Amnesty Journal Indien 27. März 2012

Der Kampf um den Berg

Im Südwesten des indischen Bundesstaates Orissa gefährdet der Abbau von Bauxit die Lebensgrundlage einer der ­ältesten Bevölkerungsgruppen Indiens. Während der Rechtsstreit um die Schürfrechte in Neu-Delhi ausgetragen wird, ist die Bevölkerung vor Ort Repressionen und Umweltverschmutzung ausgesetzt.

Von Kathrin Zeiske

Der Niyamgiri. Auf den heiligen Berg gelangt man auf schmalen Pfaden durch einen trockenen Laubwald. Die Dongria Kondh, eine indigene Gemeinschaft, die zu den ältesten Bewohnern Indiens zählt, sind heute auf dem Weg nach oben. Eine Zeremonie auf dem Berg soll ihnen Kraft geben, die Pläne des britischen Konzerns Vedanta zu verhindern. Flammende politische Reden tönen über ein Megaphon, begleitet von Trommeln und Tamburinen.

Männer tanzen mit hoch erhobener, blumengeschmückter Axt; dem Zeichen der Kondh. Frauen und Mädchen mit einer Vielzahl schmaler Ringe in Ohren, Nasenflügel und Nasenbein beobachten das Geschehen. Nur einige Lagerfeuer und eine an einen Generator angeschlossene Neonröhre erhellen die Feierlichkeiten unter einem imposanten Sternenhimmel.

"Vedanta will die Grundlage unseres gesamten Denkens und Seins zerstören", sagt Frafulla Samantar, Sprecher der etwa 9.000 Dongria Kondh. Im August 2008 begann der Konflikt, als der Oberste Gerichtshof den offenen Tagebau am Niyamgiri dem Unternehmen des britisch-indischen Magnaten Anil Agarwal genehmigte. "Seit Anbeginn der Zeit verehren wir diesen Berg wie eine Mutter. Hier haben unsere Ahnen gelebt und meine Enkel sollen dies auch tun. Wie wollen sie uns dafür entschädigen, dass wir hier weggehen? Das ist gar nicht möglich", sagt Samantar.

Die Dongria Kondh wurden nie in den geplanten Ressourcenabbau einbezogen. Über ihren Kopf hinweg entschieden die Behörden, es wäre in ihrem Interesse, wenn die Aluminium-­Industrie hier Fuß fassen würde. Die Modernisierung des Kalahandi-Distrikts würde Hungersnöten entgegenwirken. "Hier gab es aber nie Hungersnöte", sagt Samantar. "Unsere überlieferten Lieder sprechen davon, dass in Zeiten der Dürre die Wälder und Flüsse des Niyamgiri den Menschen genug zu essen geben." Sollte die Bergkuppe jedoch abgetragen werden, befürchten die Dongria Kondh einen lokalen Klimawandel, der die landwirtschaftliche Produktion der Region aufgrund ausbleibender Regenfälle gefährden würde.

Am nächsten Morgen treten die Feiernden den Rückweg zu den Ausläufern des Berges an, dorthin, wo ihre Dörfer liegen. Einen Tag später zerstören Arbeiter Vedantas alles, was die Indigenen hinterlassen haben. Die Botschaft ist deutlich. Angesichts der Gewinnzahlen, die der Abbau des Aluminiumerzes Bauxit verspricht, soll das Projekt um jeden Preis durchgezogen werden. Die Kosmovision der indigenen Bevölkerung, das spirituelle und soziale Einbezogensein in die sie umgebende Umwelt, ist dabei für das Unternehmen nur störend. Rund 70 Millionen Tonnen des begehrten Leichtmetalls werden unter dem Niyamgiri vermutet; die Preise für den Rohstoff sind auf dem Weltmarkt in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Aufgrund seiner geringen Dichte findet Aluminium vor allem in der Flugzeugindustrie und Raumfahrt Verwendung, aber auch in Gegenständen des täglichen Gebrauchs wie Getränkedosen und Tetrapacks.

Die Dongria Kondh sind zwangsweise in der globalisierten Welt angekommen. Sie müssen sich jetzt mit Konzessionsrechten und Umweltauswirkungen von chemischen Stoffen beschäftigen und versuchen, sich gegen den Ressourcenabbau zu wehren. Doch die lokalen Autoritäten scheinen vom milliardenschweren Konzern Vedanta gekauft zu sein: Beschwerden werden belächelt; Anzeigen gegen Übergriffe ignoriert. "Proteste wurden mit polizeilicher Repression und der brutalen Gewalt mafiöser Strukturen beantwortet", sagt Surya Shankar Dash, Dokumentarfilmer und Aktivist, der den Dongria Kondh Handkameras zur Verfügung stellte, um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Auch Amnesty International und andere Organisationen schalteten sich ein.

Der internationale Druck trug schließlich Früchte: Die britische und norwegische Regierung zogen Milliardeninvestitionen in das börsennotierte Unternehmen zurück; Vedantas Aktien verloren prompt dramatisch an Wert. Der geplante Abbau des Niyamgiri wurde im August 2010 durch Indiens Umweltminister Jairam Ramesh gestoppt. Ein Expertenteam legte vor dem Obersten Gerichtshof dar, dass die geplante Mine nicht nur das ökologische Gleichgewicht zerstören, sondern auch die Dongria Kondh auslöschen würde. "Als in Delhi verhandelt wurde, wurden hier die meisten Menschenrechtsverletzungen verübt", erzählt Dokumentarfilmer Dash. "Kurz vor der Urteilsverkündung wurden zwei führende indigene Aktivisten, Lodu und Sena Sikaka, von Polizisten in Zivil angegriffen und später sogar entführt." Ein weiterer Aktivist starb unter ungeklärten Umständen. Am Vortag seines Todes hatte er sich mit Gerichtsgutachtern zu einem Gespräch getroffen.

Unterdessen baute Vedanta seine Aluminium-Raffinerie unterhalb des Niyamgiri. Hier erstreckt sich nun ein großer ­Industriekomplex mit Schornsteinen, Tankanlagen und Fördertürmen. Arbeiter mit gelben Schutzhelmen laufen über das von einer weißen Mauer eingefasste Gelände. "Let’s create a better ­tomorrow" – "Lasst uns eine bessere Zukunft schaffen", ist über einem Abbild lachender Jugendlicher zu lesen. Eine mehr als ­zynische Botschaft, findet Kuli Mache, Dorfältester Bengopalis, einer Siedlung blaugestrichener Lehmhütten.

Nur einen Steinwurf von der Raffinerie entfernt trocknen hier bunte Saris im Wind, Kinder auf Fahrrädern weichen Enten und Kühen aus. Eine kleine Idylle, doch der Schein trügt. "Wir sind mittellos. Vedanta gehört nun alles Land, das uns umgibt. Aber auf die Kompensationszahlungen warten wir bis heute. Auch die versprochenen Arbeitsplätze sind ausgeblieben", erzählt der alte Mann resigniert. Damals, als die Leute von Vedanta in Begleitung lokaler Beamter ­kamen, erzählten sie dem alten Mann, der Bau der Raffinerie sei beschlossene Sache. Er unterzeichnete, während andere Dorf­gemeinschaften schlichtweg vertrieben wurden.

"Es wurde ein erheblicher Druck ausgeübt. Heute versuchen die im Tal ansässigen Kutia Kondh mit Hungerstreiks das ihnen zustehende Geld einzufordern", berichtet Rechtsanwalt Siddhartha Nayak. Doch das größte Problem bleibt die Umweltverschmutzung. "Oft verklappt Vedanta ganz direkt giftige Abfälle im Fluss Vansadhara, toxischer Staub legt sich über die Felder", sagt Rechtsanwalt Nayak. Unzählige Dorfbewohner leiden an Krankheiten wie Tuberkulose und Lungenentzündung. "So viel Elend gab es hier vorher nicht. Viele Menschen siechen in ihren Häusern dahin. Das sind eindeutige Auswirkungen der roten Schlämme", sagt der Anwalt.

Die Schlämme werden aus der Raffinerie in einen gigantischen See geleitet, der sich über die Ebene erstreckt. Schlickbänke und Wasserkanäle glänzen einladend in der Sonne, doch der kupferrote Schlamm ist hochgiftig. Er entsteht bei der Herauslösung des Bauxits aus der Erde – es wird mit stark ätzender Natronlauge ausgewaschen. Derzeit wird in der Raffinerie bauxithaltige Erde aus anderen Landesteilen Indiens verarbeitet. Auch wenn das Becken nun nicht wie geplant um das Sechsfache vergrößert wird, wie ein weiteres Gerichtsurteil entschied, stellt der Giftsee eine erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Im April und erneut im Juni 2011 brach der Damm des Sees an verschiedenen Stellen und die Schlämme ergossen sich in anliegende Flussläufe.

"Die Fische starben innerhalb einer Viertelstunde", berichtet Suresh Sangram vom Komitee zum Schutze des Niyamgiri (Niyamgiri Surakshya Samiti). "Vedanta versuchte, dies zu vertuschen und ließ nicht zu, dass lokale Journalisten Aufnahmen machten. Anwohner gerieten in Panik. Sollte der Monsunregen den See über die Ufer treten lassen, könnte es zu einer Umweltkatastrophe kommen, die den gesamten Kalahandi Distrikt beträfe." Immerhin sind die hochgiftigen Schlämme die gleichen, die bei dem Industrieunglück in Ungarn im Oktober 2010 austraten, bei dem mehrere Menschen starben und Hunderte verletzt wurden.

In Orissa organisieren sich nun die Menschen. Rund 2.000 Aktivisten nahmen im Mai 2011 an einem Padayatra gegen die Machenschaften Vedantas teil. In der Tradition von Mahatma Gandhis berühmt gewordenem Salzmarsch zogen sie über mehrere Tage durch mehr als fünfzig Dörfer der Region.

Währenddessen geht die Repression gegen die Dongria Kondh als Vorreiter der Bewegung weiter. "Heute durchkämmen paramilitärisch organisierte Gruppen die Dörfer am Fuße des Niyamgiri und terrorisieren die Bewohner", erzählt der Dokumentarfilmer Surya Shankar Dash. "Auch von staatlicher Seite werden die sozialen Proteste kriminalisiert, Aktivisten unter falschen Anschuldigungen ins Gefängnis gebracht." Im Januar 2011 wurde sogar ein Aktivist bei einem angeblichen Schusswechsel mit der maoistischen Guerilla getötet.

"Der Niyamgiri ist noch nicht gerettet", betont Dash. "Der Oberste Gerichtshof wird in den nächsten Monaten erneut entscheiden, ob die verfassungsmäßigen Rechte der Dongria als indische Staatsbürger höher zu bewerten seien als die Interessen eines multinationalen Unternehmens. Die korrumpierte Landesregierung von Orissa hat dies zugunsten Vedantas erneut vor Gericht gebracht." Im Oktober 2011 haben drei Experten die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes in der Gesetzgebung über Umwelt und Wälder scharf kritisiert; dabei verwiesen sie explizit auf den Fall Niyamgiri. Im November wurde dann die Unabhängigkeit des Richters S. H. Kapadia vom Obersten Gerichtshof in den Medien diskutiert; dieser gab 2008 den Abbau am Niyamgiri frei – und besitzt Aktien von Vedanta.

Wie das Urteil ausfallen wird, ist unklar. Doch der Rechtsstreit ist exemplarisch: bekommt Vedanta Konzessionsrechte, werden andere Unternehmen nachziehen. Zumal die indische Regierung unter Präsident Manmohan Singh die Öffnung zum Weltmarkt vorantreibt. Menschenrechte müssen dabei oft hinten anstehen.

Die Autorin ist Journalistin und lebt in Bonn.

Weitere Informationen auf www.amnesty-indien.de

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