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Stammeln für Macron
Resolut, aber erschöpft: Die EU-Beamtin Nathalie Adler (Isabelle Carré) soll aus dem Politikerbesuch im Flüchtlingslager eine PR-Show machen.
© W-FILM / Les Films du Losange
Lionel Baier wirft mit seiner Filmsatire "Nathalie" einen kritischen Blick auf die Politik an den Rändern der Europäischen Union.
Von Jürgen Kiontke
Es ist das Jahr 2019, und die Politik hat ein großes Thema: die sogenannte Flüchtlingskrise an den europäischen Außengrenzen. Auf Sizilien entdecken norwegische Urlaubsgäste eine Kinderleiche, die Medien greifen den Fall auf – Zeit für hohen Besuch. Emmanuel Macron und Angela Merkel haben sich angekündigt.
Nathalie Adler ist Verbindungskommissarin der Europäischen Union. Gemeinsam mit dem Sonderberater des französischen Präsidenten und der Beauftragten der Bundesregierung soll sie einen PR-Event für die große Politik planen: Macron möchte telegen die Ärmel aufkrempeln. Und die deutsche Bundeskanzlerin will Punkte für ihre Migrationspolitik sammeln.
Regisseur Lionel Baier präsentiert mit "Nathalie – Überwindung der Grenzen" eine ungewöhnliche Satire, die viele Teile und Figuren ihres Plots gekonnt durcheinanderwirbelt. Es geht dabei um Grenzschutz, Behördenwillkür und Fluchthilfe. Adler ist das Zentralgestirn des turbulenten Geschehens. Die resolute, aber erschöpfte Beamtin kämpft nicht nur mit dem Auftrag, sondern auch mit ihrem aufmüpfigen Sohn. Der ist in einer NGO und auf TikTok aktiv, wo er für eine kompromisslose Unterstützung der Geflüchteten wirbt.
Seiner Mutter wirft er vor, dass sie "mit den EU-Nazis arbeitet". Zudem setzt er sich gerade mit seiner eigenen jüdischen Familiengeschichte auseinander. "Bei Deutschen ist immer das Lager die Lösung", stellt er fest. Sein Zorn hat jedoch noch einen anderen Ursprung: Nach ihrem lesbischen Coming-out hatte Nathalie Adler die Familie vor Jahren für eine Frau verlassen und war nach Brüssel gezogen. Der Sohn nimmt ihr das bis heute übel.
Von ihm immer wieder gestört, plant sie den Politikerbesuch. Macrons Stab verlangt, dass die Flüchtlinge, die in einem gut funktionierenden Lager leben, kurzfristig in eine provisorisch aufgebaute, auf Dreck getrimmte Zeltstadt umziehen. Später werden sie in das Lager zurückgehen, das angeblich neu hochgezogen wurde: "Frankreich wird sich großzügig zeigen, mit deutschem Geld", sagt Macrons Berater.
Natürlich braucht es auch einen Vorzeigemigranten, den Senegalesen Boubacar Diallo. Er möge beim Pressetermin bitte absichtlich stammeln, sein Französisch sei zu gut. Diallo entgegnet trocken, stammeln falle ihm schwer: Er habe schließlich Werke von Michelle Houellebecq in seine Landessprache übersetzt. Man könne ja stattdessen darüber reden, dass die Lagerverwaltung für vermittelte Arbeit 50 Prozent des Lohns als Gebühr einbehalte.
"Nathalie" ist ein bitterböser, sehenswerter Film, der die Widersprüche der EU-Politik aufs Korn nimmt.
"Nathalie – Überwindung der Grenzen". F/SUI 2023. Regie: Lionel Baier, Darsteller: Isabelle Carré, Théodore Pellerin. Kinostart: 30. Mai 2024
Weitere Kulturrezensionen:
"Calm Down": Die Aktivistin Clara Richter versucht, die 104 Männer in ihrem sinkenden Schlauchboot zu beruhigen. Sie sitzen dicht gedrängt, die Leimnähte lösen sich auf. Seit drei Tagen sind die Geflüchteten schon unterwegs. Auf einem zweiten Boot sollen sich Frauen und Kinder befinden, sagen sie. Von diesem fehlt jedoch jede Spur.
Richter befindet sich mit ihrem Schnellboot 31 Kilometer vor der libyschen Küste. Sie ist die Vorhut der "Eleonore", einem Schiff des Vereins Mission Lifeline, das im Mittelmeer zur Seenotrettung unterwegs ist. Mit dabei: Regisseur Jonathan Schörnig. Für seinen ersten Dokumentarfilm hat er in der Kapitänskajüte der "Eleonore", auf Deck und auf dem Beiboot Kameras installiert. Er will die Rettungsaktion aus verschiedenen Perspektiven zeigen. Wer wissen möchte, wie die Seenotrettung abläuft, ist hier mittendrin dabei. Die Besonderheit: Der Zuschauer sieht den ganzen Film in bis zu sechs verschiedenen Fenstern parallel auf der Leinwand.
Die Crewmitglieder zeigen bereits deutliche Stresssymptome, als es dann noch mal besonders kritisch wird. Ein Boot der libyschen Küstenwache taucht auf, kommt immer wieder viel zu nah heran, bis auf wenige Meter. Der Kapitän Claus-Peter Reisch warnt die Libyer eindringlich, man befinde sich in internationalen Gewässern, dies sei eine Rettungsaktion.
Schörnigs Kameras protokollieren einen realen Fall aus dem Jahr 2019. Die "Eleonore" war mit den Geretteten in Richtung Malta unterwegs, wurde aber von der Küstenwache des Landes daran gehindert, einen Hafen anzusteuern. Ein Sturm zog auf, das Essen wurde knapp. Erst nach achttägiger Odyssee konnte sie schließlich in Italien anlanden.
Schörnigs Film ist ein sehr anschaulicher Bericht über eine der gefährlichsten Fluchtstrecken der Welt, der Bewusstsein für die prekäre Situation am Rande Europas schaffen will.
"Einhundertvier". D 2023. Regie: Jonathan Schörnig. Kinostart: 23. Mai 2024
Rezension: Jürgen Kiontke
Man wird ganz schön hinters Licht geführt von Bernhard Eder. "Golden Days" hat der Wiener Musiker sein neues Album genannt, – dass diese goldenen Tage unwiederbringlich vergangen sind, erwähnt er wohlweislich erst im Text des gleichnamigen Songs, quasi im Kleingedruckten. Nicht nur der Albumtitel leitet in die Irre, auch die Musik. Eder lässt seine Band einen warmen Teppich weben aus akustischen Gitarren, sorgsam gerührtem Schlagzeug, butterweichem Bass, hingetupftem Keyboard und sparsamer Elektronik. Die berückend schönen Moll-Arrangements nehmen einen in den Arm, die Refrains schweben durch den wie mit Samt ausgelegten Klangraum. Nichts deutet darauf hin, mit welchen Themen sich Eder in seinen englischen Texten beschäftigt. So handelt der Song "In Greece" nicht etwa von einem unbeschwerten Trip durch ein sonnendurchflutetes Urlaubsparadies, sondern davon, wie der Tourismus an den Südküsten Europas mit den menschenunwürdigen Bedingungen konfrontiert wird, unter denen dort Geflüchtete aus weniger privilegierten Weltregionen leben müssen. In "The Unbeauty Regime" versucht Eder mit Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft zu telefonieren, er fragt, ob es sich überhaupt noch lohnt, das Bett zu verlassen, und kommt zu dem Schluss: "We are fucked", wir sind erledigt, – "but this is just the beginning", das sei erst der Anfang. Andere Themen sind der überall zu beobachtende Rechtsruck, der alltägliche Medikamentenmissbrauch, demokratiegefährdende Fake News und der Klimawandel.
"Ich bin grundsätzlich ein Optimist", sagt Eder im Gespräch und findet sein Album nicht "pessimistisch, sondern eher realistisch". Vielleicht bricht sich die Depression deshalb erst im letzten Song des Albums auch musikalisch Bahn. Im dunkel dräuenden "Nowayout" zeichnet der Rhythmus einen immer schneller rotierenden Abwärtsstrudel: eine treffende Klangmetapher für den aktuellen Zustand der Welt.
Bernhard Eder: "Golden Days" (Tron/Broken Silence)
Rezension: Thomas Winkler
Welche Musik läuft, wenn das globale Dorf im lokalen Gasthof zusammenkommt? Sollte diese Party jemals steigen, dürfte "We Belong" von Sinkane ganz oben auf der Playlist stehen. Auf seinem achten Album verwandelt der US-Musiker mit sudanesischen Wurzeln seine zwischen allen Welten angesiedelte Biografie in internationalistische, extrem ansteckende Tanzmusik. Ahmed Abdullahi Gallab wurde 1984 in London geboren, seine Eltern lehrten beide an Universitäten. Seine frühe Kindheit verbrachte er im Sudan, mit fünf Jahren flüchtete er mit seiner Familie vor einem Putsch in die USA. Er wuchs zuerst in Utah und später in Ohio auf, besuchte aber oft die Verwandten im Sudan. Die Verbindungen zur ostafrikanischen Kultur rissen nie ab, auch wenn der junge Ahmed in der US-Provinz in einer wütenden Hardcore-Punkband spielte, bevor er als Aushilfsmusiker, Tourschlagzeuger und Sessioninstrumentalist in bekannten Bands wie Caribou oder Yeasayer reüssierte. Zusätzlich organisiert er die Atomic Bomb! Band, in der er mit berühmten Kollegen wie David Byrne, Pharaoh Sanders oder Damon Albarn die Musik der nigerianischen Pop-Legende William Onyeabor bewahrt. Seit Mitte der Nuller Jahre fließen all diese Einflüsse in seinem eigenen Projekt Sinkane zusammen. Das Ergebnis ist eine Musik, in der sich Kraftwerk und Fela Kuti, Amerika und Afrika, Polyrhythmen und Pop auf Augenhöhe begegnen.
Bei oberflächlichem Hören könnte man meinen, "We Belong" sei eindimensionale Partymusik. Das ist zwar nicht unwahr, aber doch ganz falsch: Denn so sehr diese Musik auf die Tanzfläche drängt, so sehr signalisiert sie auch, dass sie ohne ein positives Verständnis moderner Einwanderungsgesellschaften nicht denkbar ist. Sinkane muss keine expliziten Parolen singen, um klarzumachen, wie er den Albumtitel verstanden haben will: Wir gehören zugleich dorthin, wo wir sind und wo wir herkommen. Und: Wir gehören alle zusammen.
Sinkane: "We Belong" (City Slang/Rough Trade)
Rezension: Thomas Winkler