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"Jede Woche werden zwei Menschenrechtsverteidiger*innen ermordet"
"Dies ist keine kugelsichere Weste, nicht schießen!": Protestveranstaltung in Bogotá, Mai 2021.
© Juan Barreto / AFP / Getty Images
Für Land- und Umweltverteidiger*innen ist Kolumbien das tödlichste Land weltweit. Der Amnesty-Experte Camilo Vargas Betancourt über Gefahren und Schutzmaßnahmen.
Interview: Maja Liebing
Warum ist Kolumbien für Aktivist*innen so gefährlich?
Weil es ein Land voller Widersprüche ist. Kolumbien hat eine bemerkenswert vielfältige Geografie mit einem unglaublichen Reichtum an Ökosystemen und biologischer Vielfalt. Diese komplexe Geografie bringt aber große Herausforderungen für die staatlichen Institutionen mit sich: Sie sind hauptsächlich in den städtischen Zentren angesiedelt und in den abgelegenen Gebieten nicht präsent. Und dort, wo der Staat abwesend ist, hat sich die Zivilgesellschaft gut entwickelt. In Kolumbien gibt es starke zivilgesellschaftliche Organisationen, die sowohl auf nationaler als auch auf lokaler Ebene tätig sind. Häufig übernehmen Menschenrechtsverteidiger*innen eine Führungsrolle in ihren Gemeinschaften und stehen an vorderster Front, was den Schutz von Land und Umwelt betrifft. Sie haben es aber mit ebenfalls mächtigen Gegner*innen zu tun, die in Abwesenheit des Staates die Umwelt und die lokalen Gemeinschaften ausbeuten wollen.
Warum sind diese Gemeinschaften so gefährdet?
Der Großteil der ländlichen Gebiete wird von indigenen, afrokolumbianischen und kleinbäuerlichen Gemeinschaften bewohnt, die über Jahrzehnte oder Jahrhunderte Lebensweisen entwickelt haben, die mit den Ökosystemen Kolumbiens harmonieren. Dazu gehört zum Beispiel die traditionelle Fischerei in den großen Gewässern des Landes. Diese Gemeinschaften wirtschaften nachhaltig. Gleichzeitig expandieren Wirtschaftszweige wie die Agrarindustrie, der Bergbau, die Energiewirtschaft, aber auch illegale Ökonomien, häufig in genau diesen ländlichen Gebieten und betrachten die Gemeinschaften als "Entwicklungshindernisse". In Ermangelung des Staats, der Sicherheit und Gerechtigkeit garantiert, ist es dann einfach, die führenden Vertreter*innen dieser Gemeinschaften zu bedrohen, zu vertreiben oder sogar zu ermorden.
Wie hat sich die Situation seit dem Amtsantritt von Präsident Gustavo Petro verändert?
Sein Amtsantritt vor anderthalb Jahren brachte bedeutende Veränderungen mit sich. Die Gewalt gegen Menschenrechtsverteidiger*innen wird nun als Problem erkannt. Frühere Regierungen versuchten, das Problem lediglich durch die Bereitstellung von kugelsicheren Westen, Fahrzeugen oder Leibwächtern zu lösen. Diese Schutzmaßnahmen haben sich jedoch als unzureichend erwiesen, weil sie nicht von Maßnahmen begleitet waren, die auch die Ursachen der Gewalt gegen Menschenrechtsverteidiger*innen angehen. Die derzeitige Regierung hat in ihrem ersten Jahr einen Notfallschutzplan umgesetzt, den zivilgesellschaftliche Organisationen und Bündnisse mithilfe der Vereinten Nationen entworfen haben. Er wirkt aber noch nicht ausreichend. Die Gewalt ist zwar zurückgegangen, hat aber immer noch ein skandalös hohes Niveau. Jede Woche werden zwei Menschenrechtsverteidiger*innen ermordet.
Was müsste noch getan werden?
Eine wirksame Schutzpolitik muss vor allem die strukturellen Ursachen von Gewalt bekämpfen, also die Abwesenheit staatlicher Institutionen und das Fehlen wesentlicher öffentlicher Güter wie Sicherheit, Justiz, Bildung, Infrastruktur und wirtschaftliche Teilhabe. Wenn dies nicht geschieht, gedeihen kriminelle Organisationen, die den Interessen derjenigen dienen, die diese Gemeinschaften, deren Gebiete und die Umwelt zerstören wollen. Kolumbien plant kollektive Schutzmaßnahmen, um ländliche Gemeinschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen zu stärken und die Ursachen der Gewalt zu bekämpfen. Die Umsetzung einer umfassenden Schutzpolitik ist jedoch schwierig.
Welche Schutzmaßnahmen gibt es für Menschenrechtsverteidiger*innen?
Es gibt in Kolumbien klare Verfahren, nach denen Menschenrechtsverteidiger*innen Hilfe und Schutz suchen können. Erste Ansprechpartner*innen bei Drohungen und Angriffen sind die Kommunalverwaltungen, also die mehr als 1.100 Bürgermeister*innen und 32 Regionalgouverneur*innen. Eine betroffene Person kann sich auch an die Nationale Schutzeinheit (UNP) wenden, die den Fall dann analysiert und den notwendigen Schutz gewährt, wie zum Beispiel Leibwächter. Außerdem gibt es kollektive Schutzmaßnahmen, die Konsultationen mit lokalen Organisationen und Gemeinschaften vorsehen, um zu analysieren, wie die strukturellen Ursachen der Gewalt in der jeweiligen Umgebung beseitigt werden können.
Welchen Schutz bekommt Yuly Velásquez?
In ihrem Fall hat FEDEPESAN alle diese Maßnahmen beantragt. Seit 2020, als Yuly Drohungen und Angriffen ausgesetzt war, weil sie die Wasserverschmutzung im Feuchtgebiet von San Silvestre anprangerte, erhält sie Schutz durch die UNP. Dies hat ihr bei neuen Angriffen tatsächlich das Leben gerettet. Grundlegendere Lösungen, die der Staat FEDEPESAN zur Verfügung stellen sollte, fehlen jedoch noch immer. Es gibt eine große Diskrepanz zwischen dem umfassenden Schutz, den der Staat verspricht, und dem, was tatsächlich umgesetzt wird.
Was kann Amnesty International tun?
Internationale Solidarität ist nötig und kann Leben retten. Amnesty International dokumentiert seit Jahren die Situation von Menschenrechtsverteidiger*innen, die sich für Landrechte und Umweltschutz einsetzen, und fordert die kolumbianischen Behörden auf, diejenigen zu schützen, deren Leben in Gefahr ist. Trotz der Menschenrechtskrise stehen wirksame Schutzmaßnahmen in Kolumbien leider nicht vorrangig auf der politischen Agenda und werden in der Öffentlichkeit kaum diskutiert. Wenn eine globale Bewegung wie Amnesty International ihre Besorgnis über die Geschehnisse in Kolumbien zum Ausdruck bringt, trägt dies dazu bei, dem Thema Priorität einzuräumen, die politisch Verantwortlichen zum Handeln zu zwingen und einen wirksamen Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen herbeizuführen.