Tot bringen sie kein Geld

Geflüchteter in Khartum
© Swinde Wiederhold
Im Sudan boomt das Geschäft mit Entführungen geflohener Eritreerinnen. Viele werden von ihren Kidnappern vergewaltigt – so wie Neda.
Von Lea Wagner, Khartum
Der Jeep rast auf Neda* zu, er bremst ab, so abrupt, dass die Reifen blockieren. Männer mit Turbanen und weißen Gewändern reißen die Türen auf und springen aus dem Wagen. Sie halten Schlagstöcke und Gewehre in den Händen und brüllen Befehle auf Arabisch. Wahllos greifen sie in die Menge und schleifen ihre Opfer zum Auto. Wer kann, rennt weg. Raus in die Nacht, in die Sesamfelder, zurück ins Flüchtlingslager — irgendwohin, nur weg von den Männern mit den Waffen. Neda ist wie gelähmt. "Renn weg!", ruft ein Junge, doch Neda kann nicht. Ein paar Sekunden steht sie nur da.
Es sind Sekunden, die sie ihre Freiheit kosten. Die Männer steuern auf sie zu. Neda rennt weg, endlich, doch nach wenigen Schritten stolpert sie und fällt hin. Die Männer halten sie fest, einer an jedem Arm, sie rütteln an ihr und hauen ihr mit Stöcken ins Genick, bis sie das Bewusstsein verliert.
Neda ist 14 Jahre alt. Ihre Heimat Eritrea hat sie vor zwei Wochen verlassen, zu Fuß. Mit vier Jungs ist sie nachts über die Grenze in den Sudan gelaufen, im Gepäck nur zwei Hosen, ein Gewand und eine Packung Kekse. Neda ist geflohen, um dem Militärdienst zu entgehen, den sie ein Jahr später, nach ihrem Schulabschluss, hätte antreten müssen. Ihren Eltern hat sie nichts von ihren Plänen erzählt, eines Abends hat sie sich bei Einbruch der Dunkelheit davongeschlichen.
Die meisten, die aus Eritrea fliehen, durchqueren den Sudan. Um die 300.000 Eritreer sollen sich im Land aufhalten, die meisten ohne Papiere. Viele lassen sich nach wenigen Wochen weiter nach Libyen schleusen und von dort nach Europa. Andere bleiben Jahre, arbeiten schwarz, bauen sich eine neue Existenz auf, ohne jegliche Rechte. Sicher sind sie im Sudan nicht. Die größte Gefahr — neben Abschiebungen — sind Entführungen. Zu denen kommt es jeden Monat, oft direkt beim Grenzübertritt oder unmittelbar vor den Flüchtlingslagern, wie in Nedas Fall.
Für Frauen und Mädchen ist die Lage besonders gefährlich: Sie werden nicht nur entführt und gefoltert, sondern auch vergewaltigt. Sudanesische Frauenrechtsorganisationen schätzen, dass zwei von drei Frauen auf der Flucht vergewaltigt werden.
Als Neda wieder aufwacht, ist sie gefesselt. Sie liegt zusammengekrümmt auf der Ladefläche des Toyotas, ihr Kopf tut weh, und irgendetwas drückt auf ihren Schenkel. Es ist der Kopf eines Jungen, die Entführer haben insgesamt sechs Flüchtlinge gefangen genommen und auf die Ladefläche des Pick-ups geworfen. Sie rasen durch die Nacht, Neda hat Angst, von der Ladefläche zu fallen. Vielleicht wäre es das geringere Übel, denkt sie. Der Mann hinterm Steuer und sein Beifahrer gehören zum Stamm der Rashaida, einem Nomadenvolk, dessen Ursprünge in Saudi-Arabien und dem Jemen liegen.
Seit Langem machen sie Geschäfte im Grenzgebiet zwischen Sudan und Eritrea, sie kennen die Checkpoints, wissen, an welcher Stelle die Grenze durchlässig ist. Oder wen sie bestechen müssen. Früher handelten die Rashaida mit Gold, Öl und Waffen. Jetzt sind Menschen ihre Ware. Das Geschäft mit den Entführungen ist äußerst lukrativ. Man flüstert auf Khartums Straßen, die vielen neuen Villen seien mit Lösegeld bezahlt worden.
Schutzlos auch im Schlaf
Nach zwei Stunden hält der Jeep. Die Männer treiben Neda und die anderen fünf Entführten — vier Jungs und ein Mädchen — mit ihren Waffen vor sich her, in eine Art Schlucht. Mehr erkennt Neda nicht, es ist stockfinster. Der Boden ist sandig. Sie lässt sich fallen. Vor dem Einschlafen betet sie. Wenig später wird Neda wach, es ist hell, die Sonne knallt durch die Palmblätter. Neda schaut sich um.
Die Schlucht ist ein ausgetrocknetes Flussbett, fünf, sechs Meter tief. Direkt neben ihr kauern die anderen Entführungsopfer. Flüstern geht nur, wenn die Bewacher kurz weg sind. Wer in ihrer Anwesenheit spricht, bekommt einen Gewehrlauf an die Schläfe gepresst. Die Jungs sind an Händen und Füßen gefesselt, Neda und das andere Mädchen nur an den Füßen. Die Hände haben sie frei — damit sie kochen können. Kochen ist gut. Wer kocht, wird in dieser Zeit nicht angerührt. Neda kann nicht kochen.
Es ist der zweite Tag. Neda sitzt auf der Erde, als sich der Clanchef nähert. Er zwingt sie, sich ein Sexvideo auf seinem Handy anzusehen. Sie wendet sich ab, er packt ihren Kopf, reißt ihn herum, zwingt sie, auf den Bildschirm zu schauen. Dann zieht er sein bodenlanges Gewand bis zur Hüfte hoch, nimmt sein Glied in die Hände und streift sich ein Kondom über. "Wir müssen dich schützen, ich habe HIV", sagt er. Neda presst ihre Beine zusammen. Er wird wütend, schüttelt Neda und flucht. Nach mehreren Versuchen lässt er entnervt von ihr ab und stößt sie von sich weg, angewidert. Dann verschwindet er mit lauten Schritten. Wenig später kommt ein anderer Mann. Er ist stärker.
Die nächsten Wochen wird Neda regelmäßig vergewaltigt. Jeden Tag, oft mehrmals, von verschiedenen Männern. Widerstand zu leisten, traut sie sich kaum noch. Einer ihrer Peiniger steckt ihr sein Gewehr ins Ohr, wenn sie sich weigert. Wenn Neda vergewaltigt wird, sitzen die anderen neben ihr. Wie Neda vergewaltigt wird, sehen sie nicht, die Rashaida herrschen sie an, sich umzudrehen. So viel Anstand muss sein.
Neda betet. Jeden Tag viermal. Einmal hat sie einen Hautausschlag am Rücken, einmal verschwindet einer der Männer wortlos, ohne sie anzufassen. Neda hält beides für Wunder: die Antwort Gottes auf ihre Gebete. Die Tage zählt sie nicht, ihr Zeitgefühl setzt kurz nach der Entführung aus. Nachts schläft sie nie viel mehr als eine Stunde, mehr traut sie sich nicht: Im Schlaf kann sie die Beine nicht zusammenpressen.
Wenn sie nachts wach liegt, sieht sie Lichter, nur ein paar Hundert Meter entfernt. Es sind Lichter von den Hütten der Rashaida. Immer größere Teile des Stammes werden sesshaft, auch weil ihnen die sudanesische Regierung Land geschenkt hat. Damit sollten sie ruhiggestellt werden. Gebracht hat das nichts: Die Entführungen haben zugenommen. Nur wenige Menschenhändler werden festgenommen. Und wenn, kaufen sie sich frei oder lassen einen ihrer Handlanger für sich einsitzen. Es heißt, auch die sudanesische Regierung verdiene an den Entführungen. Eines Tages kommen Dorfbewohner zu Neda an die Grube. Sie blicken hinab, sagen nichts, glotzen nur. Neda und die anderen recken ihnen die Hände entgegen, es sind stumme Schreie. Doch nichts passiert.
Nedas Entschluss steht fest – auch wenn es Sünde ist in ihrer Religion, dem orthodoxen Christentum. Sie sagt sich, Gott ist gnädig, er wird das verstehen. Das erste Mal trinkt sie Benzin. Doch das Benzin entpuppt sich als Speiseöl. Das zweite Mal klettert sie die Wand der Grube hoch und lässt sich mit voller Wucht hinunterfallen. Doch ihre Knochen wollen nicht brechen. Das dritte Mal versucht sie, sich mit einem herumliegenden Küchenmesser die Pulsadern aufzuschneiden. Doch ihre Peiniger reißen ihr das Messer aus der Hand. Neda soll leben. Tot bringt sie kein Geld.
Lösegeld von der Familie
Gleich zu Beginn wird Neda gezwungen, die Nummern von Verwandten herauszugeben, auch die ihrer Mutter. Täglich rufen sie Nedas Mutter an. Täglich muss sie mit anhören, wie ihre Tochter geschlagen wird, wie sie schreit, dann vor Schmerzen wimmert und irgendwann verstummt. 10.000 US-Dollar Lösegeld verlangen sie. Nedas Mutter hat keinen Job, ihr Vater ist beim Militär und verdient umgerechnet etwa zwanzig Euro im Monat.
Die Mutter verkauft ihren Schmuck, bittet Freunde und Verwandte um Geld. Nach vier Wochen hat sie 3.000 US-Dollar zusammen. Den Entführern genügt es. Sie jagen Neda und die anderen Opfer aus dem Flussbett zum Jeep, wieder ist es Nacht. Ein Junge fehlt, seine Familie hat nicht gezahlt. Nach zwei Stunden endet die Fahrt in einem Sesamfeld, nicht weit vom Eingang zum Flüchtlingslager Shagarab. Genau dort, wo die Gruppe entführt wurde.
"Geht rechts lang", sagt der Fahrer. "Links stehen Sicherheitsleute." Neda schleppt sich durch den Eingang des Lagers, in Richtung der Baracken, wo sie damals, vor ihrer Entführung, schon ein paar Nächte geschlafen hatte. Damals, das war vor vier Wochen. Das sagen ihr die Menschen, die ihr entgegengelaufen kommen und deren Gesichter sie wiedererkennt. "Vier Wochen?" Neda sagt das nichts. Es hätten auch vier Monate sein können. Vier Jahre oder vier Tage. Es spielt keine Rolle.
Die Menschen geben ihr Seife und frische Kleider, nehmen sie mit in eine Baracke, in der nur Frauen untergebracht sind, zehn Frauen, alle in einem Raum, vielleicht fünfzehn Quadratmeter groß. Fragen stellen sie Neda keine, schauen sie nur lange an. Und raten ihr, am nächsten Tag ins Büro des UNHCR, des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen, zu gehen. Für einen Schwangerschaftstest – und einen Aidstest.
Im UNHCR-Büro sitzen nur Männer. Sie unterhalten sich und lachen. Als Neda an der Reihe ist, bittet sie einen der Männer um ein Vieraugengespräch. Doch als sie allein sind, findet sie die Worte nicht. Ob sie vergewaltigt wurde? Neda antwortet mit Nein, dann kommen ihr die Tränen. Der Mann ist überfordert, draußen warten noch Dutzende, die alle irgendetwas von ihm wollen: Essensgutscheine, Überweisungen für einen Arztbesuch, Geld, ein offenes Ohr, ein Ticket nach Europa.
Der Mann beendet das Gespräch und überlässt Neda sich selbst. Einen Schwangerschaftstest macht sie nicht. Einen Aidstest auch nicht. Neda weint und weint. Einen ganzen Monat. Sie ist nicht imstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Oft sitzt sie stundenlang apathisch in einer Ecke ihrer Hütte, unfähig sich zu bewegen. Ihre Mitbewohnerinnen sind genervt, sie sagen, Neda solle aufhören zu weinen – das bringe doch nichts. Neda geht dann nach draußen, setzt sich auf die Erde zwischen den Hütten. Weint im Freien weiter.
Wenn Neda durch das Camp läuft, sieht sie überall Plakate. Auf ihnen warnt das UNHCR die Flüchtlinge vor Entführungen. Die Aufschrift ist in mehrere Sprachen übersetzt, es gibt auch Comic-Bilder, damit es auch die Analphabeten verstehen. Drei Zahlen stehen darauf: "999". Die Notrufnummer für Polizei und medizinische Notfälle. Neda kommt das wie Hohn vor. Weg wollen sie alle aus Shagarab. Jeder Flüchtling aus Eritrea kennt den Namen des Camps. Auch die Horrorgeschichten. Jeden Monat, so heißt es, nehme sich ein Flüchtling das Leben, fast alle sollen Frauen sein.
Gefangen im Lager
Anfang der achtziger Jahre war Shagarab nichts weiter als eine Ansammlung von Lehmhütten mit Strohdächern, schnell errichtet, um die Flüchtlinge aus Eritrea aufzunehmen. Dort herrschte Krieg. Auch die Unabhängigkeit 1991 stoppte den Strom von Flüchtlingen nicht, im Gegenteil: Seit der eritreische Präsident Isayas Afewerki den für Männer und Frauen verpflichtenden Militärdienst 1998 von achtzehn Monaten auf unbestimmte Zeit ausdehnte, flüchteten noch mehr Menschen.
Shagarab ist mittlerweile eine Stadt. Etwa 35.000 Menschen leben hier, viele bereits in der zweiten Generation. Es gibt ein Marktviertel, den Souk, Kaffeehäuser, die Namen wie "Asmara Café" tragen, Billardstuben, Shisha-Bars, Schulen, Moscheen, Kirchen. Im Studio "Monalisa" kann man Passbilder machen lassen. Für alle Bewohner gibt es nur einen Arzt. Der ist 28 und muss manchmal auch noch Patienten aus den angrenzenden Gemeinden mitversorgen. Die einzige Psychologin hat schon vor Monaten aufgehört, zurzeit wird ein Nachfolger gesucht.
In der Regenzeit steht das Camp oft unter Wasser, in die Hütten regnet es hinein. Der Schlamm vor den Hütten reicht dann bis zu den Knien. Mitarbeiter kommen nach starken Regenfällen nicht ins Camp. Medikamente und Essen auch nicht. Regenzeit heißt auch Seuchengefahr. Dann drohen Magen-Darm-Infekte und Malaria- und Cholera-Ausbrüche. Vor Kurzem hat es wieder geregnet. Eine Hilfsorganisation rechnet jeden Tag mit dem Ausbruch einer Seuche.
Rollt ein Jeep mit Besuchern ins Camp – oft kommt das nicht vor, der Geheimdienst versagt in den meisten Fällen den Zutritt – rennen Kinder auf das Auto zu. Auch junge Männer kommen und stecken einem Telefonnummern zu und Zettel, auf denen sie in feinsäuberlicher, verschnörkelter Handschrift ihre Geschichte aufgeschrieben haben, in der Hoffnung, jemand liest sie und holt sie raus aus Shagarab.
Die vom UNHCR verteilten Essensgutscheine im Wert von 120 sudanesischen Pfund, umgerechnet sieben Euro, reichen meist nur für eine Woche. Den Rest des Monats müssen andere Flüchtlinge aushelfen. Die, die Verwandte in Europa oder Amerika haben, von denen sie immer wieder Geld geschickt bekommen. Die Menschen warten und warten, können nicht glauben, dass die Vereinten Nationen, der Westen, sie vergessen haben. Irgendwann nehmen sie ihr Bündel Kleider und verlassen Shagarab in Richtung Khartum. Das ist die Stunde der Entführer.
Neda traut sich kein zweites Mal aus dem Camp. Was sie sonst machen soll, weiß sie auch nicht. Ein Eritreer, Mitte vierzig, beobachtet sie, während sie mal wieder auf der Erde sitzt und weint. Irgendwann spricht er sie an: "Mädchen, du musst weg von hier, nach Khartum." Er will ihr helfen, in die Hauptstadt zu kommen. Neda hat Angst, sie kennt den Mann nicht. Doch ihr fehlt die Kraft, um zu protestieren. Außerdem habe sie nichts mehr zu verlieren, sagt sie sich. Dann willigt sie ein. Der Mann bringt sie zu einem Viehtransporter. Neda zwängt sich auf die Ladefläche zwischen Schafe und Kamele.
Der Lastwagen fährt los, und die Hütten des Camps werden immer kleiner. Irgendwann sieht sie nur noch bunte Punkte in einem Meer von Schlamm. Die Punkte, das sind Plastiktüten, die sich in den Drähten des Maschendrahtzauns verfangen haben. Sie flattern im Wind, wie zum Abschied. Ein Abschied für immer, hofft sie. Da sitzt sie nun, eingezwängt zwischen den Tieren. Tiere können nicht grausamer sein als Menschen, denkt sie. Und lässt sich tiefer auf die Ladefläche sinken.
Flucht ins Schreiben
Dreizehn Stunden später ist Neda in Khartum. Sie hat noch die Nummer eines ehemaligen Schulfreundes, der in der Hauptstadt lebt. Er holt sie ab, sie kann erst einmal bei ihm wohnen. Das alles erzählt sie im Behandlungsraum einer Frauenrechtsorganisation in Khartum, neun Monate nach ihrer Entführung. Der Raum ist kaum größer als ein Badezimmer. Rosafarbene Kacheln kleiden ihn aus, es dringt nur wenig Tageslicht durch ein winziges vergittertes Fenster unterhalb der Zimmerdecke. Ein Vorhang mit bunten Schmetterlingsmotiven ziert die Wand.
Neda sitzt aufrecht auf einem zerschlissenen braunen Polstersessel, über ihrem Kopf rattert die Klimaanlage. Ihr schmaler hochgewachsener Körper ist gespannt wie eine Feder, ihre Hände sind in die Polster gestemmt, als würde sie jeden Moment aufspringen. Wenn Neda spricht, dann sprechen auch ihre Hände, ihre Augenbrauen, ihr ganzer Körper. Sie gestikuliert wild, und ihre großen tiefbraunen Augen blitzen auf. Neda ist nun fünfzehn, sie spricht wie eine erwachsene Frau.
Nur wenn sie lacht, tief, kehlig und ungehalten, sieht sie aus wie ein Schulmädchen, das auf dem Pausenhof seiner besten Freundin einen unanständigen Witz erzählt. Wenn sie lacht, zeigt sich der letzte Rest Babyspeck in ihren Wangen, und ihr zarter Körper schüttelt sich.
Von Nedas Vergewaltigung weiß niemand außer den Mitarbeitern der Frauenrechtsorganisation. Sie will es weder ihrer Familie noch ihren Freunden erzählen. Kann es niemandem erzählen. Freunde hat sie sowieso keine in Khartum. "Bücher sind meine Freunde", sagt sie. Neda schreibt Kurzgeschichten, Gedichte, Lieder. Ihre neueste Geschichte darf keiner lesen, sie schämt sich, so düster ist sie. Früher, in Eritrea, hat sie Preise gewonnen für ihre Texte. "Die waren auch fröhlich."
Die Organisation unterstützt Neda und mehr als fünfzig weitere Frauen finanziell, medizinisch und psychologisch. Der Name der Organisation soll nicht genannt werden. Wenn bekannt würde, dass sie vergewaltigten Frauen hilft, müsste sie schließen. Vergewaltigungen sind ein Tabuthema im Sudan. Fast alle Vergewaltigungsopfer, die hier behandelt werden, waren Opfer von Menschenhändlern.
Nedas Betreuerin, die leitende Psychologin, sagt: "Manchmal wache ich auf und weiß nicht, woher ich die Kraft zum Aufstehen nehmen soll. Dann denke ich darüber nach, den Job zu wechseln." Wenn sie nicht mehr weiter weiß, nimmt sie ihr iPad und googelt "anxiety leaflet". Ein Faltblatt gegen die Angst. Tipps zum Positiv-Denken stehen da drauf. Und Atemübungen. Die Psychologin druckt sich die Blätter aus und gibt sie an ihre Patientinnen weiter. Die Patientinnen nennt man hier "survivors", Überlebende. "Es ist uns wichtig, nicht von Opfern zu reden. Das spricht den Frauen ihre Selbstbestimmung ab."
Neda wird es schaffen, glaubt ihre Betreuerin. Neulich sei sie aus einer fahrenden Rikscha gesprungen, weil ihr der Fahrer suspekt vorkam. "Das zeigt, dass sie ihr Leben wieder wertschätzt und lernt, für ihre Sicherheit zu sorgen." Neda hat viele Monate gebraucht, um an diesen Punkt zu kommen. Viele Therapiestunden im Raum mit den rosafarbenen Kacheln. Selbstmordgedanken hat sie keine mehr. Zurzeit macht sie einen Computerkurs und lernt Englisch.
Neda denkt wieder über ihre Zukunft nach: Später wäre sie gern Menschenrechtsanwältin, und sie will weiter Geschichten schreiben. Um eine Zukunft zu haben, muss sie sich allerdings erst einmal als Flüchtling registrieren lassen. Eigentlich müsste sie dafür zurück nach Shagarab. So sind die Regeln im Sudan. Doch das will Neda nicht. Dann lieber ein Leben im Untergrund.
Jede der "Überlebenden" kämpft mit eigenen Problemen. Eine der Frauen wurde bei der Vergewaltigung mit HIV infiziert. Als sie anderen Flüchtlingen davon erzählte, warfen die sie aus dem gemeinsamen Quartier – aus Angst sich anzustecken. Eine Frau wurde vor den Augen ihres fünfjährigen Sohnes vergewaltigt. Eine andere hat Fisteln durch die Vergewaltigung und verliert Urin. Kinder lachen und zeigen mit dem Finger auf sie. Was aus den Frauen werden soll, ist ungewiss. Manche leben am Rand des Existenzminimums. Die leitende Psychologin gibt ihnen ab und zu Geld für ein Busticket. Damit die Frauen überhaupt zur Therapie kommen können. Das zahlt die Psychologin selbst, die Organisation hat kein Geld.
Mit ihrer Mutter telefoniert Neda selten. Auf Facebook postet sie manchmal Bilder von ihren Eltern. "I miss you!", schreibt sie darunter. Eine ihrer vier jüngeren Schwestern will zu ihr in den Sudan kommen. Neda will das nicht. Sie wird dann wütend und versucht, ihrer Schwester die Fluchtpläne auszureden. Warum, sagt sie ihr nicht.
- Name von der Redaktion geändert
Dieser Artikel ist in der Ausgabe Juni/Juli 2017 des Amnesty Journals erschienen.