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Zurück ohne Zukunft

Amnesty Journal Feb/März 2017
© Amnesty International
2017 droht eine deutliche Verschärfung der Asylpolitik. Bereits im vergangenen Jahr wurden so viele Menschen aus Deutschland abgeschoben wie seit einer Dekade nicht mehr – vor allem auf den Westbalkan.
Von Michaela Ludwig
Ein eisig kalter Wind fegt durch die einstige Bleech Street, die seit Abzug der US-amerikanischen Streitkräfte vor drei Jahren Buchenstraße heißt. Junge Männer in Kapuzenjacken und Badelatschen treten aus den ehemaligen Kasernengebäuden. Frauen in Strickjacken schieben ihre Kinderwagen. Einige Väter tragen ihren Nachwuchs auf den Schultern, dazwischen ältere Kinder in dicken Pullis und Anoraks.
Sie alle steuern auf das flache Gebäude am Ende der Straße zu, vor dem die Warteschlange unaufhörlich wächst: Es ist Mittagszeit in der besonderen Aufnahmeeinrichtung Oberfranken (AEO) in Bamberg. Zwei Sicherheitsleute öffnen die Türen der Kantine. Auf dem Tresen stehen Plastikschüsseln mit Chili con Carne, Reis und etwas Salat für die rund tausend Bewohner aus Syrien, Afghanistan, Eritrea, Georgien, dem Irak, Iran, Albanien und den Staaten des früheren Jugoslawiens.
Nur in kleinen Gruppen dürfen sie den Ausgaberaum betreten, sodass die Schlange der in der Kälte Ausharrenden in den nächsten zwei Stunden kaum abreißen wird. Mehr als 300 Menschen aus dem Kosovo, Albanien, Bosnien, Mazedonien und Serbien wohnen in der ehemaligen US-Kaserne im Osten Bambergs. Das umzäunte und von Sicherheitsleuten bewachte Gelände ist die Endstation ihrer Flucht – und das Ende ihrer Träume von einer besseren Zukunft.
Weil die Staaten des Westbalkans 2015 zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt wurden, sollen sie nach dem Willen der bayerischen Landesregierung auch schnellstmöglich dorthin zurückkehren. Deshalb werden sie, anders als die übrigen Bewohner, die Aufnahmeeinrichtung nicht mehr verlassen – es sei denn für die Heimreise. Hier stellen sie in einem eigens eingerichteten Büro des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ihren Asylantrag. Die Anerkennungsquote in den Schnellverfahren von maximal einer Woche geht laut BAMF-Mitarbeiter Peter Immeler "gegen Null".
Einmal abgelehnt, gelten die Flüchtlinge als ausreisepflichtig und erhalten außer den Essensrationen keine weiteren Sozialleistungen. Bayern ist bundesweit Vorreiter bei diesem harten Kurs: Aus den zwei "Aufnahme- und Rückführungseinrichtungen" in Manching bei Ingolstadt und Bamberg sind seit ihrer Eröffnung im Juli 2015 mehr als 3.400 Menschen "freiwillig" ausgereist, weitere 1.855 wurden abgeschoben. Nordrhein-Westfalen und andere Bundesländer sind dem bayerischen Vorbild bereits gefolgt.

Aussicht auf einen Wohnblock der Aufnahmeeinrichtung Oberfranken, aufgenommen am 07.12.2016 in Bamberg (Bayern)
© Nicolas Armer / dpa / pa
So wurde 2016 zu einem Rekordjahr: Mehr als 25.000 Menschen wurden abgeschoben – so viele wie zuletzt vor zehn Jahren. Drei von vier stammten aus den sogenannten sicheren Herkunftsländern auf dem Westbalkan, aus dem Kosovo, Albanien, Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und Montenegro. Freiwillig zurückgekehrt sind im vergangenen Jahr nach Angaben des BAMF weit mehr als 50.000 Menschen.
Doch damit nicht genug: Nach dem islamistischen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz im Dezember forderte Ministerpräsident Horst Seehofer eine weitere Verschärfung der deutschen Flüchtlingspolitik. "Wir sind es den Opfern, den Betroffenen und der gesamten Bevölkerung schuldig, dass wir unsere gesamte Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik überdenken und neu justieren", sagte er nach der Amokfahrt mit zwölf Toten.
Diese Äußerung gibt den Ton für das Bundestagswahljahr 2017 vor: Bereits vor dem Anschlag hatten Unionspolitiker eine Verschärfung der Abschieberegelungen gefordert, was auf dem CDU-Bundesparteitag in Essen in den Leitantrag übernommen wurde. Im Visier der Hardliner steht bereits die nächste Gruppe abgelehnter Asylbewerber: Schon vergangenen Sommer hatte Bayerns Finanzminister Markus Söder (CSU) die Rückführung mehrerer Hunderttausend Flüchtlinge nach Afghanistan und Syrien gefordert; im Dezember hob der erste Flieger mit mehr als dreißig abgelehnten Asylbewerbern vom Frankfurter Rhein-Main-Flughafen nach Kabul ab. Offizielle Begründung: Die Sicherheitslage in dem Bürgerkriegsland habe sich verbessert. "Solche Rückführungsaktionen sind richtig und notwendig, um unser Asylsystem funktionsfähig zu halten", verteidigte Innenminister Thomas de Maizière das Vorgehen.
Als "Aushöhlung des Asylrechts" kritisiert der Bayerische Flüchtlingsrat die Asylpolitik des Landes. "Die Regierung versucht, Geflüchtete um jeden Preis abzuschieben, anstatt ein individuelles Asylverfahren mit Einzelfallprüfung zu gewährleisten", sagt Mitarbeiterin Mia Pulkkinen. "Inzwischen zeigen zahlreiche Fälle, dass die Praxis der Zentralen Ausländerbehörden besonders in Manching und Bamberg gezielt gegen Menschenrechte verstößt, um Abschiebungen durchzusetzen."
So wurde in Bamberg über ein Jahr lang, bis August 2016, keine Asylsozialberatung angeboten. Einzige Anlaufstelle für die Fragen und Probleme der Bewohner war in dieser Zeit eine wöchentliche Sprechstunde des Ombudsteams der Stadt Bamberg, bestehend aus Mitgliedern des Stadtrats, Sozialverbänden und ehrenamtlichen Organisationen. "Wir wurden Zeuge, dass auch schwerstkranke und traumatisierte Menschen abgeschoben wurden, obwohl fachärztliche, qualifizierte Atteste vorlagen", bestätigt der Arzt Marten Schrievers vom Ombudsteam. "Stattdessen begleiten eigene Ärzte die Abschiebung und attestieren den Menschen Reisefähigkeit."
Brennpunkt Priština
Zum Beispiel in den Kosovo. In einer kleinen Wohnung am Stadtrand der Hauptstadt Priština kauert Adem Buzolli auf dem Fußboden. Der magere Mann inhaliert den Rauch einer Zigarette und starrt gedankenverloren ins Leere. Als Kind überlebte er eine Hirnhautentzündung. Doch zurück blieben eine geistige Behinderung und ständig wiederkehrende rasende Kopfschmerzen, wenn er "Stress hat", wie die Familie es nennt. Irgendwann kamen nächtliche Unruhe und Alpträume hinzu. Schon mehrmals wollte er sich das Leben nehmen. "Wir können ihn nie alleine lassen. Sogar zur Toilette oder zum Duschen müssen wir ihn begleiten", erzählt seine Tochter Antigona.
In Deutschland ging es ihm anfangs besser, sagt die heute 17-Jährige. Er wirkte befreiter. Anderthalb Jahre lebte das Ehepaar Adem und Sanije Buzolli mit ihren vier Kindern im nordrhein-westfälischen Erkrath, zum Schluss in einer eigenen Wohnung. Obwohl ihr Asylantrag abgelehnt wurde, hofften sie wegen der Krankheit des Vaters auf eine Bleibeperspektive in Deutschland. "Wir hatten ein Arztgutachten und haben Widerspruch gegen die Abschiebung eingelegt", sagt Antigona Buzolli.

Adem Buzolli mit seiner Familie in Priština
© Gesa Becher / Amnesty
Auch dass ihre Geschwister regelmäßig zur Schule gingen und sie sich auf Schulabschluss und Ausbildung vorbereitete, half der Familie nicht: Eines Nachts hämmerten Polizisten gegen die Wohnungstür und rissen die Buzollis aus dem Schlaf. Ein Übersetzer informierte sie über die bevorstehende Abschiebung. Ein Arzt maß Adem Buzolli den Blutdruck und bescheinigte ihm, dass er den Flug überstehen werde. Drei Polizeifahrzeuge brachten die Familie zum Düsseldorfer Flughafen, wo der Abschiebeflieger wartete.
Als die Buzollis im April 2016 nach Priština zurückkehrten, wurden sie von Adems Eltern aufgenommen. Mit zwei weiteren Brüdern des Vaters teilen sie sich drei kleine Zimmer. Nach einigen Tagen klagte Adem über hämmernde Kopfschmerzen. Ein dunkler Ausschlag kroch über den gesamten Körper. Zwei Wochen blieb er im Krankenhaus. Im Kosovo werden psychisch kranke und behinderte Menschen nur unzureichend versorgt. Zwar sind Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte kostenfrei, doch die Schmerzmittel, Antidepressiva und Schlafmittel, die in Deutschland das Sozialamt bezahlt hatte, muss Adem Buzolli nun selber kaufen.
Den deutschen Behörden ist die unzureichende Situation bekannt. "Weder medizinisches Personal noch adäquate Einrichtungen für die Behandlung psychisch kranker Patienten sind derzeit im Kosovo in ausreichendem Maße vorhanden", heißt es im Länderinformationsblatt Kosovo vom BAMF und der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Auch in dem vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) finanzierten Länderinformationsportal steht: "Menschen mit Behinderung sind und bleiben bis auf weiteres von Armut, Isolation und Stigmatisierung betroffen".
Weil Adem arbeitsunfähig ist, erhält er eine Invalidenrente von 100 Euro. Das reicht für seine Medikamente, aber keineswegs für eine sechsköpfige Familie zum Leben. So durchkämmt Adems Sohn Driton jeden Tag Straßen und Mülltonnen der Stadt auf der Suche nach Blechdosen. "Für ein Kilogramm gibt es 50 Cent", erzählt der 15-Jährige. Dafür benötige er oft einen ganzen Tag. Manchmal findet er als Tagelöhner Arbeit auf einer Baustelle. Das bringt immerhin zehn Euro. "Das Leben hier ist eine Katastrophe", sagt er und zuckt resigniert mit den Schultern. Weder Driton noch Antigona gehen in Priština wieder zur Schule. "Wir müssen der Familie helfen", sagt sie.
Abschiebung um jeden Preis
Der Kosovo zählt zu den ärmsten Ländern Europas, zugleich ist er das jüngste: Etwa zwei Drittel seiner Bewohner sind unter 30 Jahre alt. Jedes Jahr verlassen rund 36.000 junge Menschen die Schulen und strömen auf einen Arbeitsmarkt, der nur sehr wenige von ihnen aufnehmen kann. Während die Arbeitslosenquote bei 35 Prozent liegt, finden nach Schätzungen der Weltbank 61 Prozent der Jugendlichen keine Beschäftigung. Die Buzollis gehören zur Minderheit der Ashkali, die ebenso wie Roma vom Arbeitsmarkt nahezu ausgeschlossen sind. Laut Amnesty-Länderbericht aus dem Jahr 2015 leiden Angehörige der Minderheiten weiterhin unter institutioneller Diskriminierung.
In den vergangenen Jahrzehnten flohen hauptsächlich Roma und Ashkali vor Diskriminierung und Armut. Mit der großen Ausreisewelle im Winter 2014 und Frühjahr 2015 verließen jedoch mehr als 40.000 Menschen – darunter viele Angehörige der albanischen Bevölkerungsmehrheit – den Kosovo und stellten in Deutschland einen Asylantrag.
Als ausschlaggebend für die Massenflucht sehen Experten wie Vedran Dzihic vom Österreichischen Institut für Internationale Politik den Ausgang der letzten Parlamentswahlen. "Es kam eine Regierung an die Macht, die weder als funktionsfähig noch als glaubwürdig eingeschätzt wurde", sagt der Politikwissenschaftler. Die Geduld der Menschen war definitiv am Ende. Korruption ist im Bildungs- und Gesundheitssystem, in Verwaltung wie auf höchster politischer Ebene allgegenwärtig. "Transparency International" zählt den Kosovo zu den korruptesten Staaten der Region.
Dabei war die Hoffnung groß, als die serbische Verwaltung des Kosovos 1999 nach mehr als zwölf Wochen Nato-Bombardement endete. "Es muss rasch und zügig geholfen werden", versprach der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder nach dem ersten Kampfeinsatz deutscher Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg. Hunderte Millionen Euro an internationalen Hilfsgeldern flossen seitdem in das Land, dessen Führung 2008 trotz Protesten der serbischen Minderheit die Unabhängigkeit ausrief.
Die Europäische Union bildet im Rahmen der Rechtsstaatlichkeitsmission EULEX bis heute Richter, Staatsanwälte und Polizisten aus und hat sich auf die Fahnen geschrieben, Korruption und organisierte Kriminalität zu bekämpfen. Vergebens: Der Europäische Rechnungshof kritisierte 2012 die Arbeit von EULEX als "nicht effizient genug". Der Politologe Vedran Dzihic formuliert es drastischer: "Man muss definitiv von einer Mitverantwortung Europas an der Misere im Kosovo sprechen."
All das hindert die deutschen Behörden nicht daran, abgelehnte Asylbewerber von der sogenannten freiwilligen Ausreise zu überzeugen oder in den Kosovo abzuschieben. Im Gegenteil: Das bayerische Konzept aus Druck und Abschreckung scheint aufzugehen. "Die konsequente Rückführung in die Westbalkanstaaten hat dazu geführt, dass die Zahlen der Neuzugänge aus diesen Staaten im Jahr 2016 massiv zurückgegangen sind", sagt ein Sprecher des bayerischen Innenministeriums.
Der Fokus der Behörden richtet sich Anfang 2017 aber bereits auf eine andere Flüchtlingsgruppe: Um aus Nordafrika über das Mittelmeer geflohene Menschen möglichst rasch wieder abschieben zu können, schlug Innenminister de Maizière im Januar die Einrichtung von "Bundesausreisezentren" vor. Zudem sollte "der Bund eine ergänzende Vollzugszuständigkeit bei der Aufenthaltsbeendigung" erhalten. Eine "nationale Kraftanstrengung beim Thema Rückkehr" sei nötig, um abgelehnten Asylbewerbern zu "signalisieren, dass für sie eine Integration nicht gewollt ist und die Ausreise bevorsteht". Klare Worte, die den Ton vorgeben für ein Wahljahr, in dem Flüchtlinge wenig zu melden haben dürften.
Dieser Artikel ist in der Ausgabe Februar 2017 des Amnesty Journals erschienen.