Amnesty Journal Irak 05. Juni 2009

Zwischen Fortschritt und Folter

Die kurdische Provinz im Norden gilt als stabilste Region des Irak.
Doch auch hier sind Verstöße gegen die Menschenrechte zu beobachten.
Eine Delegation von Amnesty International war dort.

Die Männer, die Walid Yunis Ahmad verhafteten, trugen Zivilkleidung. Auf offener Straße nahmen sie ihn am 6. Februar 2000 in Erbil fest. Über drei Jahre wusste Ahmads Familie nicht, wo er sich befand. Sie fragte bei den Behörden nach, diese bestritten aber, Informationen über seinen Verbleib zu besitzen. Durch das Internationale Rote Kreuz erfuhren die Verwandten von Ahmad schließlich, dass er im Hauptquartier des Geheimdienstes Asayish in Erbil interniert war.

Ahmad arbeitete für einen lokalen Radio- und Fernsehsender, der mit der islamistischen Bewegung im kurdisch-kontrollierten Nordirak in Verbindung stehen soll. Das war wohl der Grund für seine Gefangennahme. In der Haft soll er gefoltert und misshandelt worden sein. Als seine Familie ihn im November 2008 besuchte, war er in schlechter gesundheitlicher Ver­fassung: Er hatte einen 45-tägigen Hungerstreik hinter sich. Im Februar 2009 war er noch immer eingesperrt – ohne jemals vor Gericht gewesen zu sein.

Die Geschichte ist kein Einzelfall, und sie wirft ein düsteres Licht auf die Lage der Menschenrechte in der teilautonomen, kurdischen Region im Nordirak. Vom 23. Mai bis zum 8. Juni 2008 besuchte eine Delegation von Amnesty International die Provinz. In dem von ihr verfassten Bericht werden erhebliche Missstände angeprangert. Kritisiert werden vor allem der Umgang mit politischen Häftlingen, die Behandlung von Frauen und der Stand der Presse- und Meinungsfreiheit.

Dem Bericht zufolge kommt es in der Region immer wieder zu willkürlichen Festnahmen, Entführungen und Folter. Seit dem Jahr 2000 waren Tausende Personen von derartigen Willkürakten betroffen, die meisten von ihnen wurden verdächtigt, islamistischen Organisationen anzugehören. Die Behandlung der Verdächtigen erfolgt meist im rechtsfreien Raum: Juristischer Beistand wird ihnen verweigert, manche Anwälte fürchten sich auch, solche Fälle zu übernehmen – aus Angst vor Repressalien oder gewalttätigen Angriffen.

Für diese Zustände ist unter anderem der Inlandsgeheimdienst "Asayish" der Autonomie-Regierung verantwortlich. Er hat Zentralen in fast jeder Stadt – meist gehören dazu Gefängnisse oder Hafträume – und untersteht keinem Ministerium, sondern berichtet direkt dem Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan, Masud Barzani. Amnesty International kritisiert die Regierung dafür, dass sie die Foltervorwürfe gegen die Asa­yish nicht unparteilich untersuchen lässt. So kann der Geheimdienst in einem Klima der Straflosigkeit agieren. Auch Mitglieder des Parlaments haben sich bereits darüber beklagt.

Neben dem Asayish gibt es in den kurdischen Gebieten die Parastin und die Dezgay Zanyari, die Geheimdienste der KDP (Kurdische Demokratische Partei) und der PUK (Patriotische Union Kurdistans). Auch diesen werden Verstöße gegen die Menschenrechte vorgeworfen. Amnesty International appelliert an die Regionalregierung, die Vorwürfe untersuchen zu lassen und rechtliche Bedingungen zu schaffen, die internationalen Maßstäben entsprechen.

Immerhin: Im Sommer 2008 wurden Hunderte politische Gefangene aus der Haft entlassen, von denen viele jahrelang willkürlich eingesperrt gewesen waren. Andere aber hatten nicht so viel Glück. In den kurdischen Gebieten warten nach wie vor Dutzende Personen in Todeszellen auf ihre Hinrichtung, ohne eine faire Verhandlung erlebt zu haben. Amnesty International fordert die Regionalregierung unter anderem dazu auf, ein Moratorium für Hinrichtungen zu erlassen und letztlich ganz auf die Todesstrafe zu verzichten.

Auch für viele Frauen ist die Situation nicht einfach. Cilan Muhammad Amin wurde nur 23 Jahre alt. Ihr Bruder soll sie am 8. März 2008 erwürgt haben, weil er ihr ein heimliches Liebesverhältnis unterstellte. Ihre Schwester und ihr Ehemann werden beschuldigt, die Leiche anschließend verbrannt zu haben. Der Bruder war im Frühjahr 2009 noch immer auf freiem Fuß.

Fälle wie dieser sind keine Seltenheit. 105 Frauen sollen im Jahr 2007 in der Region Sulaimaniya durch Verbrennung gestorben sein, 29 von ihnen begingen Selbstmord. In Saydani etwa, in der Region Erbil, zündete sich im März 2008 die 13-jährige Rojan selbst an, weil sie sich einer Zwangsverheiratung widersetzen wollte.

Die Liste der Gewalttaten gegen Frauen in der Region umfasst neben Zwangsverheiratungen auch so genannte Ehrenmorde und Genitalverstümmelungen. Meist sind Ehemänner, Brüder oder Väter die Täter, oft handeln sie im Auftrag der Familie oder der Clan-Ältesten. Die Regionalregierung unternimmt einige Anstrengungen, diese Verhältnisse zu ändern. Hierzu gehören Präventionsprogramme gegen Gewalt an Frauen oder die verstärkte Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen. Bisher gibt es im ganzen Nordirak sechs Häuser für Frauen auf der Flucht. Nach Angaben der Regionalregierung sollen aber weitere eröffnet werden.

Probleme gibt es auch bei der Reintegration der Frauen, die Zuflucht in Schutzhäusern gesucht haben. Selbst in Fällen, in ­denen Familien schriftlich die körperliche Unversehrtheit der Frauen für den Fall ihrer Heimkehr garantiert hatten, kam es zu Gewalttaten. Personen, die in den Zufluchtsstätten arbeiten, werden bedroht und eingeschüchtert. Im Mai 2008 wurde in ­Sulaimaniya ein Heim beschossen. Bei den bewaffneten Angreifern soll es sich um Verwandte einer Frau gehandelt haben, die dort Schutz gesucht hatte. Diese wurde bei dem Angriff schwer verletzt. Im Februar 2009 war noch keiner der Täter zur Rechenschaft gezogen worden.

Wenn Journalisten über diese Vorfälle berichten, setzen sie sich großen Gefahren aus. Viele unterlassen es daher, die Regionalregierung, die Asayish, die PUK oder die KDP zu kritisieren. In einigen Fällen wurden Journalisten bedroht, willkürlich festgenommen und misshandelt. Der 23-jährige Journalist Souran Mama Hama wurde im Juli 2008 vor dem Haus seiner Eltern erschossen. Zuvor hatte er anonyme Morddrohungen erhalten. Er hatte im unabhängigen Magazin "Levine" aus Sulaimaniya Artikel gegen Vetternwirtschaft und Korruption veröffentlicht.

Kritische Zeitungen müssen überdies mit Klagen nach Artikel 433 des Strafgesetzbuches rechnen, der eigentlich Diffamierung unter Strafe stellt, aber häufig gegen die Presse angewandt wird. Dennoch gab es in jüngster Zeit auch Verbesserungen. Im September 2008 wurde ein Gesetz verabschiedet, das für "Vergehen" der Presse keine Gefängnisstrafen mehr vorsieht und mögliche Geldstrafen reduzierte. Journalisten begrüßten das, viele beklagten aber bald darauf, dass das Gesetz von den Geheimdiensten ignoriert werde.

Trotz aller Probleme erkennt Amnesty International an, dass die kurdische Region im Nordirak nach der US-Invasion im Jahr 2003 relativ stabil geblieben ist, dass eine Zivilgesellschaft im Entstehen ist und die Autonomieregierung Fortschritte in der Frage der Menschenrechte macht. Dennoch müssen die dargestellten Missstände kritisiert werden. Amnesty International hat ihre Empfehlungen, wie die Lage in der Region zu verbessern sei, in zwei Memoranden an die Regionalregierung geschickt. Diese wurde darin aufgefordert, die Einhaltung der Menschenrechte zu garantieren und begangene Verbrechen, wie Folter oder Ermordungen, aufzuklären und den Opfern oder ihren Familien Entschädigung zu gewähren.

Von Stefan Wirner
Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin.

Infokasten: Kampagne gegen Folter
Die Regierung hat auf die Vorwürfe von Amnesty International reagiert. So hat das Ministerium für Menschenrechte in einem Schreiben die Entführung von Personen verurteilt und als schweres "Verbrechen" bezeichnet. Die Regierung hat eine Kampagne gegen Folter ins Leben gerufen und die Untersuchung verschiedener Vorwürfe in die Wege geleitet. Ob es die Lage der politischen Gefangenen, der Frauen oder die Pressefreiheit betrifft: Die Regionalregierung räumt Handlungsbedarf ein und versichert, dass sie alles in ihrer Macht Stehende unternehme, um die Situation zu verbessern. Lesen Sie den vollständigen Bericht unter www.amnesty.org

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