Das hier ist nicht Moskau
Meinungsfreiheit in Russland
© Amnesty International
Wie junge Künstler in Nowosibirsk sich die Willkür der russischen Behörden vom Leib halten.
Von Elisabeth Wellershaus
Die Autorin arbeitet als Journalistin in Berlin und ist Mitglied der Redaktion von "10 nach 8" bei "Zeit Online".
Die Galerie der Künstlergruppe SOMA2 wirkt wie einer der Orte, die Berlin in den neunziger Jahren zum Party-Mekka gemacht haben. Junge Leute scharen sich hier an diesem Sommerabend tanzend um kleine Lenin-Skulpturen aus Bernstein, wiegen sich zu Elektromusik im Hinterhof und bestaunen Schneekugeln mit erschossenen Diktatoren darin. Orte wie diese sind in Nowosibirsk die absolute Ausnahme. Zwar gilt die sibirische Hauptstadt mit ihrer Universität und der Akademie der Wissenschaft als intellektuelle Metropole. Doch anders als im weniger isolierten Moskau gibt es hier noch immer nicht viele, die es wagen, den stetig wachsenden Repressionen im Land zu trotzen.
Das Domizil der Künstlergruppe um den 21-jährigen Künstler Filipp Krikunow liegt direkt neben der örtlichen Polizei; ein paar Häuser weiter sitzt der Inlandsgeheimdienst. "Theoretisch könnte jederzeit jemand herüberkommen, unsere Veranstaltungen sprengen oder uns den Laden dicht machen", sagt Krikunow, während er unter der Videoprojektion aus einem Moskauer Club tanzt. Doch bislang ist nie etwas passiert. Vielleicht, weil die jungen Kuratoren ihre Haltung gegenüber dem Regime nicht gerade herausschreien, weil viele ihrer Aktionen so verspielt daherkommen, dass die Behörden sie noch gar nicht auf dem Schirm haben.
"Kritische Kunst muss ja auch nicht radikal sein", sagt Krikunow. Schon gar nicht in einer Stadt, in der das Publikum erst noch überzeugt werden muss, dass Widerstand überhaupt möglich ist. In Nowosibirsk blickt man bislang mit vorsichtiger Skepsis auf Menschen, die es wagen, die antrainierte Stille gegenüber dem Regime zu durchbrechen.
Gebannt lauschen die Zuschauer deshalb ein paar Tage nach dem Tanzabend im SOMA2 wieder den jungen Künstlern. An diesem Abend sind sie Teil eines größeren Projekts. Zusammen mit dem Goethe-Institut hat die deutsche Künstlerin Hannah Hurtzig zum performativen Widerstand geladen und für ihre "Gespräche aus der Dunkelkammer" Akademiker und Künstler aus Moskau, St. Petersburg und Nowosibirsk zusammengetrommelt.
Zensur und Repression
Filipp Krikunow ist einer der sogenannten Experten, die im leer stehenden Stockwerk eines Kaufhauses über Dinge sprechen, die hier im Alltag oft tabu sind. Per Kopfhörer lauscht das Publikum den Unterhaltungen über Zensur und Repression, den vielen Plädoyers für eine offenere Gesellschaft und der Frage, wie viel man selbst bereit ist, für Veränderungen im Land zu investieren.
Immer wieder kommt das Gespräch dabei auf Pjotr Pawlenski. Fast jeder hier hat eine Meinung zu dem Protestkünstler, der seine Hoden auf dem Roten Platz in Moskau festgenagelt hat und an diesem Abend nicht dabei sein kann, weil er in Untersuchungshaft sitzt. Vor ein paar Monaten hat er die Tür des Moskauer Geheimdienstes in Brand gesteckt. Viele hier bewundern ihn dafür. Doch nicht jeder kann oder will sein wie er.
"Die Älteren gehen immer davon aus, dass meine Generation keine Angst mehr vor dem Regime hat", sagt Krikunow und knallt einen Benzinkanister auf den Tisch der Dunkelkammer. "Ganz so ist es aber nicht." Mit dem Schnaps aus dem Kanister prostet er der Philosophenrunde am Tisch gegenüber zu. Erst auf den zweiten Blick erkennt man den aufgemalten Drachen auf dem rosafarbenen Gefäß. Genau so sahen die Feuerzeuge aus, die Krikunow ein paar Tage vorher mit Unschuldslächeln unter den Projektteilnehmern verteilt hatte. Als er wieder im Publikum sitzt, geht einigen ein Licht und die Verbindung zu Pawlenski auf. Verschmitzt blickt Krikunow in die erstaunten Gesichter, die seine hintersinnig verspielte Aktion durchschaut haben. Feuerzeug. Benzinkanister. Mit einfachsten Mitteln hat der Künstler gerade jeden im Publikum zum potenziellen Brandstifter gemacht.
Majana Nasybullowa, eine andere SOMA-Künstlerin, sitzt neben ihm. Auch sie hat sich in den vergangenen Jahren an den Zwängen abgearbeitet, die Künstlern in Russland mittlerweile immer selbstverständlicher auferlegt werden. Vor nicht allzu langer Zeit hatte eine Ausstellung der jungen Produktdesignerin für Wirbel gesorgt.
"Schon im Vorfeld haben sich alle aufgeregt", erzählt die 27-Jährige und beschreibt, wie dieser Tage selbst ein Ausstellungstitel die Gemüter erhitzt. Die Behörden hatten gedroht, ihre Ausstellung "Artistic Porn" platzen zu lassen, in der sie anstößiges Material witterten. Am Eröffnungsabend hatte sie dann schlicht Kopien von Boticelli- und Picasso-Akten aufgehängt, die am nächsten Tag von der ratlosen Presse besprochen wurden.
Die eigentliche Ausstellung war erst später am Abend aufgebaut worden, als Medienvertreter und Beamte längst weg waren. Während die offizielle Presse am nächsten Morgen über kopierte Picassos schrieb, posteten Nasybullowas Freunde auf digitalen Plattformen die Bilder der eigentlichen Ausstellung: Fotos von surrealen Vaginamotiven und verspielten Dildoinstallationen – insgesamt wenig wirklich Kontroversem. Die Ausstellung lief danach einfach weiter.
Das unausgesprochene Verbot gegenüber vermeintlichen Provokationen trifft in Russland derzeit viele. 2014 hatte der orthodoxe Metropolit von Nowosibirsk, Berdsk Tichon, bereits Stimmung gegen eine tatsächliche Picasso-Ausstellung mit erotischen Lithografien gemacht. Zwei Jahre zuvor hatte er den Regisseur einer sehr modernen Tannhäuser-Inszenierung angezeigt, angeblich wegen Schändung religiöser Symbole.
Der Titelheld war als Jesus verkleidet zum Treffen mit der Liebesgöttin Venus erschienen, ein Kreuz wurde auf die Bühne getragen. Das Stück wurde schließlich abgesetzt, denn in solchen Fällen greifen derzeit fast immer Gesetze zum Schutz der Gläubigen oder der Jugend. "Offizielle Zensur braucht es da gar nicht mehr", sagt Nasybullowa. Zumal man Künstler natürlich auch auf anderen Wegen an der kurzen Leine halten kann: mit horrenden Ateliermieten und absurden bürokratischen Auflagen, denen nur die ganz zähen Künstler trotzen.
"Monstrationen"
Artjom Loskutow ist einer von ihnen. An der Tür zur SOMA-Galerie hängt eines seiner Plakate. Eine Kondensmilchdose im Warhol-Stil – süßes Verbot steht in Kyrillisch darauf und beschreibt das Verhältnis zwischen Loskutow und den Behörden. Seitdem der Nowosibirsker mit seinen "Monstrationen" – einer Mischung aus Kunstspektakel und Demonstration gegen die offizielle Maikundgebung – auch im Ausland bekannt ist, versuchen die Behörden immer wieder, seinen Straßenumzug zu verhindern.
Dabei sind die Botschaften auf den Transparenten der "Monstranten" selten provokant, meist eher absurd. "Katzen züchten hält gesund", steht darauf oder "Waschbären sind auch Leute". Mit gut gelaunter Absurdität werden dadurch die üblichen politischen Parolen der Lächerlichkeit preisgegeben.
Dieses Jahr war ein Slogan vieldeutiger und schaffte es deshalb von Plakaten bis auf T-Shirts und in die einschlägigen Foren im Netz. "Das hier ist nicht Moskau", hatten Behördenvertreter Loskutow flapsig mitgeteilt, als sie den von ihm angemeldeten Umzug zunächst verboten. Ein paar Tage hatte man Loskutow im Gefängnis behalten und ihn dann, wie dieser Tage immer häufiger, zur temporären Flucht nach Moskau getrieben.
Am Ende fand sein Umzug dennoch statt, und der Satz der Behörden blieb haften. "Das hier ist nicht Moskau" wurde zur widerständigen Selbstbehauptung. Denn vor kaum etwas hat Moskau derzeit mehr Angst, als vor selbstbewussten Regionen im Land. Und vor Menschen, die mutig genug sind, sich über die Autoritäten lustig zu machen. Ein Grund mehr für die jungen Macher von SOMA2, die subversive Kunstszene in Sibirien gegen alle Widerstände auszubauen, anstatt wie so viele in die Hauptstadt oder ins Ausland abzuwandern.
Dieser Artikel ist in der Oktober/November-Ausgabe 2016 des Amnesty Journal erschienen