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"Es herrscht ein Klima der Angst"
Amnesty Journal August/September 2017
© Amnesty International
Die türkische Regierung geht weiterhin massiv gegen oppositionelle Stimmen im Land vor. Im Visier der Behörden stehen vor allem kritische Medien und die kurdische Bevölkerung. Ein Gespräch mit Andrew Gardner, Türkei-Researcher von Amnesty International.
Interview: Ralf Rebmann
Im November hat das Auswärtige Amt darauf hingewiesen, dass türkische Regierungskritiker auf Asyl in Deutschland hoffen können. Hat die Zahl derjenigen, die vor den Repressionen der türkischen Behörden fliehen, zugenommen?
Angesichts der derzeitigen Situation erstaunt es nicht, dass viele über eine solche Entscheidung nachdenken. Aus den kurdischen Gebieten der Türkei haben bereits vor dem Putschversuch, im Zuge der Militäroperationen, einige Menschen das Land verlassen. Nach dem Putschversuch hat sich die Situation weiter zugespitzt. Etliche Personen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wurden vorübergehend von ihrem Job suspendiert oder direkt entlassen. Andere müssen sich vor willkürlichen Festnahmen fürchten. Dies sind alles Gründe, die Menschen dazu bringen, das Land zu verlassen oder sogar Asyl zu suchen. Mit der massiven Fluchtbewegung, die nach dem Militärputsch im Jahr 1980 ausgelöst wurde, lässt sich die Situation jedoch nicht vergleichen.
Wie reagieren die Menschen auf die zunehmende Repression?
Sie haben Angst, sich kritisch zu äußern. Auch in den sozialen Netzwerken sind viele vorsichtig geworden, weil sie befürchten, durch bestimmte Aussagen in das Visier der Behörden zu geraten. Demonstrationen sind in der ganzen Türkei untersagt. Und wenn doch eine Demonstration organisiert wird, finden sich nur wenige Menschen, die das Risiko auf sich nehmen, auf die Straße zu gehen. Es ist keine Übertreibung, von einem Klima der Angst in der Türkei zu sprechen. Das betrifft nicht nur Journalistinnen und Journalisten, sondern auch die ganz normale Bevölkerung.
Gibt es überhaupt noch unabhängige Medien?
Was die Schließung von kritischen Medien betrifft, sind wir gewissermaßen am Ende angelangt: Es gibt keine Zeitungen, Radio- oder TV-Sender mehr, die sich offen äußern, ohne Selbstzensur zu üben. Mehr als 160 Medien wurden mittlerweile geschlossen, 112 Journalistinnen und Journalisten sind seit dem Putschversuch inhaftiert. Dieser Feldzug gegen die Presse ist beispiellos. Vor allem im Südosten der Türkei mussten viele lokale Medien schließen – etwa die kurdischen Zeitungen "Azadiya Wela", "Gündem" oder die Nachrichtenagentur "Dicle News Agency". Im Mai 2016 besuchte ich zusammen mit Salil Shetty, dem Internationalen Generalsekretär von Amnesty, die kurdischen Gebiete, um mit Betroffenen der Militäroperationen und der Ausgangssperre zu sprechen. Von den Medien, die uns damals interviewten, existiert heute nur noch ein einziges.
Wie ist die Lage der kurdischen Bevölkerung im Südosten?
Es ist ein Desaster. Anfang 2015 herrschte dort noch relativer Frieden. Die allgemeine Situation im Südosten war vergleichsweise entspannt, kurdische Medien konnten frei berichten. Heute sind wir in einer Situation, die an die schlimmsten Zeiten der neunziger Jahre erinnert: Ganze Städte und Stadtteile sind nach den Militäroperationen vor einem Jahr verwüstet, wie zum Beispiel Yüksekova, Şırnak oder Cizre. Die Behörden gingen mit massiver und unverhältnismäßiger Gewalt gegen die Bevölkerung vor, dabei wurden auch viele Unbeteiligte getötet. Etwa eine halbe Million Menschen wurden durch die Kämpfe aus ihren Städten vertrieben. Die türkische Regierung hat bisher nichts getan, um ihnen zu helfen oder sie zu versorgen.
Wer ist für diese unverhältnismäßige Gewalt verantwortlich?
Die sogenannten Anti-Terror-Operationen wurden von der türkischen Armee mit Unterstützung der Polizei, Militärpolizei und Spezialkräften durchgeführt. Trotz der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, die begangen wurden, überwiegt bis heute die Straflosigkeit. Diese mutmaßlichen Verbrechen müssen von der türkischen Justiz untersucht werden. Doch was wir bisher gesehen haben, ist ernüchternd: Die Staatsanwälte ließen nicht einmal die grundlegendsten Untersuchungen am Tatort durchführen. Es wurden keine Zeugen befragt oder Aussagen von Angehörigen der Opfer aufgenommen. Unter diesen Umständen ist keine Aufklärung möglich.
Inwiefern ist die PKK für die Eskalation des Konflikts verantwortlich?
Beide Seiten, sowohl die PKK als auch die türkischen Behörden, haben dazu beigetragen, dass der Konflikt eskaliert ist. Vor allem die Verlagerung der Auseinandersetzungen in die Städte und Stadtzentren hat dazu geführt, dass Unbeteiligte zu Schaden kamen. Der türkische Staat hat willkürlich Gewalt angewandt und Menschenrechtsverletzungen in Kauf genommen. Die PKK hat ihrerseits durch Anschläge auf Polizei und Militär zu dieser Entwicklung beigetragen. Die Leidtragenden sind unbeteiligte Bürgerinnen und Bürger.
Hat die EU überhaupt noch Einfluss, um zu einer Verbesserung der Menschenrechtssituation beizutragen?
Die EU und ihre Mitgliedsstaaten haben einen deutlichen Einfluss auf die Türkei – sie haben sich aber entschieden, ihn nicht zu nutzen. Stattdessen sorgen sie sich darum, wie die Migration nach Europa eingedämmt werden kann. Der aktuelle Fortschrittsbericht der EU-Kommission ist kritisch, er muss es aufgrund der aktuellen Situation auch sein, aber in manchen Punkten wird die Realität nicht wirklich erfasst. So konstatiert er zum Beispiel "Rückschläge" im Bereich der Unabhängigkeit der Justiz. Tatsache ist jedoch, dass mehr als ein Fünftel der Richter und Staatsanwälte entlassen oder sogar inhaftiert wurden. Auch beim Thema Folter ist der Bericht sehr zurückhaltend. So wurden Schutzvorkehrungen gegen Folter systematisch abgeschafft. Dazu gehören etwa die Verlängerung der Untersuchungshaft auf 30 Tage ohne Anklage oder die Verweigerung eines Rechtsbeistandes in Haft. Dies wird in dem Bericht nicht deutlich genug erwähnt.
Der türkische Präsident könnte durch die Einführung eines Präsidialsystems seine Macht noch weiter ausbauen. Welche Konsequenzen hätte das für die Menschenrechtslage?
De facto ist Recep Tayyip Erdoğan bereits jetzt der handelnde Präsident. Leider ist er auch derjenige, der eine unnachgiebige Haltung zeigt und bestimmte Themen, wie die Wiedereinführung der Todesstrafe oder verschärfte Anti-Terror-Maßnahmen auf die Agenda bringt. Angesichts der derzeitigen Machtverteilung, charakterisiert durch ein schwaches Parlament und den anhaltenden Ausnahmezustand, scheint die Einführung eines solchen Systems nicht unwahrscheinlich.
Ist die Wiedereinführung der Todesstrafe zu befürchten?
Im Moment sehe ich dafür keine echte Möglichkeit. Die Abschaffung der Todesstrafe im Jahr 2004 ist eine der bedeutendsten Verbesserungen des Menschenrechtsschutzes in der Türkei. Die Wiedereinführung hätte zur Folge, dass sowohl die Mitgliedschaft der Türkei im Europarat als auch die EU-Beitrittsgespräche suspendiert würden. Ich glaube auch nicht, dass die Mehrheit der türkischen Bevölkerung sich die Todesstrafe zurückwünscht. Es wird jedoch darüber geredet. Und dies ist äußerst schädlich für das gesellschaftliche Klima.
Andrew Gardner, Türkei-Researcher von Amnesty International
© Ralf Rebmann
Andrew Gardner arbeitet seit 2007 als Türkei-Experte im Internationalen Sekretariat von Amnesty International in London. Er beobachtet derzeit die Menschenrechtslage in der Türkei nach dem gescheiterten Putschversuch. Gardner hat einen Master in Human Rights Law. Bevor er für Amnesty arbeitete, war er für NGOs in der Türkei und in anderen Ländern tätig.
Dieser Artikel ist in der Dezember/Januar-Ausgabe 2016/2017 des Amnesty Journal erschienen