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Palästinenser*innen in Ost-Jerusalem: "Niemand weiß, wann das eigene Haus abgerissen oder beschlagnahmt wird"
Bagger der israelischen Armee zerstören das Haus einer palästinensischen Familie in Ost-Jerusalem (24. Februar 2024).
© IMAGO / ZUMA Wire
Ob Zwangsräumungen, Gewalt durch israelische Sicherheitskräfte oder Vertreibung durch nationalreligiöse Siedler*innen: Die palästinensische Bevölkerung in Ost-Jerusalem lebt in großer Unsicherheit. Mounir Marjieh ist International Advocacy Officer am "Community Action Center" an der "Al-Quds University" in Jerusalem, das Rechtsberatung für Palästinenser*innen anbietet. Im Interview berichtet er über die schwierige Lage der palästinensischen Bevölkerung in Ost-Jerusalem und was sich für sie seit dem 7. Oktober 2023 verändert hat.
Mounir Marjieh von der "Al-Quds University" in Jerusalem
© Amnesty International, Foto: Jarek Godlewski
Am 11. Juli 2023 musste die palästinensische Familie Sub Laban im Zuge einer Zwangsräumung ihr Haus in Ost-Jerusalem verlassen – nach einem 45 Jahre dauernden Rechtsstreit. Wie kann so etwas sein?
Grundlage sind die israelischen Gesetze, die zum Ziel haben, eine jüdische Mehrheit innerhalb der Gesamtbevölkerung Jerusalems herzustellen. Der Ostteil Jerusalems soll dauerhaft unter israelischer Souveränität und Kontrolle bleiben. Vor allem zwei Gesetze werden von privaten Siedlerverbänden genutzt, um Palästinenser*innen zu enteignen und kamen auch in diesem Fall zur Anwendung: das Gesetz über Rechts- und Verwaltungsangelegenheiten von 1970 und das "Gesetz über das Eigentum der Abwesenden" von 1950. Das erste legt fest, dass jüdische Israelis Eigentum zurückfordern können, das ihnen angeblich vor 1948 im Ostteil Jerusalems gehörte und das sie im Zuge der Nakba 1948 verlassen mussten. Das zweite gibt dem Staat Israel die Kontrolle über Eigentum von Palästinenser*innen, die vertrieben oder aus ihrer Heimat geflohen waren und so zu "Abwesenden" wurden.
Warum kritisieren Sie das?
Es mag gerecht klingen. Aber zum einen waren nicht alle tatsächlich Eigentümer*innen der Häuser. Es gab vor 1948 kurzfristige Miet- und langfristige Pachtverträge sowie andere komplexe Eigentumsverhältnisse. Die Mehrheit davon wird von israelischen Gerichten aber als volles Eigentum anerkannt. Zum anderen erhielten Jüd*innen, die ursprünglich im Ostteil Jerusalems lebten und 1948 in den Westteil umziehen mussten, vom Staat Israel eine Entschädigung in Form von Häusern. Diese waren in der Regel zuvor im Besitz von Palästinenser*innen. So wurde im Grunde eine doppelte Entschädigungsregelung geschaffen.
Welche Rollen spielen dabei die privaten Siedlerverbände?
Eine Strategie der privaten Siedlerverbände ist es, jüdische Familien anzusprechen, die noch Eigentum in Ost-Jerusalem besitzen, aber nach den Ereignissen von 1948 in den Westteil gezogen sind. Oft wollen diese Familien ihr Eigentum in Ost-Jerusalem nicht mehr haben und verkaufen ihren Besitz an die Siedlerverbände. Diese erheben anschließend vor den israelischen Gerichten Räumungsklagen gegen die palästinensischen Bewohner*innen.
Noura Sub Laban (links) mit Angehörigen anderer Familien, die in Ost-Jerusalem ebenfalls von Zwangsräumung durch israelische Behörden bedroht sind, bei einem Treffen mit einer EU-Delegation am 13. März 2023.
© IMAGO / ZUMA Wire
Wie geht es der Familie Sub Laban heute?
Das Haus der Familie Sub Laban, in dem die Mutter Noura geboren wurde, lag im muslimischen Viertel der Altstadt von Jerusalem. Von Siedlergruppen wird das Viertel heute als "New Jewish Quarter" bezeichnet. Seit der Räumung am 11. Juli 2023 ist die Familie Sub Laban nicht mehr in die Jerusalemer Altstadt zurückgekehrt – zu groß sind die Angst, der Stress und das Trauma. Unmittelbar nach der Räumung haben israelische Siedler*innen das Haus übernommen. Als erstes werfen sie üblicherweise alle Möbel raus und hängen als Zeichen für ihre Überlegenheit und Vorherrschaft eine riesige israelische Fahne aus dem Fenster. Noura konnte sich das nicht anschauen. Die Familie hat nun große Schwierigkeiten eine neue Bleibe zu finden.
Wie viele Palästinenser*innen in Ost-Jerusalem sind derzeit akut von Zwangsräumungen betroffen?
In Ost-Jerusalem leben ungefähr 330.000 Palästinenser*innen. Sie alle befinden sich in großer Unsicherheit - vor allem, was ihr Zuhause betrifft. Niemand weiß, wann das eigene Haus abgerissen oder beschlagnahmt wird. Die israelische Regierung beraubt Palästinenser*innen ihrer Häuser und ihres Besitzes, sei es durch staatliche Stellen oder mithilfe der Unterstützung privater Siedlerorganisationen. Seit dem 7. Oktober 2023 bis Ende April 2024 wurden allein in Ost-Jerusalem 123 Häuser zerstört und dabei 363 Palästinenser*innen vertrieben (Stand: 23. April 2024). Man könnte annehmen, dass Israel aufgrund des Krieges keine Häuser mehr in Ost-Jerusalem abreißt. Doch das Gegenteil stimmt: Die Fälle von Vertreibungen haben im Vergleich zu ähnlichen Zeiträumen in den vergangenen Jahren sogar zugenommen. Diese Enteignungen und Vertreibungen verstoßen gegen internationales Recht. Sie kommen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleich. Eine Besatzungsmacht darf so etwas nicht machen.
Müsste der Oberste Gerichtshof Palästinenser*innen in Jerusalem nicht vor Enteignung und Zwangsräumung schützen?
Der Oberste Gerichtshof billigt seit Jahren die Besatzung und die Siedlungen. Obwohl die Richter*innen wissen, dass Jerusalem als besetztes Gebiet nach Kriegsrecht behandelt werden sollte. Dies schließt das Haager Abkommen, die Genfer Konvention und internationale Menschenrechtsstandards ein. Trotzdem haben sie israelisches Recht angewandt. Das ist eine Verletzung des Völkerrechts. Es zeigt auch, wie der israelische Oberste Gerichtshof Teil dieser kolonialen Bestrebungen der Siedler*innen im Ostteil Jerusalems ist.
Einige Minister der jetzigen Regierung, wie Finanzminister Bezalel Smotrich und Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir, kommen aus der nationalreligiösen Siedlerbewegung. Haben sich die Siedlungspolitik und die Siedlungsaktivitäten seit dem Amtsantritt der jetzigen Regierung verändert?
Derzeit wird in Ost-Jerusalem der Bau von acht neuen Siedlungen innerhalb oder angrenzend an palästinensische Stadtviertel gefördert, mit insgesamt mehr als 12.000 Wohneinheiten in Ost-Jerusalem. All dies geschieht im Schatten eines möglichen Völkermords durch Israel in Gaza, für den der Internationale Gerichtshof zumindest Anzeichen sieht. Smotrich und Ben-Gvir und andere national-religiöse Gruppen wollen einen zukünftigen unabhängigen palästinensischen Staat um jeden Preis verhindern.
Israelische Sicherheitskräfte bereiten die Zerstörung eines palästinensischen Geschäfts vor im Stadtteil Siwan in Ost-Jerusalem (29. Juni 2021)
© Activestills
Wie hat sich die Lage in Jerusalem und im Westjordanland seit dem 7. Oktober 2023 geändert?
Seit dem 7. Oktober erleben wir einen Anstieg der Siedlergewalt. Es gab ungefähr 700 Fälle, in denen Siedler*innen Gewalt gegen Palästinenser*innen ausgeübt haben. 27 Gemeinden wurden ganz oder teilweise durch Siedlergewalt vertrieben. Jetzt gehen die Siedler*innen schwer bewaffnet und in Begleitung israelischer Soldat*innen in die Orte und sagen den dort lebenden Palästinenser*innen, dass sie 24 Stunden Zeit haben, freiwillig zu gehen. Andernfalls würden sie getötet. In Ost-Jerusalem haben wir neben der Zerstörung von palästinensischem Privateigentum auch schwere Gewalt seitens der israelischen Sicherheitskräfte gesehen. Wir haben viele Fälle dokumentiert, in denen die israelische Polizei mit scharfer Munition mitten in palästinensischen Wohnvierteln in Ost-Jerusalem geschossen hat, was zur Tötung vieler Palästinenser*innen führte – darunter waren drei Minderjährige.
Die deutsche Bundesregierung vertritt die Auffassung, dass die Siedlungsaktivitäten in den besetzten palästinensischen Gebieten völkerrechtswidrig sind und bringt dies auch regelmäßig in öffentlichen Stellungnahmen zum Ausdruck. Was erwartet das CAC von der deutschen Regierung?
Worte allein reichen nicht. Die Bundesregierung macht sich durch ihre Unterstützung Israel unglaubwürdig. Sie muss entschiedene und sinnvolle Maßnahmen gegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ergreifen. Ein Waffenembargo ist jetzt äußerst wichtig, um alle Rüstungsexporte nach Israel zu stoppen. Mit diesen Waffen wird möglicherweise ein Völkermord begangen. Diesen Rahmen müssen wir aufbrechen und Israel zur Verantwortung ziehen. Deutschland sollte sich auf die Rechtsstaatlichkeit konzentrieren und auf die Bedeutung der internationalen Rechtsordnung.
Hintergrundinformationen
Das CAC wurde 1999 gegründet, um Palästinenser*innen in sozialen Fragen zu unterstützen. Das CAC bietet Rechtsberatung zu zahlreichen Themen wie Familienzusammenführung, gewaltsame Vertreibung, kollektive Bestrafung oder der Anwendung exzessiver und tödlicher Gewalt an. Das CAC berät auch zu Fragen des Aufenthaltsstatus: Palästinenser*innen in Ost-Jerusalem haben keine israelische Staatsbürgerschaft, sondern den zivilrechtlichen Status "permanenter Einwohner". Sie dürfen zwar in Jerusalem leben, müssen aber nachweisen, dass ihr Lebensmittelpunkt in Israel liegt – sonst erlischt ihre Aufenthaltsgenehmigung. Weitere Informationen zur israelischen Besatzung von Ost-Jerusalem und der anderen palästinensischen Gebiete gibt es hier: