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Der gefährlichste Ort der Welt

Opfer sexueller Gewalt: Emerance war 14 Jahre alt, als Soldaten sie verschleppten. In der Gefangenschaft wurde sie schwanger
© Linda Forsell / Kontinent / laif
In der Demokratischen Republik Kongo wird sexuelle Gewalt systematisch
als Kriegswaffe eingesetzt. Doch um das Problem zu lösen, muss man sich
mit den Tätern befassen: Die jungen Rebellen werden dazu gezwungen –
auf Befehlsverweigerung steht die Todesstrafe.
Von Simone Schlindwein
Frauen wie Mapendo, Love, Nyota oder Emerance trifft man in der Demokratischen Republik Kongo nicht nur in den wenigen Frauenkliniken an. Frauen wie Mapendo, Love, Nyota und Emerance findet man an jedem Gemüsestand, an jeder Wasserstelle, auf jedem Maisfeld – ja beinahe in jedem Haushalt. Wer lange genug zuhört, muss feststellen, dass fast jede Frau im Kongo eine Geschichte sexueller Gewalt erzählen kann. Vor allem im Ostkongo, wo seit fast 18 Jahren ein brutaler Krieg tobt – auch ein Krieg der Männer gegen die Frauen. Ein bekanntes Beispiel sind die Massenvergewaltigungen in der Region Walikale im Jahr 2010.
Luvungi heißt ein kleines Dorf, tief im undurchdringlichen Dschungel des Ostkongo gelegen. Lehmhütten mit Strohdächern schmiegen sich an die Hänge. Dahinter ragt der Regenwald empor. Von dort kamen die Rebellen. Es war dunkel, nach 23 Uhr an jenem 30. Juli 2010. Wie Schatten drangen die Gestalten in das Dorf ein.
387 Menschen wurden in vier Tagen in Luvungi und den umliegenden 13 Dörfern vergewaltigt – 300 Frauen, 55 Mädchen, 23 Männer und neun Jungen. Das jüngste Opfer war zwei Jahre alt, das älteste 79. Fast alle wurden mehrfach misshandelt und sind bis heute schwer traumatisiert. Eine der Frauen will dennoch darüber sprechen – das ist mutig und tapfer. Wir nennen sie Marie. Die Mutter von fünf Kindern sitzt auf einem Holzstuhl in ihrer Lehmhütte ohne Fenster und erzählt stockend. Es war spät am Abend, erinnert sich Marie. Sie lag im Bett neben ihrem Mann. Plötzlich traten Männer die Tür ein. Sie trugen Uniformen und Waffen. "Wir sind gekommen, um uns um euch zu kümmern", sagten sie. Sie zerrten Marie an den Haaren auf den Boden. Jeder der Männer verging sich an ihr. Ihr Mann musste zusehen. Sie vergewaltigten auch ihre zweijährige Tochter. Sie schrie und schrie. Sie blutete.
"Viele sind an den Verletzungen gestorben", sagt Marie. Einige wurden schwanger. So auch Maries 15-jährige Nachbarin. Marie steht auf und ruft nach dem Mädchen. Mit dickem Bauch kommt sie herein und setzt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf eine Couch. Von der Unterleibsinfektion habe sie sich nie erholt, gesteht das Mädchen. Sie wisse nicht, ob sie die Geburt überleben werde. Was in Luvungi geschah, das geschieht in den Wäldern des Ostkongo fast jeden Tag seit 18 Jahren. Als die ruandischen Hutu-Milizen nach dem Völkermord an den Tutsi 1994 in den Kongo flohen und sich dort als FDLR (Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas) neu formierten, begann eine Gewaltspirale.
Massenvergewaltigungen wie in Luvungi sind keine individuellen Attacken. Sie sind von langer Hand geplant, werden befohlen und ausgeführt. Sie sind Teil des Krieges, der zwischen den verschiedenen Milizen und der Armee geführt wird. Ermittlungen der UN-Mission im Kongo (Monusco) stellten später fest: In Luvungi hatte sich die FDLR mit lokalen kongolesischen Milizen zusammengeschlossen, um gemeinsam das ressourcenreiche Territorium im Dschungel zu kontrollieren. Einheiten der Regierungsarmee gingen mit groß angelegten Operationen gegen sie vor. Als die Regierungstruppen abgezogen wurden, übten die Rebellen Rache an der Bevölkerung: Sie beschuldigten die lokalen Bewohner, die Soldaten zu unterstützen. Sie bezichtigten die Frauen, ihnen Essen zu kochen und für sexuelle Dienste zur Verfügung zu stehen.
Die systematischen Vergewaltigungen waren eine gezielte Bestrafungsaktion. Die Täter führten dabei Befehle ihrer Vorgesetzten aus. Dafür gibt es deutliche Hinweise: Nur rund einen Kilometer von Luvungi entfernt liegt Kembe. Aus diesem Dorf stammt Oberstleutnant Mayele, der Vize-Kommandeur der lokalen kongolesischen Mayi-Mayi-Sheka-Miliz. In der langen Reihe kleiner Siedlungen entlang der holprigen Straße, die von Luvungi wegführt, wurden die Einwohner von 13 Dörfern systematisch vergewaltigt und ausgeraubt – nur Kembe, wo Mayeles Mutter, Frau und Töchter leben, verschonten die Kämpfer.
In der Dunkelheit ihrer Lehmhütte in Luvungi erzählt Marie, ihr Ehemann sei davongelaufen: "Er konnte mir nicht mehr in die Augen sehen, weil er mich nicht beschützen konnte", sagt sie. Das schwangere Mädchen klagt, sie würde in ihrer Situation niemals einen Mann finden. Sie fürchte, von ihrer Familie verstoßen zu werden, weil sie keinen Brautpreis mehr einbringen würde. Tatsächlich sind es die Frauen, die in dieser vom Krieg zerrütteten Gesellschaft das soziale Leben in den Dörfern aufrechterhalten: Sie bestellen die Felder, sie handeln mit den Ernteerträgen und erwerben damit Seife und andere Dinge des täglichen Bedarfs, sie erziehen die Kinder, sie kümmern sich um Alte und Kranke.
Die UNO bezeichnet den Kongo als "Welt-Hauptstadt der Vergewaltigung" und spricht vom "gefährlichsten Land für Frauen". Die Statistiken zeigen, dass die sexuelle Gewalt immer weiter zunimmt. Über eine halbe Million Frauen sollen seit Beginn des Krieges 1998 vergewaltigt worden sein. Jede dritte Frau im Ostkongo wurde Opfer sexueller Gewalt. 60 Prozent von ihnen wurden von bewaffneten Männern misshandelt. Das Land gilt als Beispiel für sexuelle Gewalt als Kriegswaffe. Doch gab es sexuelle Gewalt auch in anderen Kriegen, nicht zuletzt während des Zweiten Weltkriegs. Sie ist auch das Ergebnis der extremen Gewalterfahrung der Männer, die diese Kriege führen.
Um dieses Phänomen zu verstehen, reicht es nicht, sich nur mit den Opfern zu beschäftigen. Zahlreiche Interviews mit Rebellen niedriger Dienstgrade zeigen: Die jungen Männer, die oft als Kindersoldaten gewaltsam zur Waffe gezwungen wurden, sind nicht nur Täter – sie bewegen sich selbst in einem Gewaltsystem. Sexuelle Demütigung und Missbrauch sind innerhalb der bewaffneten Gruppen des Ostkongos alltäglich: So demonstrieren Kommandeure die Macht über ihre Fußsoldaten, so werden Hierarchien gewaltsam etabliert, so wird undisziplinierten Kämpfern der Wille gebrochen, werden Vergehen bestraft. Sexualität ist für die jungen Soldaten, die in den Milizen aufwachsen, von jeher mit Gewalt und Brutalität verbunden. Die sexuelle Demütigung legt die Grundlage dafür, selbst Vergewaltigungen zu verüben. Die Gewalt gegen Frauen stellt im Täter die gedemütigte Männlichkeit wieder her.
UNO-Ermittlungen haben ergeben, dass Massenvergewaltigungen wie die in Luvungi von der Kommandohierarchie angeordnet wurden. In Rebellenorganisationen wie der FDLR steht auf Befehlsverweigerung die Todesstrafe. Im Grunde sind also die Kommandeure dieser Milizen die Verantwortlichen, auch wenn sie die Taten nicht selbst begehen. Die Vergewaltiger haben keine Wahl, sie werden selbst zum Opfer.
Der systematische Einsatz sexueller Gewalt als Kriegswaffe hat in den vergangenen Jahrzehnten einen Dominoeffekt erzeugt: Im Dschungel, wo Regierungsarmee und Polizei fern sind, formieren sich stetig neue Milizen – lokale Selbstverteidigungsgruppen, die ihre Frauen und Töchter vor fremden Eindringlingen wie der ruandischen FDLR schützen wollen. Ein Beispiel dafür ist die Raia Mutomboki-Bewegung, die 2012 für die meisten und brutalsten Menschenrechtsverbrechen im Ostkongo verantwortlich war.
"Raia Mutomboki" bedeutet übersetzt "das wütende Volk". Der oberste Kommandeur dieser mit Macheten und Lanzen ausgerüsteten Kämpfer, Kikuny, hat in seinem bislang einzigen Interview zugegeben: "Wenn jemand deine Frau vergewaltigt, dann wirst du wütend – das ist, was wir sind!" Tief in Kongos Dschungel sitzt er, umringt von Schädeln – den Gebeinen abgeschlachteter Angehöriger: "Jetzt tun wir den Frauen der FDLR an, was sie unseren Frauen angetan haben. Wir kongolesischen Männer lassen uns nicht länger von den Ruandern demütigen", brüllt er wütend. Die Massenmorde der Raia Mutomboki-Kämpfer sind Selbstjustiz infolge extremer Straflosigkeit – die grausame Folge der Gewaltspirale. Doch wie lassen sich all diese Kommandeure juristisch zur Verantwortung ziehen?
Das Armeehauptquartier in Ostkongos Provinzhauptstadt Goma liegt inmitten eines Slums aus grünen windschiefen Zelten. Hier leben die Soldaten in Dreck und Elend. Das steinerne Gebäude des Militärgerichtshofs sticht hervor wie eine Festung. Im Garten wachsen mannshohe Marihuana-Pflanzen.
Militärstaatsanwalt Oberst Marten Baseleba studiert an seinem Schreibtisch handgeschriebene Dokumente. Sein Laptop neben ihm hat keinen Strom. Daneben türmen sich vergilbte Bücher über Kriegsverbrechen und Aktenberge. Der alte Mann liest in einem Dokument und runzelt die Stirn: Der Hauptangeklagte im Prozess wegen der Massenvergewaltigungen in Luvungi, Oberst Mayele, ist gerade in Untersuchungshaft gestorben, "Todesursache unbekannt", liest Baseleba laut vor: "Damit können wir dieses Verfahren auch ad acta legen."
Schade. Das Verfahren war ein Hoffnungsschimmer. Es begann 2011 in der Distrikthauptstadt Walikale, nahe Luvungi. Militärrichter, Ankläger, Anwälte, Täter, Zeugen und Opfer waren anwesend. Darunter auch Marie. In aller Öffentlichkeit wagten die Frauen, gegen die Täter auszusagen. Ein Meilenstein, der jetzt doch keine Konsequenzen hat. In kaum einem Land sei es so schwer, Kriegsverbrechen aufzuklären, wie im Kongo, sagt Baseleba: "Wie soll ich denn dieser Rebellen habhaft werden?", seufzt er und fügt leise hinzu: "Meine Soldaten vergewaltigen ja auch."
Dabei soll die Armee die Bevölkerung vor den Rebellen beschützen. Doch als die Regierungseinheiten im November 2012 die Schlacht um die Millionenstadt Goma gegen die Rebellen der M23 (Bewegung des 23. März) verloren, zogen sich die geschlagenen Truppen ungeordnet und demoralisiert in die Kleinstadt Minova, 40 Kilometer südlich von Goma, zurück. Die Offiziere hatten die Kommandohoheit verloren. Tagelang plünderten ihre Soldaten dort sturzbetrunken die Bevölkerung aus. Und sie vergewaltigten: 126 Frauen und Mädchen mussten im örtlichen Krankenhaus behandelt werden. Generalinspektor General Francois Olenga kam aus der Hauptstadt Kinshasa eingeflogen, "um für Ordnung zu sorgen". Einer seiner Offiziere gab zu: "Unsere Einheiten verhalten sich schlimmer als jede Rebellengruppe derzeit."
Die Autorin ist Afrika-Korrespondentin und lebt in Goma, Ostkongo.