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Afghanistan: Grausame Angriffe der Taliban in der Provinz Pandschir

Folter, ungesetzliche Tötungen, Massenverhaftungen und Inhaftierungen: Die Liste der Gräueltaten der Taliban in der afghanischen Provinz Pandschir ist lang. Dieses brutale Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung kommt einer Kollektivbestrafung und damit einem Kriegsverbrechen gleich. Zu diesem Ergebnis kommt ein aktueller Amnesty-Bericht.
In dem aktuellen Amnesty-Bericht "'Your Sons Are In The Mountains’: The Collective Punishment of Civilians In Panjshir by the Taliban" werden schwere Verstöße gegen internationale Menschenrechtsnormen und humanitäres Völkerrecht durch die Taliban dokumentiert. Dazu gehören außergerichtliche Hinrichtungen, Folter sowie willkürliche Massenfestnahmen und -inhaftierungen.
Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im August 2021 flohen Angehörige der Sicherheitskräfte der früheren afghanischen Regierung mit Ausrüstung und Waffen nach Pandschir und schlossen sich der Nationalen Widerstandsfront (NRF) an. Die Taliban reagierten darauf mit Vergeltungsmaßnahmen gegen gefangene Kämpfer*innen und gingen hart gegen die Zivilbevölkerung in Pandschir vor. Ziel war es, diese zu zwingen, ihren Widerstand aufzugeben und sich zu unterwerfen.
"Die grausame Taktik der Taliban, Zivilpersonen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur NRF ins Visier zu nehmen, sorgt in Pandschir für viel Elend und Angst", so Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International.
"Die Liste der Kriegsverbrechen und anderer Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht durch die Taliban in Pandschir ist lang und umfasst außergerichtliche Hinrichtungen, Folter, Geiselnahme, rechtswidrige Inhaftierungen und das Niederbrennen ziviler Unterkünfte und Einrichtungen. Jede einzelne dieser Taten ist verabscheuungswürdig, und als Ganzes stellt dieses Verhalten eine kollektive Bestrafung dar, die an sich schon ein Kriegsverbrechen ist. Tausende von Menschen sind betroffen von der andauernden Unterdrückung durch die Taliban, die eindeutig der Einschüchterung und Bestrafung dienen soll. Die gezielten Angriffe der Taliban auf Zivilpersonen in Pandschir müssen sofort ein Ende haben."

Außergerichtliche Hinrichtungen in den afghanischen Distrikten Darah und Khenj am 12. September 2022
© OpenStreetMap contributors
Die Taliban haben im Rahmen dieses Vorgehens willkürlich alle erwachsenen Männer und älteren Jungen in den Dörfern festgenommen. Sie haben sie ohne Anklage inhaftiert und geschlagen und anderweitig misshandelt. Darüber hinaus haben die Taliban in ganz Afghanistan eine nächtliche Ausgangssperre verhängt, Häuser von Zivilpersonen beschlagnahmt und den Zugang von Schafhirt*innen zu ihrem angestammten Weideland beschränkt.
Viele dieser von den Taliban begangenen Handlungen stellen für sich genommen bereits Kriegsverbrechen dar. Sie erfüllen in ihrer Gesamtheit in Verbindung mit den zusätzlichen willkürlichen Festnahmen und Einschränkungen für die Zivilbevölkerung jedoch auch den Tatbestand des Kriegsverbrechens der Kollektivbestrafung.
Außergerichtliche Massenhinrichtungen
Der Bericht dokumentiert mehrere Fälle außergerichtlicher Massenhinrichtungen von NRF-Kämpfer*innen durch die Taliban. Im September 2022 wurden in einem Fall in den Bergen bei Darea Hazara, das zur Ortschaft Pochava im Bezirk Darah gehört, mindestens sechs, möglicherweise sogar neun Personen getötet.
Das Crisis Evidence Lab von Amnesty International hat fünf Videos, die Teile der Hinrichtungen zeigen, analysiert und verifiziert. Das erste Video zeigt Angehörige der Taliban, die sechs Männer mit auf dem Rücken gefesselten Händen einen steilen Abhang hinaufführen. Von Amnesty International befragte Personen konnten diese sechs gefangenen Kämpfer der NRF als Mohammad-u Din, Ishaq, Daniyar, Modir Ahmad, Amir Hatam und Mohammad Yar identifizieren. Die drei weiteren möglichen Opfer wurden später von Zeug*innen als Feroz, Torabaz und Shah Faisal erkannt.
Rechtswidrige Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen
In mindestens drei Fällen wurden Zivilpersonen, die die Taliban in den Bezirken Bazarak und Rokha in der Provinz Pandschir festgenommen hatten, zu Tode gefoltert. Bei den Männern handelte es sich um Landwirte und Viehzüchter, die ihre Tiere wie gewohnt nach angestammtem Recht im Sommer in die Berge treiben wollten. Sie handelten in dem Glauben, von den örtlichen Taliban die Erlaubnis zum Betreten der dafür vorgesehenen Gebiete zu haben.
Videos und Fotos, die nach der Bergung ihrer Leichen aufgenommen wurden, wurden in den Sozialen Medien geteilt und privat an Amnesty International weitergegeben. Die drei Leichen wiesen deutliche Anzeichen von Folter auf, darunter schwere Blutergüsse, die wahrscheinlich durch starke Schläge verursacht wurden. Dies ergab die Analyse eines von Amnesty International konsultierten Gerichtsmediziners.
Die Taliban haben auch wiederholt willkürlich Männer und ältere Jungen aus der Zivilbevölkerung wegen ihrer mutmaßlichen Verbindungen zur NRF festgenommen und inhaftiert. Bis zu 200 Personen wurden auf einmal festgenommen. Die Festnahmen erfolgten größtenteils zwischen Mai und August 2022 in den Bezirken Darah, Abshar und Khenj, sei es bei dorfweiten Massenfestnahmen an bestimmten Orten oder bei gezielten Festnahmen in bestimmten Haushalten, in denen die Taliban Familienangehörige mit Verbindungen zur NRF vermuteten.

Amnesty nutzte Satellitenbilder, um mutmaßliche Hinrichtungen durch die Taliban zu verifizieren. Dieses Bild vom 26. Oktober 2022 zeigt Veränderungen der Vegetation und Dellen im Boden. Ein Indiz dafür, dass an dieser Stelle gegraben wurde.
© 2023 Maxar Technologies
Die Festnahme von Familienangehörigen, um Kämpfer*innen dazu zu zwingen, sich zu ergeben, erfüllt den Tatbestand der Geiselnahme und ist ein Kriegsverbrechen. Die Dauer der Inhaftierung durch die Taliban war unterschiedlich und reichte von Stunden bis zu Monaten. Die Festnahme von Angehörigen mutmaßlicher NRF-Kämpfer*innen, die Massenfestnahme und -inhaftierung von Zivilpersonen und die Folter und rechtswidrige Tötung von Schafhirt*innen sind weitere Beispiele der kollektiven Bestrafung, mit der die Taliban in Pandschir gegen Zivilpersonen vorgehen. Zu den weiteren in dem Bericht dokumentierten Einschüchterungstaktiken der Taliban gehören die Zerstörung und langfristige Beschlagnahme von zivilem Eigentum sowie die Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Zivilpersonen.
Verantwortliche müssen zur Rechenschaft gezogen werden
Die Menschen in Afghanistan waren sowohl vor als auch nach August 2021 Verbrechen nach dem Völkerrecht und andere schwere Menschenrechtsverletzungen und -verstößen ausgesetzt, für die kaum jemand zur Rechenschaft gezogen wurde. Das Fehlen einer glaubwürdigen inländischen Infrastruktur zur Gewährleistung der Rechenschaftspflicht bedeutet, dass die Beweise für derartige Verbrechen verschwinden oder zerstört werden könnten.
Amnesty International fordert den UN-Menschenrechtsrat erneut auf, einen unabhängigen internationalen Rechenschaftsmechanismus für Afghanistan einzurichten, der das Mandat hat, die Situation zu überwachen und öffentlich darüber zu berichten sowie Beweise für eine spätere internationale Strafverfolgung zu sammeln und zu sichern. Amnesty International fordert außerdem, dass das Mandat des UN-Sonderberichterstatters zur Lage der Menschenrechte in Afghanistan mit ausreichenden Mitteln ausgestattet wird und dass die UN-Mitgliedstaaten und der Internationale Strafgerichtshof diese Beweise für die Durchführung umfassender Ermittlungen gegen alle Konfliktparteien nutzen.
"Alle, die in Pandschir Opfer von Gräueltaten geworden sind, ja, alle Opfer von Verbrechen der Taliban in Afghanistan verdienen ein Ende der Straflosigkeit und einen klaren Weg zu Gerechtigkeit, Wahrheit und Wiedergutmachung", so Agnès Callamard.
"Die Schaffung eines unabhängigen internationalen Rechenschaftsmechanismus ist von entscheidender Bedeutung. Der Schwerpunkt muss dabei auf der Sammlung und Sicherung von Beweisen liegen, um all jene zur Rechenschaft zu ziehen, denen die strafrechtliche Verantwortung zur Last gelegt wird."
Methodik
Amnesty International hat für diesen Bericht 29 Personen aus Pandschir befragt. In allen Fällen baten die Befragten aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen durch die Taliban darum, ihre Namen nicht zu veröffentlichen.
Amnesty International hat eine Open-Source-Untersuchung des in den Sozialen Medien verfügbaren Materials durchgeführt und 61 Fotos und Videos analysiert. Sie waren zum Teil online abrufbar oder wurden von Zeug*innen über eine sichere Übertragungsmethode zur Verfügung gestellt. Viele der Videos wurden vermutlich von Angehörigen der Taliban gefilmt.
Am 25. Mai 2023 hat Amnesty International von den Taliban eine offizielle Stellungnahme zu den im Bericht dokumentierten Fällen gefordert. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung lag seitens der Taliban noch keine Antwort vor.