DEINE SPENDE KANN LEBEN RETTEN!
Mit Amnesty kannst du dort helfen, wo es am dringendsten nötig ist.
DEINE SPENDE WIRKT!
MENSCHENRECHTE SCHÜTZEN!
Wir setzen uns für den Schutz von bedrohten Aktivist*innen ein, stellen klare Forderungen an die Politik.
UNTERSTÜTZE UNSERE ARBEIT MIT DEINER SPENDE.
Sippenhaft in China

Der chinesische Anwalt Wang Quanzhang
© @badiucao / Amnesty
Seit mehr als vier Jahren sitzt der chinesische Anwalt Wang Quanzhang wegen seiner Menschenrechtsarbeit in Haft. Auch seine Familie wird schikaniert.
Von Felix Lee
Wang Guangwei konnte es kaum erwarten, zum ersten Mal in seinem Leben in den Kindergarten zu gehen. Drei Jahre lang wurde es ihm verwehrt. Die Behörden hatten sämtlichen Einrichtungen im Pekinger Stadtbezirk Shijingshan untersagt, den Sohn des inhaftierten Dissidenten Wang Quanzhang aufzunehmen. Nach langem Suchen fand Mutter Li Wenzu schließlich eine Privateinrichtung. Vor einem Jahr war das.
"Er war überglücklich", berichtet sie. Er habe die Blumen und Bäume auf dem Schulgelände gemocht, die Sandkästen, das Trampolin. "Er fand auch viele Freunde, darunter ein kleines Mädchen, in das er sich wohl heimlich verliebte. Selbst sonntags wollte er hin."
Ein Jahr ging das gut. Am 2. September dieses Jahres sollte der inzwischen Sechsjährige auf eine Grundschule kommen. Die Sicherheitsbehörden machten Druck auf die Schule. Guangwei musste nach nur vier Tagen die Schule wieder verlassen. "Als ich ihm das mitteilen musste, wollte ich mich zusammenreißen und nicht vor ihm weinen", sagt Mutter Li. "Ich bin dann doch zusammengebrochen."
Wang Quanzhang, Vater von Guangwei und Ehemann von Li Wenzu, musste schon viele Strafen auf sich nehmen. 2008 hatte er unter dem Namen Gao Feng zehn kritische Artikel über die chinesische Führung verfasst und sie im Internet veröffentlicht. Die Staatssicherheit durchsuchte seine Wohnung. Fünf Jahre später kam er in der Provinz Jiangsu für zehn Tage in Haft, weil er dort einen Anhänger der in China verfolgten Falun-Gong-Bewegung verteidigt hatte. Als Wang im Frühjahr 2014 im Nordosten des Landes einen befreundeten Menschenrechtsanwalt unterstützte, misshandelten ihn örtliche Polizeikräfte.
Seit mehr als vier Jahren sitzt der 43-Jährige in Haft. Sicherheitskräfte hatten ihn in einer landesweiten Verhaftungswelle im Juli 2015 festgenommen. Ende 2018 machte ihm ein Volksgericht in der ostchinesischen Stadt Tianjin den Prozess und verurteilte ihn zu viereinhalb Jahren Haft. Die Richter sprachen ihn wegen "Untergrabung der Staatsgewalt" schuldig.
Was ihm jedoch konkret zur Last gelegt wird, sagte das Volksgericht nicht. Zusätzlich zur Haftstrafe entzogen ihm die Richter für fünf Jahre die politischen Rechte. Andere Einschränkungen wurden in dem Urteil aber nicht genannt. "Kein Wunder, dass er sich bei jedem meiner Besuche Sorgen machte, ob unser Sohn zur Schule gehen könne", sagt Ehefrau Li. Er ahnte offenbar, dass die Behörden auch auf diese Weise Druck auf ihn und seine Familie ausüben würden.
Seit Xi Jinping 2013 Staats- und Parteispitze übernahm, geht die kommunistische Führung gegen ihre Kritiker so hart vor wie seit Jahrzehnten nicht. Menschenrechtsanwälte wie Wang Quanzhang sind besonders stark betroffen. Dabei waren sie es, die in den 1990er Jahren dem Aufruf der damaligen Führung gefolgt waren, doch für mehr Rechtsstaatsbewusstsein im Land zu sorgen. Die Volksrepublik galt auch staatsrechtlich als unterentwickelt. Anwälte wie Wang hatten den Aufruf wörtlich genommen. Das ist ihnen zum Verhängnis geworden.
Schon während seines Jurastudiums Ende der 1990er Jahre leistete Wang Menschenrechtsaktivisten und Falung-Gong-Mitgliedern juristischen Beistand. Einigen staatlichen Stellen gefiel das nicht und sie ermahnten ihn mehrfach. Als Wang in seiner Heimatprovinz Shandong als Lehrer an einer Berufsschule tätig war, kam er auch in Kontakt mit Bauern, die von Zwangsenteignungen und Vertreibungen betroffen waren.
Als er schließlich 2007 seine staatliche Prüfung ablegte, um offiziell als Anwalt tätig sein zu können, kassierten die Behörden nur kurze Zeit später die Arbeitserlaubnis wieder ein. Das hielt ihn nicht davon ab, sich weiter für die Menschenrechte einzusetzen. Wang fand schließlich Anstellung bei Fengrui, einer landesweit bekannten Kanzlei des Anwalts Zhou Shifeng, der eine Reihe kritischer Kollegen um sich geschart hatte. Wang vertrat dort unter anderem den Künstler Ai Weiwei.
Am 9. Juli 2015 stürmten Sicherheitskräfte in einer konzertierten Aktion die Räume der Kanzlei und Dutzende Wohnungen im ganzen Land. Sie nahmen mehr als 300 Anwälte, deren Mitarbeiter und Angehörige fest. Diese Aktion, die wegen des Datums auch als 709-Aktion bekannt wurde, richtete sich gegen sämtliche Dissidenten in der Volksrepublik und ihre Strafverteidiger. Es handelte sich um die größte Verhaftungswelle dieser Art, seit Xi Jinping das Land regiert.
Gegen zwei Dutzend Anwälte erhob die Staatsmacht in den Folgewochen Anklage. Kanzleigründer Zhou Shifen erhielt eine Haftstrafe von sieben Jahren, andere kamen mit Bewährungsstrafen davon, einige waren im chinesischen Staatsfernsehen mit erkennbar erzwungenen Schuldgeständnissen zu sehen. Von Wang Quanzhong fehlte jedoch jede Spur. Die Behörden weigerten sich, seinen Angehörigen den Aufenthaltsort bekannt zu geben.
Drei Jahre lang gab es kein Lebenszeichen von ihm. Seine Ehefrau befürchtete bereits, dass er gar nicht mehr am Leben sei. Aus Protest machte sie sich im April 2017 zu Fuß auf den Weg von Peking nach Tianjin, um öffentlichkeitswirksam auf das Schicksal ihres Mannes aufmerksam zu machen. Zwölf Tage war sie für die rund 80 Kilometer unterwegs.
Daraufhin wurden internationale Medien auf sie aufmerksam. Im Mai 2017 gab Li dem britischen Sender BBC ein Interview. Von anderen Ex-Inhaftierten hatte sie von schweren Misshandlungen gehört. Sie seien von den Wärtern gezwungen worden, Medikamente zu nehmen, deren Wirkung ihnen nicht bekannt war. Li vermutete, der Grund, dass Wang nicht freigelassen wurde und sie kein Lebenszeichen von ihm erhielt, liege darin, dass er zu keinen Schuldgeständnissen bereit war.
Als im Dezember 2018 bekannt wurde, dass Wang in einem Gefängnis von Tianjin festgehalten wird, und am 26. Dezember der Prozess gegen ihn eröffnet werden sollte, ließ sich Li Wenzu zusammen mit mehreren anderen Frauen, deren Ehemänner in Haft waren oder von den Behörden drangsaliert wurden, öffentlich ihre Haare abrasieren. Am Prozesstag selbst wurde sie jedoch unter Hausarrest gestellt. Die Staatssicherheit ließ sie nicht aus ihrer Wohnung. Beobachter vermuteten, dass die chinesischen Behörden den Prozessbeginn bewusst auf die Weihnachtsfeiertage gelegt hatten – damit die westliche Welt dem Verfahren wenig Beachtung schenkte.
Fast vier Jahre war Wang Quanzhang quasi ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert. Seine Frau und ihr gemeinsamer Sohn durften ihn Ende Juni das erste Mal im Gefängnis besuchen. "Er hat viel an Gewicht verloren und ist sehr gealtert", berichtet Li. Früher sei er zurückhaltend und sanft gewesen, bei dem Treffen war er aufgeregt und wirkte sehr besorgt. "Mein Mann schien nicht zu verstehen, was ich sagte." Er habe sie und den gemeinsamen Sohn gebeten, ihn in den kommenden zwei Monaten nicht mehr zu besuchen und bat sie, "höflicher mit der Polizei umzugehen". Anfang 2020 müsste er frei gelassen werden. Müsste.