Aktuell Syrien 03. April 2025

Syrien: Massaker an alawitischen Zivilist*innen müssen als Kriegsverbrechen untersucht werden

Militärfahrzeug bei Nacht

Truppen der neuen Regierung machen sich auf den Weg in die syrische Küstenstadt Latakia, um gegen Assad-treue Milizen zu kämpfen (7. März 2025).

Anfang März 2025 haben Milizen, die der neuen syrischen Regierung nahestehen, gezielt Angehörige der alawitischen Minderheit getötet. Die Regierung muss sicherstellen, dass die Verantwortlichen für diese Gräueltaten zur Rechenschaft gezogen werden. Außerdem müssen unverzüglich Maßnahmen ergriffen werden, um sicherzustellen, dass Menschen in Syrien nicht aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit verfolgt werden.

Saed* besuchte am 9. März 2025 seine Eltern und seine Brüder, um Zeit mit ihnen zu verbringen. Sie wohnen im Viertel al-Qusour in der syrischen Hafenstadt Banias. Doch alles kam anders. Gegen 10 Uhr stürmte eine Gruppe bewaffneter Männer das Gebäude. Saed und seine Familie hörten Schüsse. "Ich rief meiner Familie zu, damit sie mir folgen, und rannte durch die Tür auf das Dach. Sie waren hinter mir. Ich erreichte das Dach, aber meine Familie war nicht da", erinnert er sich. "Dann hörte ich, wie die bewaffneten Männer meinen Bruder fragten, ob er Alawit oder Sunnit sei. Mein Bruder antwortete, aber seine Stimme zitterte." Danach wurden sie nach unten gebracht, Saed hörte Schüsse. Wenige Minuten später fand er die Leichen seines Vaters und seiner Brüder am Eingang des Gebäudes. 

Vorsätzliche Tötung von alawitischen Zivilist*innen

Aktuelle Recherchen von Amnesty International belegen: Der neuen syrischen Regierung nahestehende Milizen haben am 8. und 9. März 2025 in der Küstenstadt Banias mehr als 100 Menschen getötet. Amnesty hat 32 der Tötungen untersucht, darunter befanden sich 24 Männer, sechs Frauen und zwei Kinder. Die Schlussfolgerung ist eindeutig: Diese Tötungen waren vorsätzlich gegen die alawitische Minderheit gerichtet und sind rechtswidrig.

"Die Verantwortlichen für diese brutalen Massentötungen müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Unsere Beweise deuten darauf hin, dass regierungsnahe Milizen in grausamen Vergeltungsangriffen gezielt Zivilist*innen der alawitischen Minderheit ins Visier genommen und kaltblütig aus nächster Nähe erschossen haben. Zwei Tage lang haben die Behörden nicht eingegriffen, um das Morden zu beenden. Wieder einmal hat die syrische Zivilbevölkerung die höchsten Kosten zu tragen, da die Konfliktparteien versuchen, ihre Rechnungen zu begleichen", sagte die Generalsekretärin von Amnesty International, Agnès Callamard.

Die vorsätzliche Tötung von Zivilpersonen oder die vorsätzliche Tötung von verletzten, sich ergebenden oder gefangenen Kämpfer*innen ist ein Kriegsverbrechen. Die Staaten sind verpflichtet, die Vorwürfe von rechtswidrigen Tötungen rasch unabhängig und unparteiisch zu untersuchen.

Amnesty International hat im Rahmen der Recherche 16 Personen befragt, darunter fünf in der Stadt Banias und sieben in anderen Gebieten an der Küste, zwei in anderen Teilen Syriens und zwei außerhalb Syriens. Das Crisis Evidence Lab von Amnesty International überprüfte zudem neun Videos und Fotos, die zwischen dem 7. und 21. März 2025 mit Researcher*innen geteilt oder in sozialen Medien gepostet wurden, führte Waffenanalysen durch und analysierte Satellitenbilder. 

Das Bild zeigt Menschen mit Protestplakaten

Demonstration in Köln am 15. März 2025 in Solidarität mit der alawitischen Minderheit in Syrien

 

"Hunderte von Leichen"

Einige Zeug*innen berichteten Amnesty International, dass sie von den bewaffneten Männer für Verbrechen der früheren Regierung unter Bashar al-Assad verantwortlich gemacht wurden. Sie seien zudem gefragt worden, ob sie Alawit*innen seien. Die Familien der Opfer wurden von den Behörden gezwungen, ihre Angehörigen in Massengräbern ohne religiöse Rituale oder eine öffentliche Zeremonie zu bestatten.

Auch Saeds Angehörige wurden in einem Massengrab beigesetzt. "Ich habe Hunderte von Leichen gesehen", sagte er. "Ich war allein bei der Beerdigung meiner Brüder. Die Leichen lagen neben- und übereinander." Die Sicherheitskräfte hätten dafür einen leeren Platz neben dem Friedhof ausgehoben. 

"Die jüngsten Massaker an der alawitischen Minderheit hinterlassen neue Narben in einem Land, das Jahrzehnte lang unter schweren Menschenrechtsverstößen durch die Assad-Regierung und bewaffnete Gruppierungen zu leiden hatte", sagt Agnès Callamard.

Auch Untersuchungen anderer Organisationen bestätigten die Recherchen von Amnesty. Die UN konnten insgesamt 111 Tötungen von Zivilpersonen in den Gouvernements Tartous, Latakia und Hama dokumentieren. Sie gehen jedoch davon aus, dass die Zahl der an der Küste getöteten Menschen deutlich höher ist. Das Syrian Network for Human Rights (SNHR) dokumentierte die rechtswidrige Tötung von 420 Zivilpersonen und entwaffneten Kämpfer*innen, darunter 39 Kinder, zumeist durch mit den Behörden verbundene Milizen. 

Chronologie der Gewalt

  • Die gewalttätigen Kämpfe begannen am 6. März 2025. An jenem Tag verübten bewaffnete Gruppen, die mit der früheren Regierung von Präsident Baschar al-Assad verbunden waren, mehrere koordinierte Angriffe auf Sicherheits- und Militäreinrichtungen in den Küstengouvernements Latakia und Tartus. Daraufhin leiteten das Verteidigungs- und das Innenministerium, unterstützt von mehreren Milizen, eine Gegenoffensive ein. Diese führte zu einer erheblichen Eskalation der Gewalt.
  • Am 8. März gaben die Behörden bekannt, dass sie die Kontrolle über alle betroffenen Gebiete wiedererlangt hatten. In den darauffolgenden Tagen töteten mit der derzeitigen Regierung verbundene Milizen gezielt alawitische Zivilist*innen in Städten entlang der Küste. Dazu gehörte die Stadt Banias, die 2013 Schauplatz von außergerichtlichen Hinrichtungen durch die Regierung von Baschar al-Assad war
  • Am 9. März versprach der syrische Präsident Ahmad al-Sharaa, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Er setzte einen Untersuchungsausschuss ein, der die Ereignisse an der Küste untersuchen soll, und bildete einen übergeordneten Ausschuss zur Wahrung des inneren Friedens. 
Das Bild zeigt einen Mann der in Mikrofone spricht

Al-Farhan ist Sprecher des Untersuchungsausschusses, der von Syriens neuer Regierung eingesetzt wurde. Hier informiert er auf einer Pressekonferenz am 25. März 2025 in der Hauptstadt Damaskus über den Stand der Untersuchungen zu den getöteten alawitischen Zivilist*innen.

 

Der Untersuchungsausschuss scheint ein positiver Schritt zur Aufklärung der Ereignisse und zur Identifizierung der mutmaßlichen Täter zu sein. Dennoch müssen die Behörden sicherstellen, dass der Ausschuss über das Mandat, die Befugnisse, das Fachwissen und die Ressourcen verfügt, um diese Tötungen zu untersuchen. Dazu gehören der Zugang zu Zeug*innen und Familien der Opfer und die Möglichkeit, diese zu schützen, sowie der Zugang zu den Massengräbern und die erforderliche forensische Expertise. Sie sollten auch sicherstellen, dass der Ausschuss ausreichend Zeit hat, um seine Ermittlungen abzuschließen.

"Die Regierung muss ein menschenrechtliches Prüfungsverfahren durchführen. Wenn es stichhaltige Beweise dafür gibt, dass eine Person schwere Menschenrechtsverletzungen begangen hat, darf diese Person nicht in einer Position verbleiben oder in eine Position gebracht werden, in der sie solche Verletzungen wiederholen könnte", sagt Agnès Callamard.

Weitere Berichte von Augenzeug*innen

Bewohner*innen des Viertels al-Qusour in Banias berichteten, dass sie am 7. März 2025 Schüsse hörten. Am nächsten Tag drangen Dutzende von Milizionären, die mit der derzeitigen Regierung verbunden sind, in das Viertel ein. Dann begannen die Tötungen. Hier berichten Samira* und Ahmad*, was sie erlebt haben: 

Samira: „Ich habe sie angefleht, [meinen Mann] nicht zu entführen“

Samira berichtete Amnesty International, dass eine Gruppe bewaffneter Männer am 9. März gegen 10 Uhr morgens in ihr Haus eindrang und ihren Mann mit einem Kopfschuss tötete. Einer der Männer fragte sie und ihren Mann, ob sie Alawit*innen seien, und gab dann der alawitischen Gemeinschaft die Schuld am Tod seines Bruders. Sie sagte: "Ich habe sie angefleht, [meinen Mann] nicht zu entführen. Ich erklärte ihnen, dass wir nichts mit den Morden in der Vergangenheit oder dem Tod seines Bruders zu tun hätten." Samira sagte, die Männer hätten ihren Mann auf das Dach gebracht und ihm gesagt, sie würden ihm zeigen, wie Alawit*innen Sunnit*innen getötet hätten. "Nachdem sie gegangen waren, ging ich auf das Dach und sah seine Leiche. Ich musste fliehen und flehte meinen Nachbar*innen an, die Leiche zu beschützen". Amnesty International hat sechs Bilder ausgewertet, auf denen die Leiche des Mannes, der eine sichtbare Kopfwunde hatte, in einer Blutlache liegt. 

Samira sagte, dass neben ihrem Mann auch der Ehemann ihrer Nachbarin und ihr Schwager getötet wurden.

Ahmad: „Meinem Vater wurde befohlen, sich wegzudrehen“

Gegen 11 Uhr am 8. März erhielt Ahmad einen Anruf von einem Verwandten, der ihm mitteilte, dass bewaffnete Männer sein Haus gestürmt und seinen Vater erschossen hätten. Ahmad sagte Amnesty International: "Meine Mutter erzählte mir, dass vier bewaffnete Männer am frühen Morgen unser Haus betraten. Ihre erste Frage war, ob [meine Familienmitglieder] Alawit*innen seien." Die Männer begannen, Ahmads Bruder zu verprügeln, sein Vater versuchte, sie aufzuhalten. "Meinem Vater wurde befohlen, sich wegzudrehen. Als er das tat, schoss ihm ein bewaffneter Mann in den Rücken, wobei die Kugel aus seiner Brust austrat. 20 Minuten später kamen sie zurück und nahmen die Leiche mit." Amnesty International hat ein Video verifiziert, auf dem Blut auf dem Boden zu sehen ist. Es ist laut Ahmad das Blut seines Vaters.

Ahmad sagte, dass ein naher Verwandter die Leichen in einem nahegelegenen Krankenhaus in Anwesenheit bewaffneter Männer mehrfach durchsuchen musste, bis sie die Leiche seines Vaters finden konnten. Ein medizinischer Mitarbeiter bestätigte Amnesty International, dass sie von Milizen und Zivilschutzteams Dutzende von Leichen erhalten haben. Diese wurden im Krankenhaus in Banias – meist außerhalb des Kühlschranks der Leichenhalle – aufbewahrt. Die Leichen waren aufeinandergestapelt und die Familien mussten diese durchsuchen, um ihre Angehörigen zu finden.

*Name aus Sicherheitsgründen geändert

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