Pressemitteilung Aktuell Libyen 22. Oktober 2019

Libyen: Zivilbevölkerung im Kreuzfeuer

Durch Luftangriffe zerstörte Häuser.

Häuser in Qasr Bin Ghashir, die durch Luftangriffe der GNA am 23. Juni 2019 zerstört wurden. 

Ein neuer Bericht von Amnesty International belegt, dass im anhaltenden Kampf um Tripoli zahlreiche Zivilist_innen getötet und verstümmelt werden. Die beteiligten Kriegsparteien führen wahllose Angriffe durch und setzen in bewohnten Stadtgebieten eine ganze Reihe ungenauer Waffen mit Sprengwirkung ein.

Der Bericht fasst die Ergebnisse der ersten eingehenden Untersuchung vor Ort seit Ausbruch der Kämpfe am 4. April 2019 zusammen. Die Expert_innen von Amnesty International besuchten 33 Orte in und um Tripolis, an denen Luft- und Bodenangriffe stattgefunden haben. Sie sammelten Belege für potentielle Kriegsverbrechen beider Seiten: Im Gebiet der libyschen Hauptstadt stehen sich die von der UN unterstützten Truppen der Regierung der Nationalen Einheit (Government of National Accord – GNA) und die selbst ernannte Libysche Nationalarmee (LNA) gegenüber.

"Unsere Untersuchung vor Ort ergab auf beiden Seiten der Frontlinie eine systematische Missachtung des Völkerrechts. Diese wird durch die fortgesetzten Waffenlieferungen an beide Seiten, die das UN-Waffenembargo verletzen, noch verstärkt", sagt Donatella Rovera, Krisenexpertin bei Amnesty International.

"Zahlreiche Zivilist_innen wurden getötet oder verletzt, da beide Seiten alles einsetzen, dessen sie habhaft werden können, von ungelenkten Raketen aus der Gaddafi-Ära bis zu modernen Drohnen-Lenkwaffen. Die Angriffe könnten mutmaßlich als Kriegsverbrechen eingestuft werden", so Brian Castner, Amnesty-Experte für Waffen und Militäreinsätze.

Erste Untersuchung auf beiden Seiten der Frontlinie

Das Ermittlungsteam von Amnesty International war vom 1. bis 14. August in Libyen und besuchte Kampfschauplätze auf beiden Seiten der Frontlinie in Tripolis, Tajoura, Ain Zara, Qasr Bin Ghashir und Tarhouna. Die Expert_innen der Menschenrechtsorganisation interviewten 156 Anwohner_innen, darunter Überlebende, Zeug_innen und Familienangehörige von Opfern, sowie örtliche Behördenvertreter_innen, medizinisches Personal und Mitglieder der Milizen.

Ergänzend führten Amnesty-Expert_innen im Bereich der digitalen Überprüfung und Expert_innen für den Bereich der digitalen Fernerkundung eine Untersuchung der Angriffe durch. Dabei wurden mittels Foto- und Videoüberprüfung digitale Nachweise für das Geschehen ermittelt, beispielsweise durch die Verifizierung eingesetzter Waffen und Munition. Weder die Angehörigen der GNA noch die der LNA haben auf die Fragen von Amnesty International zu ihren Angriffen reagiert.

Zivilbevölkerung im Kreuzfeuer

Seit Beginn der Offensive vor sechs Monaten wurden den UN zufolge mehr als 100 Zivilist_innen getötet oder verletzt – darunter auch Duzende inhaftierter Flüchtlinge und Migrant_innen. 100.000 Menschen wurden vertrieben. Luftangriffe, Artilleriefeuer und Granateneinschläge haben zivile Wohngebäude und andere infrastrukturell wichtige Einrichtungen beschädigt oder zerstört. Dazu zählen mehrere Feldlazarette, eine Schule und ein Haftzentrum für Migrant_innen. Außerdem wurde der Mitiga-Flughafen als einziger funktionierender Flughafen der libyschen Hauptstadt geschlossen, nachdem er beschossen worden war.

Einige der von Amnesty International dokumentierten Angriffe waren entweder willkürlich oder unverhältnismäßig – das heißt, dass sie gegen fundamentale Prinzipen des Völkerrechts verstoßen. Damit könnten sie als Kriegsverbrechen eingestuft werden. In anderen Fällen gefährdete die Anwesenheit von Kämpfer_innen in der Nähe ziviler Wohnhäuser oder medizinischer Einrichtungen die Zivilbevölkerung.

Unter denjenigen, die getötet oder verletzt wurden, sind Kinder, die auf der Straße spielten, Trauergäste einer Beerdigung oder ganz gewöhnliche Menschen, die ihren Alltagsgeschäften nachgingen.

"Was für ein Krieg ist das, bei dem Zivilist_innen, Familien in ihren Häusern getötet werden? Was können wir tun? Möge Gott uns beistehen", klagte eine Frau gegenüber Amnesty International. Ihr 56-jähriger Ehemann und Vater ihrer sechs Kinder war bei einem Raketeneinschlag in seinem eigenen Schlafzimmer getötet worden, als er sich nach einem Fußballspiel ausruhte.

Der Einschlag geschah während eines willkürlichen Raketenangriffs der LNA auf ein Wohngebiet in dem Vorort Abu Salim im Südwesten von Tripolis am 16. April 2019. Eine Salve von sechs Grad-Raketen, die für ihre Ungenauigkeit bekannt sind, traf mehrere Wohnblöcke, tötete sieben Zivilist_innen und verletzte mindestens vier weitere. Die Überlebenden sind schwer traumatisiert.

Auch bei Luftangriffen der GNA auf Qasr Bin Ghashir und Tarhouna wurden zivile Wohnhäuser und Einrichtungen getroffen. Dabei setzten die GNA-Truppen ungelenkte FAB-500ShL Fallschirmbomben ein, die mit einem Explosionsradius von über 800 Metern für den Einsatz in Stadtgebieten völlig ungeeignet sind.

Angriffe auf den Flughafen und auf Feldlazarette

Der Mitiga-Flughafen war monatelang der einzige funktionierende Flughafen von Tripolis. Nach mehreren Angriffen durch die LNA ist er jetzt geschlossen. Auch Wohngebäude und eine Schule in der Nähe wurden bei offensichtlich willkürlichen Angriffen getroffen.

Außerdem beschädigten oder zerstörten die LNA-Truppen mehrere Krankenwagen und Feldlazarette, in denen verwundete Kämpfer_innen behandelt worden waren. So wurden bei einem Raketenangriff auf ein Lazarett in der Nähe des Flughafens am 27. Juli 2019 fünf Notfallmediziner_innen getötet und acht weitere verletzt. Nach dem Völkerrecht genießen medizinische Fachkräfte und Einrichtungen – auch solche, die verwundete Kämpfer_innen behandeln – besonderen Schutz und dürfen nicht angegriffen werden. Amnesty International stellte jedoch fest, dass GNA-Truppen Feldlazarette und andere medizinische Einrichtungen für militärische Zwecke genutzt haben – was diese zu Angriffszielen macht.

UN-Waffenembargo verletzt

Seit 2011 gilt ein umfassendes Waffenembargo der Vereinten Nationen. Doch ungeachtet dessen unterstützen die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und die Türkei die LNA, beziehungsweise die GNA durch illegale Waffenlieferungen und direkte militärische Hilfe.

Die internationale Gemeinschaft muss das UN-Waffenembargo aufrechterhalten, gegen das die Türkei, die VAE, Jordanien und andere Länder so eklatant verstoßen

Brian
Castner
Amnesty-Experte für Waffen und Militäreinsätze

"Alle Seiten müssen umgehend konkrete Maßnahmen ergreifen, um in Übereinstimmung mit dem Kriegsrecht die Zivilbevölkerung zu schützen. Außerdem müssen sie das Verhalten ihrer Streitkräfte untersuchen. Es muss eine Untersuchungskommission eingesetzt werden, um für die Opfer und ihre Angehörigen den Weg für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu ebnen.", sagt Donatella Rovera.

"Die Mitglieder des UN-Menschenrechtsrats sollten dringend zusammenarbeiten und einen Mechanismus einrichten, der die Verantwortlichen für begangene Menschenrechtsverletzungen ermittelt und Belege für Verbrechen sichert."

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