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Polizei tötet Protestierenden – dem Kronzeugen droht lebenslange Haft
Am 11. August erschossen Polizeibeamt_innen in Zivil einen jungen Mann, der sich an einer friedlichen Kundgebung beteiligt hatte. Jetzt erheben die belarussischen Behörden schwere Vorwürfe gegen einen Kronzeugen – laut einer Stellungnahme von Amnesty International versuchen sie so, die Tat zu vertuschen.
Nachdem die beiden Freunde Alyaksandr Kardyukou und Henadz Shutau an einer friedlichen Kundgebung im westbelarussischen Brest teilgenommen hatten, waren sie noch gemeinsam in der Stadt unterwegs. Dann trafen sie auf Polizist_innen in Zivilkleidung – während Alyaksandr floh, wurde Henadz erschossen. Nun wird Alyaksandr des versuchten Mordes an einem_r Polizeibeamt_in angeklagt, was eine lebenslange Haftstrafe nach sich ziehen kann.
"Es gibt weder Beweise, dass Alyaksandr Kardyukou sich an gewalttätigen Aktivitäten beteiligte, noch, dass er solche befürwortet. Er ist ein gewaltloser politischer Gefangener, der nur strafrechtlich verfolgt wird, weil er friedlich seine Menschenrechte, u.a. das Recht auf Versammlungsfreiheit, wahrgenommen hat. Außerdem soll so die außergerichtliche Hinrichtung von Henadz Shutau gerechtfertigt werden. Er muss umgehend und bedingungslos freigelassen werden", sagte Marie Struthers, Regionaldirektorin für Osteuropa und Zentralasien bei Amnesty International.
"Die belarussischen Behörden müssen sich für ihre ungeheuerlichen Menschenrechtsverletzungen verantworten. Zu diesen zählen auch die Massenfestnahmen und die exzessive Gewaltanwendung im Zuge des harten Vorgehens gegen Demonstrant_innen, die gegen die umstrittenen Wahlergebnisse protestieren."
Belarussiche Polizeikräfte nehmen am 10. August 2020 in Minsk zwei Frauen fest, die sich an regierungskritischen Protesten beteiligt haben.
© Natalia Fedosenko/TASS
Im August brachen in Belarus Massenproteste aus, nachdem die Wiederwahl des amtierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko offiziell bestätigt worden war. Damit ignorierte die Regierung die weithin erhobenen Vorwürfe, dass die Wahl durch systematische Wahlrechtsverletzungen verfälscht worden sei. Seit dem Ausbruch der Proteste verfolgen die Behörden eine harte Linie gegen die Protestierenden. Zurzeit laufen gegen mehr als 1.000 Menschen rechtswidrige Strafverfahren aufgrund ihrer politischen Einstellung.
In den Hinterkopf geschossen
Wie man in einem von MediaZona veröffentlichten Video sehen kann, saßen Henadz und Alyaksandr am 11. August auf einer Parkbank in einiger Entfernung zu einer Kundgebung, als sich ihnen drei Polizist_innen in Zivil näherten. In den Aufnahmen ist nicht klar erkennbar, was daraufhin passierte, aber weniger als eine Minute später wurde Henadz von einer Kugel in den Hinterkopf getroffen. Er verstarb am 19. August.
Alyaksandr flüchtete wenige Augenblicke, bevor der Schuss abgegeben wurde, doch er wurde am 14. August festgenommen und des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamt_innen angeklagt. Laut Aussagen seiner Schwester wurde die Anklage am 2. Dezember geändert: statt Widerstand gegen Beamt_innen jetzt versuchter Mord.
Das Innenministerium beharrte in einer Pressemitteilung darauf, dass "eine Gruppe aggressiver, mit Metallstangen bewaffneter Bürger_innen die Polizist_innen angriff. Sie ließen sich nicht von Warnschüssen abschrecken. Die Beamt_innen setzten ihre Schusswaffen ein, um ihr Leben und ihre Gesundheit zu verteidigen."
Diese Behauptungen widersprechen jedoch den Videoaufnahmen sowie Aussagen von Zeug_innen und medizinischen Akten, die stattdessen zeigen, dass Henadz von hinten erschossen wurde. Diese Akten liegen Amnesty vor.
Laut Henadz’ Tochter Anastasiya Baranchuk berichteten Anwohner_innen, dass die Polizeibeamt_innen die beiden Männer gefragt hätten, für wen sie bei der Wahl gestimmt hätten. Daraufhin hätte ihr Vater geantwortet: "Für [Svyatlana] Tsikhanouskaya", die Kandidatin der Opposition.
Laut Anastasiya wurde ihrem Vater dann befohlen, hinzuknien und sich auf den Boden zu legen. Sobald er auf den Knien war, schlug ihm ein_e Beamt_in mit einer Pistole ins Gesicht und schoss ihm dann in den Hinterkopf. Zeug_innen berichteten, insgesamt drei Schüsse gehört zu haben.
Die Familie von Henadz fordert eine Untersuchung der Tötung. Sie erhielten jedoch am 3. September einen Brief, in dem ihr Gesuch von den Ermittlungsbehörden abgewiesen wurde. In dem Schreiben des Untersuchungskomitees, einer autonomen Regierungsbehörde zur Untersuchung schwerer Verbrechen, hieß es, dass es "nur unzureichende Beweise gibt, um eine strafrechtliche Ermittlung nach Paragraf 139 [Mord] einzuleiten".
"Ich glaube, dass sie [das Untersuchungskomitee] wissen, wer meinen Vater getötet hat", sagte Anastasiya. "Aber sie werden nichts unternehmen. Erst wenn sich die Lage in unserem Land verändert, werden sie ihn bestrafen."
Unzählige Strafverfahren
Örtliche und internationale Menschenrechtsorganisationen haben Hunderte Zeug_innenaussagen von Gefangenen gesammelt, die gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Bis jetzt haben die belarussischen Behörden keine einzige Ermittlung gegen Sicherheitskräfte eingeleitet.
Nach Schätzungen der Menschenrechts-NGO Vyasna wurden rund 1.000 Strafverfahren gegen Menschen eingeleitet, die friedlich protestierten. Dutzende wurden bereits in politisch motivierten und unfairen Gerichtsverfahren verurteilt, wobei gegen die meisten von ihnen Haftstrafen verhängt wurden.
Zu den Verurteilten gehören:
- Natallia Hersche, 51, die am 7. Dezember zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt wurde, weil sie sich der Festnahme widersetzt und einem_r Polizist_in die Sturmhabe entfernt haben soll.
- Maksim Pauliushchyk, der am 8. Dezember zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt wurde, weil er den Schriftzug "Wir werden nicht vergessen" auf den Boden gesprüht hatte.
- Stefan Lazavik, 27, der am 1. Dezember zu 12 Monaten Haft verurteilt wurde, weil er einen Slogan, der angeblich den Präsidenten Lukaschenko beleidigte, an eine Bushaltestelle gesprüht hatte.
"Belarus erlebt momentan die schwerste Menschenrechtskrise seiner Geschichte seit der Unabhängigkeit", so Marie Struthers.
"Wir fordern die internationale Gemeinschaft auf, die Anstrengungen zu erhöhen, um die schweren Menschenrechtsverstöße der belarussischen Behörden zu dokumentieren. Die Verantwortlichen müssen in fairen Gerichtsverfahren zur Rechenschaft gezogen werden und den Opfern und ihren Familien müssen Gerechtigkeit und wirksame Rechtsmittel gewährt werden."