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Weg von der Stadionmentalität
Versuch einer Annäherung: Kundgebung "Für einen gerechten Frieden in Palästina und Israel" (Berlin, Oktober 2024)
© Simone Speciale / Fotogramma / IPA / Abacapress / pa
Sich gemeinsam gegen Antisemitismus und gegen Rassismus zu engagieren, scheint seit dem bewaffneten Konflikt in Nahost in Deutschland unmöglich. Über Menschen und Initiativen, die es dennoch versuchen.
Von Uta von Schrenk
Brandsätze werden auf Kneipen geworfen, in denen Lesungen gegen Antisemitismus stattfinden. Teenager, die auf dem Pausenhof "From the River to the Sea" rufen, erhalten einen Schulverweis. Jüdische Menschen werden beleidigt und bedroht, Teilnehmer*innen Palästina-solidarischer Demonstrationen unter Antisemitismusverdacht gestellt. Der bewaffnete Konflikt in Nahost hat in Deutschland einen bisweilen gewalttätigen Bekenntnisdrang hervorgebracht: hier das Mantra Israel, dort die Parole Palästina, dazwischen scheinbar – nichts. Die Politikwissenschaftlerin Saba-Nur Cheema beobachtet derzeit "geradezu eine Stadionmentalität in der Debatte um den Nahostkonflikt". Es dominiere das Gefühl, sich auf eine Seite schlagen zu müssen, entweder solidarisch nur mit Israel oder nur mit Palästina sein zu können.
Zwischentönen Gehör verschaffen
Wie schwer es ist, Zwischentönen innerhalb der polarisierten Debatte Gehör zu verschaffen, hat die jüdische Schriftstellerin Lena Gorelik im Sommer 2024 erfahren. Gemeinsam mit zwei Kolleginnen hat sie Autor*innen zum gemeinsamen Diskurs über Nahost eingeladen. "Trotzdem sprechen" heißt das daraus entstandene Buch, und Gorelik und ihre Mitherausgeberinnen sind bei ihren Anfragen auf sämtliche Emotionen gestoßen: Misstrauen, Erleichterung, Empörung, Freude, Angst. "Es war nicht immer einfach. Es hat geschmerzt. Aber wir haben es miteinander ausgehalten und ausgehandelt. Dieses Buch war wie ein Raum, in dem man darauf achtet, die Türen offen zu halten."
Die Türen offenhalten, mit jüdischen und muslimischen Menschen zugleich solidarisch sein – Cheema, in einer muslimischen Familie aufgewachsen, lebt es vor. Erst im Oktober 2024 wurde sie mit ihrem Mann, dem israelischen Historiker und Pädagogen Meron Mendel, für ihr gemeinsames Engagement gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit mit dem Bundesverdienstorden ausgezeichnet.
"Mein Eindruck ist, dass es jenseits der Spalter sehr viel mehr Menschen gibt, die die Differenzierung suchen und dankbar sind, wenn ich sage, dass man proisraelisch und propalästinensisch zugleich sein kann, indem man sich für die friedlichen Kräfte auf beiden Seiten entscheidet", sagt Cheema.
Dies zeigt auch ein breites Bündnis von mehr als 30 zivilgesellschaftlichen und humanitären Organisationen, dem sich Amnesty International angeschlossen hat. Mitte Oktober forderte das Bündnis einen "gerechten Frieden in Palästina und Israel" sowie den Schutz der Zivilbevölkerung in der Region, auch durch den sofortigen Stopp von Waffenexporten: "Wir verurteilen alle Kriegsverbrechen in diesem Krieg, sowohl die der Hamas und anderer bewaffneter palästinensischer Gruppen als auch die der israelischen Regierung", heißt es in dem Aufruf. "Wir solidarisieren uns mit allen, die sich für Frieden und gleiche Rechte für alle Menschen in der Region einsetzen."
Jouanna Hassoun, eine politische Bildungsexpertin palästinensischer Herkunft, und Shai Hoffmann, ein deutsch-jüdischer Aktivist israelischer Herkunft, arbeiten seit dem 7. Oktober 2023 "nonstop" zu den Verwerfungen des Nahost-Konflikts in Deutschland. Im Jahr 2019 begannen die beiden, Bildungsvideos über palästinensisches und jüdisches Leben sowie zu den Themen Antisemitismus und Rassismus zu entwickeln. Seitdem haben sie – in Zusammenarbeit mit den Organisationen Gesellschaft im Wandel und Transaidency – mehr als 100 Gespräche mit Schüler*innen geführt. "Trialoge" heißt ihr Projekt, in dem sie sich bemühen, der Flut an Desinformation, Feindbildern und Vorurteilen, die vor allem in Online-Netzwerken verbreitet werden, etwas entgegenzusetzen. "Das Leid der palästinensischen und das Leid der jüdischen Menschen wird von radikalen Stimmen instrumentalisiert, sodass kaum Platz für die Menschlichkeit bleibt", erklärt Hassoun.
Hass gegen beide Minderheiten
Dabei fällt es auch den beiden nicht immer leicht, über Palästina und Israel, über das Muslim- und Jüdischsein zu sprechen. "Wir müssen politisch nicht immer einer Meinung sein", sagt Hassoun. "Aber wir haben einen gemeinsamen Grundkonsens: Wir wollen uns nicht auf diesen Hass einlassen, sondern Raum schaffen, um das Leid des anderen anzuerkennen."
Aus menschenrechtlicher Perspektive sollte ein gemeinsames Eintreten gegen Antisemitismus und Rassismus selbstverständlich sein. Wenden sich doch beide Ansätze gegen Menschenfeindlichkeit, gegen Diskriminierung und Ausgrenzung. Und ein Blick in die aktuellen Statistiken der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte zeigt, wie bitter nötig ein solidarisches Auftreten wäre. Betroffene berichten darin verstärkt von antisemitischer und muslimfeindlicher Diskriminierung gegen sie in Deutschland. Mit menschenfeindlichen Positionen werden Landtagswahlen gewonnen. Die jüngste Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2023 skizziert eine Gesellschaft, die in der Breite immer empfänglicher wird für menschenfeindliche Positionen, für Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder Verharmlosung von Naziverbrechen. "Als Minderheiten müssen und sollten wir zueinanderhalten und uns nicht spalten lassen", sagt Hassoun. Eine Erkenntnis, die Valentin Lutset und Ismet Tekin teilen. Sie überlebten den rechtsextremistischen Anschlag im Jahr 2019 in Halle, der eben beides war: antisemitisch und rassistisch. Bis heute halten sie an einem gemeinsamen Aktivismus fest.
"Differenzierter Diskurs fehlt"
Der Bundestag reagierte auf die Misere mit einer Resolution. Zum Jahrestag der nationalsozialistischen Reichspogromnacht verständigte sich die Mehrheit des Parlaments, "jüdisches Leben schützen" zu wollen. Ein Ziel, das Amnesty International unbedingt unterstützt – nur lasse die Resolution "schwerwiegende Verletzungen von Grund- und Menschenrechten sowie Rechtsunsicherheit befürchten". Legitime Kritik an der israelischen Regierungspolitik werde kriminalisiert und das rassistische Narrativ vom "importierten Antisemitismus" bedient. Autorin Gorelik formuliert es so: "Ich fühle mich als jüdische Person durch diese Resolution nicht geschützt. Antisemitismus lässt sich nicht durch Abschiebungen entsorgen."
Was in Deutschland fehle, sei ein offener, differenzierter Diskurs über den Nahostkonflikt, sagt die Politikwissenschaftlerin Cheema. "Wer über die Nakba, die Vertreibung der Palästinenser*innen, spricht, muss auch über den Holocaust reden." Dies aber ohne den jeweils anderen zu diffamieren: "Nicht jeder Muslim ist Hamas-Sympathisant, und nicht jeder Jude steht hinter der Netanjahu-Regierung." Die Direktorin der Bildungsstätte Anne Frank, Deborah Schnabel, hält es für zentral, "dass wir als Gesellschaft lernen, Gleichzeitigkeiten auszuhalten und auch über Differenzen hinweg im Gespräch zu bleiben".
Diesen Ansatz pflegt eine Initiative aus Tübingen, die einige Akademiker*innen um die Bildungsreferentin Nilima Zaman gegründet haben: BiPoC+ Feminismen* Tübingen. Die Initiative bietet Safer Spaces, geschützte Diskussionsräume, für Schwarze und indigene Menschen, People of Color sowie Jüdinnen und Juden. 160 Personen aus dem deutschsprachigen Raum besuchen mittlerweile die Veranstaltungen. In moderierten Online-Gesprächen treffen sich jeweils etwa 20 Personen zu unterschiedlichen Themen, auch zum Nahost-Konflikt und den Folgen. "Wo bietet die Mehrheitsgesellschaft offene und sichere Aushandlungsorte für Menschen wie uns an?", fragt Zaman. "Uns eint, dass wir in den Dialog gehen und voneinander lernen wollen. Denn wir alle haben unterschiedliche Biografien." Wohl eine Gemeinsamkeit hält die Safer Spaces seit fünf Jahren stabil: Alle in diesen Gesprächsrunden haben persönlich erfahren, was Diskriminierung bedeutet.
Uta von Schrenk ist Redakteurin beim Amnesty Journal.