Pressemitteilung Aktuell Afghanistan 15. Dezember 2021

Afghanistan: Kriegsverbrechen durch Taliban und zivile Opfer durch US-Militär

Das Bild zeigt mehrere bewaffnete maskierte Männer

Amnesty International dokumentiert in einem neuen Bericht Kriegsverbrechen der Taliban während der Machtübernahme im August dieses Jahres. Die Recherche zeigt außerdem, dass es zahlreiche zivile Opfer durch Angriffe des US-Militärs gab. Von der neuen Bundesregierung fordert Amnesty International die schnelle Umsetzung des angekündigten humanitären Aufnahmeprogramms für Afghanistan.

Der Bericht "No Escape: War crimes and civilian harm during the fall of Afghanistan to the Taliban" belegt, dass bereits vor dem Zusammenbruch der Regierung Mitte des Jahres alle Konfliktparteien Angriffe verübten, unter denen vor allem die Zivilbevölkerung zu leiden hatte. In der Endphase des Konflikts, so der Bericht, verübten die Taliban eine Reihe von Kriegsverbrechen, unter anderem Folter, außergerichtliche Hinrichtungen und Tötungen. Die Analyse von Boden- und Luftoperationen der afghanischen Streit- und Sicherheitskräfte sowie des US-Militärs zeigen zudem, dass es zahlreiche zivile Todesopfer gab.

 

Julia Duchrow, Stellvertreterin des Generalsekretärs von Amnesty International in Deutschland, sagt: "Unser Bericht zeigt, dass Kriegsverbrechen und unglaubliches Blutvergießen durch die Taliban an der Tagesordnung waren. Durch alle drei Konfliktparteien – Taliban, afghanische Streitkräfte und US-Militär – kamen Zivilist_innen zu Tode. Unsere Recherchen belegen, dass die afghanische Bevölkerung den Machtwechsel wieder einmal mit vielen Menschenleben bezahlt hat. Die Taliban haben sich dabei Kriegsverbrechen schuldig gemacht. Der Internationale Strafgerichtshof muss seine Fehlentscheidung rückgängig machen, die Ermittlungen zu US-amerikanischen und afghanischen Militäroperationen zu depriorisieren. Stattdessen muss er allen Hinweisen zu möglichen Kriegsverbrechen nachgehen. Zivilist_innen brauchen Wiedergutmachung, Verantwortliche für Kriegsverbrechen müssen in fairen Verfahren verurteilt werden."

 

Amnesty International recherchierte vom 1. bis 15. August 2021 in Kabul. Darüber hinaus führte die Menschenrechtsorganisation von August bis November 2021 Interviews mit Opfern und Zeug_innen mittels Video- und Sprachanrufen. Das "Crisis Evidence Lab" der Organisation überprüfte zudem Satellitenbilder, Videos und Fotos sowie medizinische und ballistische Informationen und befragte einschlägige Expert_innen.

 

Amnesty International appelliert an die Bundesregierung, ihre angekündigte menschenrechtlich geleitete Außenpolitik jetzt so schnell wie möglich umzusetzen. Duchrow sagt: "Die neue Bundesregierung muss jetzt alles unternehmen, um bedrohte Afghan_innen so schnell wie möglich bei der Ausreise aus Afghanistan und den Nachbarländern zu unterstützen. Das im Koalitionsvertrag festgelegte humanitäre Aufnahmeprogramm für gefährdete Afghan_innen muss zügig umgesetzt werden. Außerdem sollte die neue Bundesregierung jetzt Druck auf die Taliban ausüben, damit sie ihre eigenen Zusagen zum Schutz der Bevölkerung auch erfüllen."

Das Bild zeigt mehrere Frauen mit Plakaten im Hintergrund, im Vordergrund ein Taliban-Kämpfer mit schwerer Bewaffnung

Hintergrund

Im Zuge ihrer fortschreitenden Offensive im Juli und August 2021 folterten und töteten Mitglieder der Taliban bei Vergeltungsanschlägen Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten, ehemalige Soldaten der Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) sowie Personen, die als Sympathisant_innen der Regierung galten. Amnesty International hat bereits im September Massaker der Taliban an Hazaras in den Provinzen Ghazni und Daykundi dokumentiert. Das gesamte Ausmaß der Tötungen im Land ist schwer zu beziffern, da die Taliban in vielen ländlichen Gebieten den Mobilfunk unterbrochen und den Internetzugang stark eingeschränkt haben.

 

Der Bericht dokumentiert zudem vier Luftangriffe der vergangenen Jahre, von denen drei höchstwahrscheinlich von US-Streitkräften und einer von der afghanischen Luftwaffe durchgeführt wurden. Bei den Angriffen wurden insgesamt 28 Zivilpersonen getötet (20 Erwachsene und acht Kinder) und sechs weitere verletzt. Sämtliche Angriffe hatten den Tod von Zivilpersonen zur Folge, da die USA ihre Bomben in dicht besiedelten Gebieten abwarfen. Amnesty International hat bereits in zahlreichen anderen Konflikten ähnliche Auswirkungen von schweren Explosivwaffen dokumentiert und unterstützt die Eindämmung ihres Einsatzes auf politischer Ebene.

 

Im Bericht werden weiterhin acht Bodenkämpfe dokumentiert, bei denen insgesamt zwölf Zivilpersonen getötet (sechs Erwachsene und sechs Kinder) und 15 weitere verletzt wurden. Aus Nachlässigkeit und unter Missachtung der Gesetze führten die von den USA ausgebildeten ANDSF-Kräfte häufig Mörserangriffe durch, bei denen Wohnhäuser beschädigt oder zerstört und auch Zivilpersonen getötet wurden. Der Einsatz von Mörsern, deren fehlende Genauigkeit in bewohnten Gebieten fatale Folgen für die Zivilbevölkerung haben kann, stellt unter Umständen ein Kriegsverbrechen dar.

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