Amnesty Journal Deutschland 27. März 2017

"Deutschland soll sich schämen"

Rassismus im Alltag protokolliert
Zeichnung von Gamze Kubasik, 31, Tochter des NSU-Opfers Mehmet Kubasik

Zeichnung von Gamze Kubasik, 31, Tochter des NSU-Opfers Mehmet Kubasik

2006 wurde Mehmet Kubasik in Dortmund ermordet – wahrscheinlich von Mitgliedern des rechtsextremen Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Danach waren die Witwe, die Söhne und seine ­Tochter Gamze Kubasik (31) über Jahre falschen ­Verdächtigungen ausgesetzt.

Protokoll: Stefan Wirner

Ich bin am 4. April 2006 wie immer nach der Berufsschule zum Kiosk meines Vaters gefahren. Von Weitem schon waren viele Menschen zu sehen, auch Polizisten. Dann hörte ich Leute sagen: "Da kommt die Tochter." Da begriff ich, dass es um unseren Kiosk ging. Ein Polizist ließ mich nicht durch. Als ich sagte, dass ich die Tochter des Kioskbesitzers sei, musste ich mich ausweisen. Man versuchte, mich zu beruhigen, mein Vater sei verletzt, hieß es. Später aber sagte ein älterer Polizist zu mir: "Ihr Vater wurde erschossen." Da bekam ich keinen Ton mehr heraus und wurde ohnmächtig.

Für meine Familie und mich begann die schlimmste Zeit unseres Lebens. Einen Tag, nachdem mein Vater erschossen worden war, wurden wir auf die Polizeiwache gebracht und getrennt viele Stunden lang vernommen. Es ging sofort um die Themen Mafia und Drogen. Ich verstand nicht, warum man mir diese Fragen stellte, und begann, daran zu zweifeln, dass es sich um meinen Vater handelte. Denn mein Vater war ganz anders.

Nach der Vernehmung wollte man mich nicht in meine Wohnung lassen. Es fand eine Hausdurchsuchung mit Polizeihunden statt, das war alles zu viel für mich. Bald kursierten Gerüchte, viele Leute meinten, mein Vater müsse etwas angestellt haben, weil so viele Polizisten ermittelten. Noch heftiger wurde es nach der Beerdigung, die in der Türkei stattfand. Als ich wieder in Dortmund war und auf die Straße ging, spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Ich hörte eine Frau sagen: "Das ist doch die Tochter von dem Drogendealer." Mein Vater solle sich schämen, er habe Kindern Drogen verkauft, und ich solle genauso "verrecken" wie er.

Wir haben dann mitbekommen, dass die Polizei mit Fotos von meinem Vater durchs Viertel ging und Jugendliche befragte: "Kennen Sie den? Hat er Drogen verkauft?" Freunden meines Vaters hat die Polizei eingeredet, er habe etwas mit einer blonden Frau gehabt, und er habe Geld mit Drogen gemacht, das ich in die Türkei gebracht hätte. Wir haben bei der Polizei angerufen und gesagt, dass es uns sehr schlecht gehe und dass das alles nicht stimme. Doch der Polizist sagte: "Wir machen nur unsere Arbeit." Und das Gespräch war beendet.

Ich war wütend und fühlte mich hilflos. Wenn man merkt, dass die Polizei gegen einen ist, fühlt man sich gleich noch hilfloser. Es gab nur eine freundliche Polizistin, sie war Türkin. Sie hat uns beruhigt und uns manchmal auf Behördengänge begleitet. Aber die anderen haben uns spüren lassen, dass wir Ausländer sind und dass sie uns für Kriminelle halten. Mein Anwalt sagt, Rassismus sei ein strukturelles Problem bei der Polizei. Ich glaube das auch.

Vor der Ermordung meines Vaters war Rassismus für uns kein Thema. Wir haben uns in Dortmund sehr wohl gefühlt, mein Vater war BVB-Fan, wir haben uns mit allen unseren Nachbarn gut verstanden. Nur manchmal gab es Nazi-Demos. Das war ärgerlich.

Als der NSU aufflog, haben wir eine Woche lang nichts von der Polizei gehört. Dann erst kamen Beamte zu uns. Plötzlich hatten sie nicht mehr diesen strengen, barschen Tonfall, sie klangen ziemlich kleinlaut. Den behördlichen Rassismus habe ich seither nicht mehr erlebt, auch nicht während des NSU-Prozesses. Ich finde den Richter eigentlich sehr gut, nur eines stört mich: Wenn Nazis Zeugenaussagen machen und alle merken, dass sie lügen, weist er sie nicht in die Schranken.

Sehr enttäuscht bin ich von Bundeskanzlerin Merkel. Wir haben sie einmal getroffen, und sie versprach den Angehörigen der Mord­opfer, dass alles restlos aufgeklärt wird. Wir waren damals voller Hoffnung. Heute bin ich nur noch traurig darüber, dass diese mächtige Frau ihr Versprechen nicht einhalten kann. Es gibt so viele Fragen, die nicht beantwortet werden. Meine Mutter sagt: Deutschland soll sich schämen. Das ist auch meine Meinung.

Dieser Artikel ist in der Ausgabe April / Mai 2017 des Amnesty Journals erschienen.

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