützen, hier keinen Status erhalten, insbesondere nicht in Moskau und St. Petersburg. Und das hat sich natürlich auf unsere Arbeit ausgewirkt. 

Und es wirkt sich auf unsere Arbeit aus, dass man uns zu ausländischen Agenten gemacht hat – nun machen sie uns zu Volksfeinden. Jetzt will der Staat offenbar endgültig nicht mehr mit uns zusammenarbeiten.

Das ist natürlich ein sehr großes Problem, das nicht erst heute entstanden ist, aber nun verschärft sich die Lage. Ich bin von meiner Natur her eigentlich keine Oppositionelle. Ich möchte, wie Pasternak sagte, mit allen zusammenarbeiten und mich an die Rechtsstaatlichkeit halten. Und wann immer möglich, versuche ich dies zu tun. Ich spreche mit jedem Beamten immer so, als ob er ein Gleichgesinnter wäre.

Und es funktioniert, es weckt in einem Menschen Gefühle und die Fähigkeit zur Empathie, auch wenn er von oben anders instruiert ist. Aber wenn es ein Verbot der Zusammenarbeit mit uns gibt, können wir natürlich nicht viel tun.

Was fordern Sie von der russischen Regierung, von den Regierungen der Europäischen Union?

Was unsere Regierung anbelangt, so fordern wir heute, den Krieg zu beenden und die Truppen aus der Ukraine abzuziehen.

Diese Forderung ist eindeutig, und ich wüsste nicht, was wir sonst noch fordern sollten. Leider haben wir keine Antwort erhalten. Ach, es wird so viel gelogen. Wir erleben das, was wir 1968 erlebt hatten. 

Ich sage immer wieder, dass ich seit langem ein Déjà-vu-Gefühl habe, wenn ich mich daran erinnere, wie wir 1968 gewartet haben. Damals haben alle Zeitungen geschrieben, dass wir keine Truppen in die Tschechoslowakei entsenden werden, dass das einfach nicht passieren wird.

Und dabei wurden Aussagen von Lenin hierzu zitiert, der gesagt hatte, dass Revolutionen nicht künstlich gemacht werden und dass man sich nicht in die inneren Angelegenheiten eines Staates einmischen kann. Und dann haben wir es doch gemacht.

Und nun ist das Gleiche wieder passiert. Wieder wurde x-fach wiederholt: "Wir ziehen nicht in den Krieg". Zu oft hatte man das wiederholt, als dass man dem noch hätte Glauben schenken können, zu oft wurde es wiederholt, als dass man es noch hätte glauben können. Wenn dir jemand das einmal sagt, glaubst du ihm. Wenn er es zweimal sagt, fängst du an zu zweifeln. Wenn er es unendlich oft wiederholt, hörst du auf zu glauben, weil es genügen würde, es einmal zu sagen, damit man dir glaubt. Wenn man es zu oft wiederholt, glaubt man nicht mehr. 

Und jetzt fordern wir, dass dies gestoppt wird, aber wir werden nicht nur nicht gehört. Nun gibt es auch neue Strafgesetze, wir werden für diese Forderung [nach einem Stopp des Krieges] bestraft. Weil von uns verlangt wird, genauso zu lügen wie der Staat. Ja sie wollen sogar, dass wir Krieg nicht mehr Krieg nennen.

Und was erwarten Sie von Europa?

Von Europa erwarteten wir eine kritischere und von wirklichem Verstehen geprägte Haltung gegenüber den Vorgängen in Russland, als das etwa während der Tschetschenienkriege der Fall war. Man sagte mir 2002 in Deutschland: 

"Wir sind überrascht von dem, was Sie uns über Tschetschenien berichten. Wir dachten, Russland hätte endlich einen Staatschef bekommen, der mit Messer und Gabel essen und Deutsch sprechen kann."

Und die Deutschen haben nicht begriffen, woher er nur so gut Deutsch kann. Ich war damals gerade in Deutschland, im Bundestag, und da hatte ich das Gefühl, dass die Deutschen nicht mehr begreifen, warum diese Führungsperson Deutsch spricht. 

Es herrschte eine gewisse Euphorie Putin gegenüber, und es gab eine Zeit, in der der Einfluss des Westens stark war und in der man viel hätte erreichen können. Doch diese Gelegenheit hat man ungenutzt verstreichen lassen.

Jetzt möchten wir auch die gleiche Entschlossenheit, wir möchten Klarheit, wir diskutieren viel über den Ausschluss der Russischen Föderation aus dem Europarat. Und dabei zitiert man gerne eine wunderbare Anwältin von uns, Anya Stavitskaya, die geschrieben hatte, dass die Parlamentarier bei dieser Entscheidung applaudiert hatten. Und sie schrieb, dass sie nicht verstehen könne, wie man da Beifall klatschen könne.

Schließlich habe man nicht Putin oder Vertreter der Macht ausgeschlossen, sondern, so schreibt sie, ganz Russland. Das heißt, so meint sie, man habe die einfachen, unschuldigen Menschen ausgeschlossen.

Diesem Standpunkt kann ich nicht zustimmen. Ich kann nicht sagen, dass wir unschuldig sind. Wir sind Bürger von Russland. Wir sind verantwortlich für das, was in unserem Namen getan wird. 

Jetzt werden im Namen unseres Volkes schlimme Dinge getan. Ich hätte natürlich nicht geklatscht, als Russland aus dem Europarat ausgeschlossen worden ist. Aber ich hätte bei dieser Gelegenheit eine Schweigeminute eingelegt.

Das ist sehr traurig. Wir begraben ein Stück unserer Geschichte, ein Stück unseres Fortschritts geht zu Ende. In Russland bricht eine neue Ära an. Was für eine Ära das ist, wissen wir nicht. Wohin wir gehen, wissen wir auch nicht. Die Entschlossenheit des Westens, die Ukraine zu unterstützen, ist sicherlich das, was erwartet wird.

Ich bin keine Politikerin und weiß nicht, welche Maßnahmen nun in dieser Hinsicht ergriffen werden können. Aber ich erkenne, dass wir das alles gemeinsam zugelassen haben. Das ist nicht nur traurig, es ist sogar tragisch.

Und wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit ukrainischen Menschenrechtler_innen unter dem Eindruck des Krieges?

Ich möchte zunächst Folgendes sagen. Es ist mir sehr wichtig, dass wir weiterhin eng mit unseren ukrainischen Kollegen kommunizieren und zusammenarbeiten. Und dass unsere Einstellung zu dem, was geschieht, dieselbe ist. Ich bin sehr dankbar für ihr Verständnis. 

Einer von ihnen sagte mir sogar, dass es für uns wohl schwieriger ist als für sie. Dem kann ich natürlich nicht zustimmen, denn als ich ihn zuvor fragte, was los sei, sagte er mir: "Eure Granaten explodieren in der Nähe meines Hauses."

Das ist natürlich sehr schmerzhaft. Aber das sind in der Tat unsere Granaten, wir sind für sie verantwortlich.

Aber trotz der Tatsache, dass das unsere Granaten sind, ist meine persönliche Beziehung zu ihm ungebrochen, wir arbeiten weiter zusammen und helfen weiterhin den Menschen, die aus der Ukraine hierher kommen, und sie helfen weiterhin denen, die aus Russland kommen und sich vor diesem Regime verstecken. Vielen Dank an unsere ukrainischen Kollegen dafür.

 

Ein Porträt über Swetlana Gannuschkina, erschienen im Amnesty Journal (3/2022), ist hier zu finden.

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