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Stellungnahme bei der Sachverständigenanhörung im Innenausschuss des Bundestags zum Gesetzentwurf zur Einstufung Georgiens, der Demokratischen Volksrepublik Algerien, des Königreichs Marokko und der Tunesischen Republik als sichere Herkunftsstaaten
Stellungnahme an den Innenausschuss des Bundestags für die Sachverständigenanhörung am 26.11.2018 zum Entwurf eines Gesetzes zur Einstufung Georgiens, der Demokratischen Volksrepublik Algerien, des Königreichs Marokko und der Tunesischen Republik als sichere Herkunftsstaaten
1. Einleitung
Amnesty International bedankt sich für die Möglichkeit einer Stellungnahme bei der Sachverständigenanhörung im Innenausschuss des Bundestags zum Gesetzentwurf zur Einstufung Georgiens, der Demokratischen Volksrepublik Algerien, des Königreichs Marokko und der Tunesischen Republik als sichere Herkunftsstaaten.
Das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten wird von Amnesty International grundsätzlich abgelehnt, weil es Schutzsuchende aus den betreffenden Ländern im Vergleich zu Schutzsuchenden aus anderen Ländern im Hinblick auf das Asylverfahren und die sich daran anschließenden Rechtsfolgen diskriminiert. Das Konzept steht einem fairen Verfahren entgegen. Unabhängig davon können die Maghreb-Staaten nach den aktuellen Erkenntnissen von Amnesty International nicht als sicher i.S.v. Art. 37 i.V.m. Anhang I der Asylverfahrensrichtlinie[1] bewertet werden.
2. Das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten
Im Gesetzentwurf werden die Staaten Georgien, Algerien, Marokko und Tunesien der Anlage II des § 29a des Asylgesetzes hinzugefügt und damit zu "sicheren Herkunftsstaaten" im Sinne von Art. 16a Absatz 3 GG (Art. 1 Gesetzentwurf) sowie Art. 37 der Richtlinie 2013/32/EU erklärt.
Amnesty International lehnt das Konzept der "sicheren Herkunftsstaaten" grundsätzlich ab. Jeder einzelne Asylantrag muss in einem fairen und effektiven Verfahren geprüft werden. Dieser völkerrechtlichen Anforderung steht das Konzept "sicherer Herkunftsstaaten" entgegen, das eine sorgfältige und unvoreingenommene Einzelfallprüfung gerade nicht beabsichtigt. Durch die Vermutung der Sicherheit wird die Beschleunigung im Asylverfahren durch die regelmäßige Ablehnung eines Antrags als "offensichtlich unbegründet" beabsichtigt. Die sich daran anschließende Rechtsfolge des verkürzten Rechtswegs kann zu einer unterschiedlichen Behandlung von Flüchtlingen aufgrund des Herkunftslandes führen, die nach Art. 3 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) explizit verboten ist. Die Genfer Flüchtlingskonvention kennt das Konzept der "sicheren Herkunftsstaaten" nicht. Das Konzept des "sicheren Herkunftsstaates" erhöht die Gefahr, dass der Schutzbedarf einer Person nicht erkannt wird und sie in die Verfolgung abgeschoben wird.
Die Ablehnung des Konzeptes der "sicheren Herkunftsstaaten" durch Amnesty International besteht unabhängig von der Situation in den Herkunftsländern.
2.1. Anforderungen an die Einstufung
Das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten ist sowohl im deutschen als auch im europäischen Recht verankert. Gemäß Art. 16a Abs. 3 GG kann ein Staat als sicherer Herkunftsstaat bestimmt werden, wenn auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. In seinem Urteil vom 14. Mai 1996[2] hat das Bundesverfassungsgericht diese Voraussetzungen ausgelegt und Maßstäbe entwickelt, die der Gesetzgeber bei der Einstufung beachten muss. Danach ist nicht erforderlich, dass politische Verfolgung oder unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung in dem Herkunftsland systematisch angewandt werden und durchgehend erfolgen.
Die Vorgaben zur Einstufung der im Jahr 2013 verabschiedeten EU-Asylverfahrensrichtlinie gehen darüber noch hinaus. Um den völkerrechtlichen Verpflichtungen des Flüchtlingsschutzes unter der GFK und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gerecht zu werden, verlangt Art. 37 Asylverfahrensrichtlinie i.V.m. Anhang I eine gründliche Prüfung der Lage im Herkunftsstaat auf Grundlage von Informationen, die auch anderen Mitgliedstaaten und internationalen Organisationen vorliegen. Damit dann eine Einstufung erfolgen kann, muss nachgewiesen werden, dass im Staat generell und durchgängig weder Verfolgung, noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe droht. Auch darf im Land keine Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts vorliegen. Auch europarechtlich kommt es nicht darauf an, ob die Verfolgung systematisch stattfindet. Allein dass sie in einem Maß vorliegt, das einzelne Ausnahmefälle übersteigt, reicht aus, damit ein Herkunftsstaat nicht als "sicher" eingestuft werden kann. Die Mitgliedstaaten sind gehalten, regelmäßig die Lage in Herkunftsstaaten, die als sicher bestimmt wurden, einer erneuten Prüfung zu unterziehen.
Der Maßstab für die Abwesenheit solcher Bedrohungen sind neben den Rechtsvorschriften auch ihre tatsächliche Anwendung in einem demokratischen System sowie die allgemeine politischen Lage. Nach Auffassung von Amnesty International lässt die aktuelle menschenrechtliche Situation in den Maghreb-Staaten eine Einstufung als sichere Herkunftsstaaten nach Art. 37 Asylverfahrensrichtlinie i.V.m. Anhang I nicht zu.
2.2. Heranziehen von Schutzquoten
In der Begründung des Gesetzentwurfes heißt es, dass die Schutzquoten im Asylverfahren für die Beurteilung des Herkunftslands als sicher mit herangezogen wurden. Auch im Koalitionsvertrag wird explizit auf die Anerkennungsquoten einzelner Herkunftsstaaten Bezug genommen, um zu identifizieren welche Länder für eine Einstufung als sicher in Betracht kommen. Hierfür wird willkürlich eine Grenze von 5% aufgestellt, mit der Maßgabe, dass Länder mit einer niedrigeren Schutzquote für eine Einstufung in Frage kommen.
Allerdings ist die nationale Schutzquote aus Sicht von Amnesty International nicht geeignet, um eine Aussage über die allgemeine Sicherheitslage im Land zu geben. Auch laut Bundesverfassungsgericht kann eine solche Anerkennungsquote lediglich als Indiz berücksichtigt werden, welches aber höchstens als Ergänzung oder zur Bestätigung des Ergebnisses der allgemeinen Prüfung der Menschenrechtslage herangezogen werden kann.[3] Die Freiheit vor Verfolgung und anderen i.S.d. Qualifikationsrichtlinie relevanten Gefahren lässt sich nur vermuten, wenn das Land generell und auch durchgängig sicher ist. Dies ist dann nicht der Fall, wenn es Gruppen im Land gibt, die einer Verfolgung ausgesetzt sind, unabhängig davon, wie repräsentativ deren Anteil unter den Asylgesuchen in Deutschland ist.
Im Hinblick auf die genannten Schutzquoten der relevanten Länder ist zusätzlich darauf hinzuweisen, dass die bereinigte Schutzquote, wie sie sich aus der BT-Drucksache 19/1371 ergibt, im Jahr 2017 bei allen drei Maghreb-Staaten über 5% lag:[4]
Jahr 2017
Land |
Unbereinigte Schutzquote in % |
Bereinigte Schutzquote[5] in % |
Algerien |
3,3 |
6,3 |
Marokko |
6,0 |
10,6 |
Tunesien |
3,1 |
5,9 |
Georgien |
2,1 |
2,9 |
Für Marokko lag im Jahr 2017 bereits die unbereinigte Schutzquote über 5%. Sofern eine sog. regelmäßige Gesamtschutzquote zusätzlich eine Aussage über die allgemeine asylrelevante Sicherheitslage treffen sollte, ist anzumerken, dass die Schutzquoten der drei Maghreb-Staaten steigend sind. Auch dies lässt anzweifeln, dass eine Gesamteinschätzung der Länder als sicher vor diesem Hintergrund angemessen ist.
Der Anteil der Asylsuchenden aus den drei Maghreb-Ländern im Vergleich zu den anderen Herkunftsländern ist sehr klein. Die Länder fielen in den vergangenen Jahren nicht unter die zehn Hauptherkunftsländer. Von Januar-Juni 2018 haben laut der Asylgeschäftsstatistik des BAMF 730 Personen aus Algerien, 591 Personen aus Marokko und 295 Personen aus Tunesien in Deutschland Asyl beantragt. Dies entspricht bei insgesamt 81.765 Erstanträgen nur knapp 2 Prozent.
2.3. Rechtsfolgen
Die mit der Einstufung eines Herkunftslands als sicher einhergehenden Folgen für Asylsuchende aus diesen Ländern, sind erheblich: Das Asylverfahren kann beschleunigt i.S.d. § 30a Abs.1 Nr. 1 AsylG durchgeführt werden. Bei Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet verkürzt sich die Ausreisefrist auf nur eine Woche gem. § 36 Abs. 1 AsylG. Auch die Klage gegen eine Entscheidung als offensichtlich unbegründet ist innerhalb einer Woche zu erheben (§ 74 Abs. 1 2. Halbsatz AsylG) und hat keine aufschiebende Wirkung (§ 75 Abs. 1 AsylG). Ein Antrag auf die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 der VwGO ist ebenfalls innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu stellen (§ 36 Abs. 1 S. 1 AsylG). Das Gericht soll grundsätzlich innerhalb einer Woche über den Antrag entscheiden (§ 36 Abs. 3 S. 5 AsylG). Damit werden die Rechtsschutzmöglichkeiten der Betroffenen deutlich eingeschränkt. In einem derart beschleunigten Verfahren erscheint es zweifelhaft, ob noch eine gründliche Überprüfung des Falls gewährleistet werden kann.
Fraglich ist zudem, wie dies mit der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 19. Juni 2018 in Einklang zu bringen ist.[6] Der EuGH stellte darin fest, dass "der dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und dem Grundsatz der Nichtzurückweisung innewohnende Schutz gegenüber einer Rückkehrentscheidung und einer etwaigen Abschiebungsentscheidung dadurch zu gewährleisten ist, dass der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, das Recht zuzuerkennen ist, zumindest vor einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung einzulegen."
Neben den bereits genannten Rechtsfolgen im Hinblick auf das beschleunigte Verfahren, in dem die Beweislast für die Verfolgung umgekehrt wird, und im Hinblick auf den verkürzten Rechtsschutz, erfahren die Betroffenen zahlreiche weitere Nachteile, die nicht verhältnismäßig und unter Würdigung des Diskriminierungsverbots äußerst zweifelhaft sind. Mit der Einstufung einher geht die Residenzpflicht, die die Verpflichtung in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen bedeutet, das Beschäftigungsverbot sowie der erheblich erschwerte Zugang zu Integrationskursen, berufsbezogener Sprachförderung, Arbeits- und Ausbildungsförderung. Die Folgen ziehen sich für den Betroffenen durch alle Lebensbereiche bis hin zu dem höchst sensiblen Bereich der Familie: Im Rahmen einer Vaterschaftsanerkennung wird durch § 1597a Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BGB vermutet, dass Asylbewerber aus sicheren Herkunftsstaaten keine Bleibeperspektive haben, weshalb geprüft werden muss, ob die Vaterschaftsanerkennung missbräuchlich ist. Diese beispielhaften Aufzählungen zeigen, welche erheblichen Eingriffe in Freiheits- und Gleichheitsrechte mit der Einstufung als sichere Herkunftsländer verbunden sind.[7]
3. Menschenrechtliche Situation in den genannten Herkunftsstaaten
Der Gesetzentwurf zur Einstufung Georgiens, der Demokratischen Volksrepublik Algerien, des Königreichs Marokko und der Tunesischen Republik als sichere Herkunftsstaaten muss den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes[8] und der Asylverfahrensrichtlinie[9] gerecht werden. Diese sehen eine umfassende Prüfung der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse vor.[10] Insbesondere darf es landesweit keine politische Verfolgung einer Personen- und Bevölkerungsgruppe geben.[11]
Bei der Betrachtung der Situation in den Herkunftsstaaten muss der Gesetzgeber ein bestimmtes Maß an Sorgfalt beachten, da die Auswirkungen der Bestimmung eines Landes als sicheres Herkunftsland gravierende Folgen für die Antragstellenden aus den Ländern haben.[12]
Wie im Folgenden aufgezeigt wird, wird der Gesetzentwurf dieser Sorgfaltspflicht nicht gerecht. Die menschenrechtliche Situation insbesondere in den Maghreb-Staaten lässt eine Bestimmung als sichere Herkunftsstaaten nach den Kriterien des Bundesverfassungsgerichtes und des EU-Rechts nicht zu.
3.1. Menschenrechtliche situation in algerien
Laut Begründung des Gesetzentwurfs gibt es in Algerien keine staatlichen Repressionen, die allein wegen "Rasse", Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe in Algerien erfolgen. Diese Ansicht kann nicht geteilt werden, vielmehr werden bestehende politische Repressionen im Gesetzentwurf nicht als solche benannt.
Allgemeine Menschenrechtssituation
Das Recht auf Versammlungsfreiheit wird in Algerien nicht umfassend gewährt. Die Behörden nehmen friedliche Aktivisten fest und verfolgen sie strafrechtlich. Dazu zählen auch Personen, die gegen die hohe Arbeitslosigkeit und mangelhafte öffentliche Dienstleistungen protestieren. Demonstrierende, die sich mit inhaftierten Aktivist_innen solidarisch zeigen, sowie Journalist_innen und Blogger_innen, die in den sozialen Medien über Protestaktionen berichten, werden festgenommen.
Nach Protesten in der Kabylei, die sich gegen die Sparmaßnahmen der Regierung richteten, nahm die Polizei im Januar 2017 den bekannten Blogger Merzoug Touati fest. Er hatte in den sozialen Medien Kommentare zu den Protestaktionen abgegeben und ein Interview in seinem Blog veröffentlicht, das er mit einem Vertreter des israelischen Außenministeriums geführt hatte, in welchem er die Regierung kritisierte. Nach über einem Jahr in Untersuchungshaft verurteilte das Gericht Merzoug Touati im Jahr 2018 zu sieben Jahren Haft. Aus Protest gegen diese Verurteilung, die allein auf der friedlichen Wahrnehmung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung beruht, trat Merzoug Touati in den Hungerstreik. Seitdem befindet er sich in Einzelhaft.
Im Juni 2017 nahm die Polizei den Journalisten Said Chitour fest. Die Behörden warfen ihm Spionage und den Verkauf geheimer Dokumente an ausländische Diplomaten vor. Im November wurde sein Fall an das Strafgericht übergeben. Diese Beispiele sind keine Einzelfälle. Die algerische Gesetzgebung schränkt die Menschenrechte ein und die Gesetze werden restriktiv und als Mittel der politischen Verfolgung angewandt. So halten die Behörden ein Verbot aller Demonstrationen in Algier unter Verweis auf ein Dekret aus dem Jahr 2001 aufrecht.[13]
Viele zivilgesellschaftliche Organisationen werden von den Behörden im Unklaren gelassen und erhalten keinen Bescheid über ihre Registrierung gemäß dem überaus strikten Gesetz über Vereinigungen. Dies betrifft auch die algerische Sektion von Amnesty International. Örtliche Behörden verweigerten der Algerischen Liga zur Verteidigung der Menschenrechte (Ligue Algérienne pour la Défense des Droits de l’Homme – LADDH) die Genehmigung, im Oktober 2017 ein Treffen zum Thema Menschenrechte und im Dezember des gleichen Jahres eine öffentliche Veranstaltung zu Ehren der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte abzuhalten. Die Regierung hat noch keinen neuen Gesetzentwurf vorgelegt, der das Recht auf Vereinigungsfreiheit schützt, wie es in der 2016 erfolgten Verfassungsänderung festgeschrieben wurde.
Im Laufe des Jahres 2017 wurden mehr als 280 Angehörige der muslimischen Religionsgemeinschaft der Ahmadiyya wegen ihres Glaubens strafrechtlich verfolgt.[14] Ab April 2017 ließen Gerichte 16 Ahmadiyya frei, nachdem ihre Gefängnisstrafen herabgesetzt oder ausgesetzt worden waren. Zahlreiche weitere Angehörige dieser Religionsgemeinschaft sahen sich jedoch nach wie vor mit Ermittlungen konfrontiert oder standen vor Gericht; fünf Personen blieben inhaftiert. Im August 2017 nahmen die Behörden das Oberhaupt der Ahmadiyya-Religionsgemeinschaft in Algerien, Mohamed Fali, in Ain Safra (Provinz Naama) erneut in Haft. Er wurde wegen Spendensammelns ohne Genehmigung, "Verunglimpfung der islamischen Lehre" und "Mitgliedschaft in einer nicht genehmigten Vereinigung" vor das erstinstanzliche Gericht in Ain Tedles gestellt. Ende 2017 waren gegen ihn noch sechs Verfahren vor verschiedenen Gerichten anhängig, die sich alle auf die friedliche Ausübung seines Glaubens bezogen.
Frauen sind trotz einer Änderung des Strafgesetzbuches im Dezember 2015 weiterhin nur unzureichend gegen geschlechtsspezifische Gewalt geschützt. Das Strafgesetzbuch sieht vor, dass Männer, die ein Mädchen unter 18 Jahren vergewaltigt haben, straffrei ausgehen können, wenn sie ihr Opfer heiraten.
Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgeschlechtlichen und Intersexuellen
Zu Recht führt die Gesetzesbegründung auf, dass homosexuelle Handlungen in Algerien laut Art. 338 des algerischen Strafgesetzbuches strafbar sind. Hierzu ist zu ergänzen, dass eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren und eine Geldstrafe verhängt werden können. Ist eine der beteiligten Personen unter 18 Jahre alt, kann die ältere Person mit bis zu drei Jahren Haft und Geldstrafe bestraft werden. Art. 333 Abs. 2 des algerischen Strafgesetzbuches bestraft die Erregung öffentlichen Ärgernisses "gegen die Natur mit Personen des gleichen Geschlechts" mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren und einer Geldstrafe. Die Bundesregierung führt aus, dass Homosexualität für die Behörden erst dann strafrechtlich relevant sei, wenn sie öffentlich sichtbar gelebt werde. Dies könnte dahingehend verstanden werden, dass von homosexuellen Menschen verlangt werden könnte, ihre sexuelle Orientierung geheim zu halten, um Verfolgung zu entgehen.
Spätestens seit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) aus dem Jahr 2013 in der Rechtssache X, Y und Z darf dies jedoch nicht mehr erwartet werden.[15] Die Kriminalisierung von Homosexualität verletzt das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und muss auch von der Bundesregierung als Menschenrechtsverletzung anerkannt werden.
Zugang für unabhängige internationale Organisationen
Researcher des Internationalen Sekretariats von Amnesty International sowie Mitarbeiter von Human Rights Watch haben seit 2005 keinen Zugang zu Algerien. Die algerische Sektion von Amnesty International führt keine Recherchen zur Menschenrechtssituation in Algerien durch, sondern beteiligt sich hauptsächlich an internationalen Kampagnen. Der direkte Zugang ins Land zu Recherchezwecken ist mithin nicht gewährleistet.
Schlussfolgerung
Die Rechte auf Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit und Meinungsfreiheit werden in Algerien stark eingeschränkt und die Regierung reagiert immer restriktiver auf friedliche Proteste und Dissens. Die Einschränkung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit wird zwar im Gesetzentwurf erwähnt, jedoch ungenügend ausgeführt. Insbesondere fehlt die Schlussfolgerung, dass somit staatliche Repressionen aufgrund von politischer oder religiöser Überzeugungen vorliegen. Die Kriminalisierung von Homosexualität stellt eine asylrelevante Verfolgung dar.
Im Falle Algeriens stellt das seit über zehn Jahren bestehende Verbot der Einreise für internationale Mitarbeiter von Amnesty International sowie ähnliche Restriktionen für UN-Institutionen ein starkes Indiz gegen eine Einstufung als "sicherer Herkunftsstaat" dar.[16] Die beschriebenen gravierenden Menschenrechtsverletzungen werden im Gesetzentwurf nicht ausreichend behandelt. Sie widersprechen einer Einstufung Algeriens als "sicherer Herkunftsstaat" im Sinne der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes und der Asylverfahrensrichtlinie.
3.2. Menschenrechtliche Situation in Marokko
Der Gesetzentwurf stellt zwar menschenrechtliche Defizite in Marokko fest, hält es aber für gewährleistet, dass es keine asylrelevante Verfolgung oder Folter oder andere unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen gibt. Die von Amnesty International dokumentierten Fälle von Folter, die strafrechtliche und praktische Verfolgung von Homosexuellen und politischen Aktivist_innen, sowie die aktuellen Verschlechterungen im Hinblick auf den Zugang zu Marokko für Menschenrechtsorganisationen stehen einer solchen Einstufung jedoch eindeutig entgegen.
Allgemeine Menschenrechtssituation
In Marokko werden die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit von den nationalen Behörden eingeschränkt. Demonstrierende und Kritiker_innen der Regierung, darunter Journalist_innen, Aktivist_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen, werden inhaftiert und unter Vorwänden wie "falscher Berichterstattung", "Terrorismus" oder "Untergrabung der staatlichen Sicherheit" strafrechtlich verfolgt.
Behörden gehen seit 2017 mit verstärkten Repressionen gegen Aktivist_innen in der Rif-Region vor, u.a. durch Anwendung exzessiver und unverhältnismäßiger Gewalt, Massenfestnahmen und strafrechtlicher Verfolgung. Zwischen Mai und August 2017 inhaftierten die Sicherheitskräfte acht Journalisten und Blogger, die regierungskritische Berichte im Internet zu den Protesten in der Rif-Region verfasst hatten. Die Staatsanwaltschaft klagte sie wegen Straftaten an, die sich auf die staatliche Sicherheit und auf Proteste bezogen. Hamid El Mahdaoui wurde schuldig gesprochen, andere zur Teilnahme an einer nichtgenehmigten Protestaktion "angestiftet" zu haben, und zu drei Monaten Gefängnis sowie einer Geldstrafe in Höhe von 20.000 Marokkanischen Dirham (etwa 1.800 Euro) verurteilt. Ein Berufungsgericht erhöhte die Haftstrafe auf ein Jahr. Auch zahlreiche andere Protestierende wurden seit Juli 2017 im Zusammenhang mit den Demonstrationen in der Rif-Region verurteilt. Die Angeklagten erhielten Gefängnisstrafen von bis zu 20 Jahren.[17] Die Anklagen reichten von dem Vorwurf der Teilnahme an nichtgenehmigten Protestaktionen bis hin zur "Untergrabung der staatlichen Sicherheit".
Die marokkanische Aktivistin Nawal Benaissa, die sich für mehr Gerechtigkeit und eine bessere Gesundheitsversorgung in der Rif-Region einsetzt, wurde 2017 innerhalb von vier Monaten vier Mal festgenommen und aufgefordert, ihr Facebook-Profil mit 80.000 Followern zu löschen. Die marokkanischen Behörden überwachen sie umfassend und versuchen ihre politischen Aktivitäten zu unterbinden. Im Februar 2018 erhielt sie eine zehnmonatige Bewährungsstrafe und eine Geldstrafe, weil sie nach Ansicht des Gerichts zu einer Straftat aufgerufen hatte.[18]
Um die Proteste in der Rif-Region weiter zu unterbinden, setzen die Behörden ab Mai 2017 Sicherheitskräfte in einem Umfang ein, wie dies seit Jahren nicht vorgekommen ist. Es gab Massenfestnahmen von überwiegend friedlichen Demonstrierenden, unter ihnen auch Minderjährige. In einigen Fällen gingen die Sicherheitskräfte mit exzessiver und unnötiger Gewalt vor. Im August 2017 starben die beiden Protestierenden Imad El Attabi und Abdelhafid Haddad. Die Behörden leiteten jedoch keine Untersuchung ein, um die Todesumstände aufzuklären.
Die Behörden behindern weiterhin mehrere Organisationen in Marokko und der Westsahara, die als regierungskritisch angesehen werden, in ihrer Arbeit. Teilweise erhielten sie nicht die notwendige gesetzliche Registrierung, teilweise verbot man ihnen ihre Aktivitäten oder wies ausländische Gäste der Organisationen aus.
Hunderte Aktivist_innen wurden 2017 vor Gericht gestellt und zu Haftstrafen verurteilt, weil sie an friedlichen Demonstrationen teilgenommen hatten, in denen es um soziale Fragen oder Umweltschutz ging. Ihnen wurden Verstöße gegen das Versammlungsrecht vorgeworfen. Gerichte machten Protestierenden aber auch auf Grundlage konstruierter Straftaten nach allgemeinem Recht den Prozess oder nutzten vage formulierte Bestimmungen, die sich auf die staatliche Sicherheit und Terrorismus bezogen.[19]
Während des gesamten Jahres 2017 setzten die Behörden immer wieder unverhältnismäßige und unnötige Gewalt ein, um friedliche Demonstrationen in Laayoune, Smara, Boujdour, Dakhla und anderen Städten in der Westsahara aufzulösen. Betroffen waren vor allem Aktivist_innen, die Selbstbestimmung für die Westsahara und die Freilassung von sahrauischen Gefangenen forderten. Mehrere Protestierende, Blogger_innen und Aktivist_innen kamen in Haft, häufig nach unfairen Gerichtsverfahren, die auf konstruierten Anklagen beruhten.
Im Juli 2017 verurteilte ein Gericht in Laayoune den sahrauischen Aktivisten Hamza El Ansari auf Basis konstruierter Anklagen zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe von 10.000 Marokkanischen Dirham (etwa 895 Euro). Er wurde wegen tätlicher Angriffe und Beleidigung von Staatsbediensteten sowie Sachbeschädigung bei einer Protestaktion im Februar 2017 schuldig gesprochen. Vor Gericht hatte er ausgesagt, die Polizei habe ihn misshandelt und ihn gezwungen, mit verbundenen Augen eine Erklärung zu unterschreiben. Eine Untersuchung dieser Vorwürfe fand jedoch nicht statt. Nachdem seine Haftstrafe im Rechtsmittelverfahren auf drei Monate herabgesetzt worden war, kam er im September 2017 frei.
Diese von Amnesty International dokumentierten Fälle sind nur exemplarisch, verdeutlichen aber, wie die marokkanische Regierung gegen Kritiker vorgeht, um diese mundtot zu machen und so das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit massiv einschränkt.
Wie in den Jahren zuvor, wurden in Marokko Menschen zum Tode verurteilt. Im Jahr 2017 waren es insgesamt 15 Menschen.[20] Seit 1993 finden jedoch keine Hinrichtungen statt.[21]
Folter und unmenschliche Behandlung
Laut Begründung des Gesetzentwurfes gibt es keine Berichte zu systematischer Folter und Misshandlung in Marokko. Dieser Darstellung kann nicht gefolgt werden. Amnesty International hat in einem umfassenden Bericht für die Jahre 2010 bis 2014 173 Fälle von Folter und anderen groben Misshandlungen in 17 verschiedenen Orten des Landes dokumentiert.[22] Es handelt sich dabei nicht um eine abschließende Dokumentation aller Fälle von Folter oder unmenschlicher Behandlung, sondern lediglich um exemplarische Fälle. Somit hat Amnesty International ein eindeutiges Muster von Folter in Marokko dargelegt.
Auch im Jahr 2017 beriefen marokkanische Gerichte sich bei ihrer Urteilsfindung auf Aussagen, die während der Untersuchungshaft und in Abwesenheit eines Rechtsbeistands gemacht worden waren. Vorwürfe, die Aussagen seien durch Folter und andere Misshandlungen erpresst worden, wurden nicht angemessen untersucht. Gerichte in Al Hoceima und Casablanca verurteilten zwischen Juli und November 2017 viele Protestierende aus der Rif-Region.[23] Sie stützten sich dabei auf Aussagen, die nach Angaben der Angeklagten unter Zwang zustande gekommen waren, und gingen den Folter- und Misshandlungsvorwürfen nicht sorgfältig nach.
Im Juli 2017 verhängte ein Zivilgericht sehr hohe Strafen gegen 23 sahrauische Aktivist_innen im Zusammenhang mit Zusammenstößen in Gdeim Izik (Westsahara) im Jahr 2010, bei denen es Tote gegeben hatte. Einige Angeklagte wurden zu lebenslanger Haft verurteilt. Vorausgegangen war ein unfaires Gerichtsverfahren vor einem Militärgericht im Jahr 2013. Das Zivilgericht ging Vorwürfen der Gefangenen, wonach sie in Gewahrsam gefoltert worden seien, nicht ausreichend nach und ließ Aussagen als Beweismittel zu, die mutmaßlich unter Folter erpresst worden waren. Im September 2017 traten mindestens zehn der 19 zu diesem Zeitpunkt inhaftierten sahrauischen Gefangenen in den Hungerstreik, um gegen ihre Haftbedingungen zu protestieren. Inhaftierte berichteten über Folter und andere Misshandlungen in Polizeigewahrsam in Marokko und in der Westsahara. Die Justizbehörden leiteten jedoch keine angemessenen Untersuchungen ein und zogen die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft. Die Behörden hielten mehrere Gefangene über lange Zeiträume hinweg in Isolationshaft, was den Tatbestand der Folter erfüllt.
Für die Beurteilung, ob ein Land als "sicher" eingestuft werden kann, darf es nicht entscheidend sein, ob Menschenrechtsverletzungen systematisch angewandt werden oder nicht. Eine solche Annahme ist auch dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes und der Asylverfahrensrichtlinie nicht zu entnehmen. Angesichts des absoluten Folterverbots der UN Anti-Folter-Konvention (Art. 2), wäre dies auch nicht angemessen. Im Anhang I der Asylverfahrensrichtlinie heißt es, dass in einem "sicheren Herkunftsland" generell und durchgängig Folter und andere unmenschliche Behandlungen nicht zu befürchten sein darf. Die Anwendung von Folter in einem Land, wie sie für Marokko dokumentiert ist, steht damit einer Einstufung als "sicheres Herkunftsland" entgegen.
Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgeschlechtlichen und Intersexuellen
Im Gesetzentwurf heißt es lediglich, dass für homosexuelle Handlungen ein gesonderter Strafrahmen gilt und diese ebenfalls selten verfolgt würden. Gemäß Art. 489 des marokkanischen Strafgesetzbuches kann Homosexualität mit bis zu drei Jahren Haft und mit Geldstrafe bestraft werden. Dies wird auch seit Jahren angewendet. Im Jahr 2017 wurde zumindest in zwei Fällen dokumentiert, dass Männer nach Art. 489 von den Behörden zu sechs Monaten Haft verurteilt wurden. Opfer homofeindlicher Angriffe gaben zudem an, sie hätten Angst, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten, weil sie befürchteten, auf Grundlage von Art. 489 festgenommen zu werden.
In der bereits genannten Entscheidung von 2013 stellte der EuGH fest, dass die sexuelle Orientierung ein angeborenes oder für die Identität unentbehrliches Merkmal darstellt. Somit können homosexuelle Menschen als bestimmte soziale Gruppe im Sinne der Flüchtlingsdefinition der Genfer Flüchtlingskonvention gelten. Wenn strafrechtliche Vorschriften gegen Homosexualität in der Praxis angewandt werden, liegt eine asylrelevante Verfolgung vor.[24] Die Behauptung in der Gesetzesbegründung, es gäbe in Marokko keine staatlichen Repressionen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, ist somit nicht zutreffend. Dass eine "systematische Verfolgung" nicht das relevante Kriterium sein kann, wurde bereits erläutert. Die dargelegte Verfolgung von Homosexuellen widerspricht einer Einstufung Marokkos als "sicheres Herkunftsland".
Schlussfolgerung
Zwar enthält die seit Juli 2011 gültige marokkanische Verfassung Regelungen zur Gewährung von Grund- und Menschenrechten, diese werden jedoch in vielerlei Hinsicht nicht eingehalten. Staatliche Repressionsmaßnahmen in Form von unfairen Gerichtsverfahren, Drohung und Anwendung von Folter und anderen unmenschlichen Behandlungen, gerade gegen eine kritische und politische Öffentlichkeit, sind keine Einzelfälle.
Der Gesetzentwurf verfehlt es, Berichte über Folter darzulegen und angemessen zu berücksichtigen. Auch auf die strafrechtliche sowie praktische und damit asylrechtlich relevante Verfolgung von Homosexualität, politischen Aktivist_innen und kritischen Journalist_innen wird ungenügend eingegangen. Die seit 2014 bestehende Erschwerung des Zugangs für Amnesty International und andere Organisationen sollte als beunruhigende Entwicklung verstanden und in einer Prognose über die weitere Entwicklung berücksichtigt werden. Die dargestellte Situation der Menschenrechte in Marokko ist mit einer Bestimmung als "sicheres Herkunftsland" gemäß der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes und der Asylverfahrensrichtlinie nicht vereinbar.
3.3 Menschenrechtliche Situation in Tunesien
Der Gesetzentwurf sieht es als "weitgehend gewährleistet" an, dass in Tunesien keine asylrelevante Verfolgung stattfindet. Während der Gesetzentwurf Menschenrechtsverletzungen benennt, die eindeutig gegen eine Bestimmung als "sicherer Herkunftsstaat" sprechen (z.B. Berichte von Folter, strafrechtliche Verfolgung von Homosexualität), unterlässt er es, die offenkundige asylrechtliche Relevanz dieser Erkenntnisse zu benennen und die entsprechende Schlussfolgerung zu ziehen.
Anti-Terror-Maßnahmen
Seit November 2015 gilt in Tunesien der Ausnahmezustand, auf dessen Grundlage das Recht auf Freizügigkeit willkürlich eingeschränkt wird. Gerichte legen weiterhin Bestimmungen des Strafgesetzbuchs willkürlich aus, um Menschen für Handlungen zu bestrafen, die unter das Recht auf freie Meinungsäußerung fallen. Die strafrechtliche Verfolgung friedlich Demonstrierender durch die Gerichte nimmt seit 2017 zu. Der Ausnahmezustand verleiht dem Innenminister zusätzliche Befugnisse, darunter auch die zur Durchführung von Hausdurchsuchungen ohne richterlichen Beschluss und zu Einschränkungen des Rechts auf Freizügigkeit. Das Innenministerium schränkt das Recht auf Freizügigkeit nach wie vor durch willkürliche und zeitlich unbegrenzte "S17"-Anordnungen ein, die tunesische Staatsangehörige davon abhalten sollen, zu reisen und sich bewaffneten Gruppen anzuschließen. Jede unter "S17" registrierte Person muss sich vor einer Auslandsreise bei den Behörden melden und kann gegebenenfalls an der Ausreise gehindert werden. Im Inland wurde auf dieser Grundlage Hunderten Personen das Verlassen ihrer Heimatprovinz untersagt. Menschenrechtsanwälte berichteten von Fällen willkürlicher Festnahme und kurzzeitiger Inhaftierung von Personen, die von "S17"-Grenzkontrollmaßnahmen betroffen waren.[25] Der Innenminister teilte dem Parlament im April 2017 mit, dass 134 Personen beim Verwaltungsgerichtshof Beschwerde eingereicht hätten, um die Rechtmäßigkeit von "S17"-Anordnungen überprüfen zu lassen. Im selben Monat gab der Minister bekannt, dass sich 537 Personen wegen Handlungen im "Zusammenhang mit Terrorismus" vor Gericht verantworten müssten.
Laut dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu "sicheren Herkunftsstaaten", kann sich aus der Anwendung von Staatsschutzvorschriften eine politische Verfolgung im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG ergeben.[26] Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sollte deshalb die sog. "S 17"-Anordnungen seiner Prognose zugrunde legen, wie sich die menschenrechtliche Situation in Tunesien entwickeln könnte. Die gesetzlichen Anti-Terror-Maßnahmen erhöhen die Gefahr politischer Verfolgung sowie die Gefahr von Folter und anderen Misshandlungen.
Gerichte verhängten mindestens 25 Todesurteile nach Prozessen, die sich auf die nationale Sicherheit bezogen. Zwar haben seit 1991 in Tunesien keine Hinrichtungen mehr stattgefunden. Wie die Bundesregierung aber selbst darstellt, sind 2015 neue Straftatbestände geschaffen worden, die mit der Todesstrafe sanktioniert werden können.
Folter und unmenschliche Behandlung
Die Definition von Folter im tunesischen Strafrecht entspricht nicht in Gänze der von Tunesien ratifizierten UN-Anti-Folter-Konvention. Stattdessen ist sie restriktiver, indem sie Bestrafung nicht als verbotenen Zweck von Folter benennt und Diskriminierung nur als rassistische Diskriminierung versteht. Auf diese Gesetzeslücke machen sowohl Amnesty International als auch der UN-Sonderberichterstatter über Folter seit mehreren Jahren aufmerksam. Zudem besteht seit 2011 eine Verjährungsfrist von 15 Jahren für Folter, obwohl dies Art. 23 der tunesischen Verfassung sowie weiteren tunesischen Gesetzen widerspricht. Trotz anderer Änderungen des Strafprozessrechts, wurde diese Norm bislang nicht gestrichen.[27]
Laut Begründung des Gesetzentwurfes berichten Medien und diverse Organisationen "kontinuierlich über Einzelfälle von Folter und unmenschlicher Behandlung (…) vor allem in Polizeigewahrsam". Auch Amnesty International hat 2015 mehrmals Fälle von Folter und Misshandlungen dokumentiert, bei denen die Inhaftierten des Terrors beschuldigt wurden. Fünf Männer, die am 27. Juli 2015 unter Terrorismusverdacht festgenommen worden waren, warfen den Verhörbeamten vor, sie geschlagen und durch simuliertes Ertrinken (Waterboarding) gefoltert zu haben. Nach ihrer Entlassung am 4. August reichten sie Beschwerden ein. Noch am selben Tag wurden sie von der Antiterror-Polizei erneut festgenommen und an ihren vorherigen Haftort zurückgebracht. Am 5. August 2015 wurden die Männer gerichtsmedizinisch untersucht und am 10. August kamen sie vorläufig wieder frei. Menschenrechtsanwälte berichteten 2017 erneut über Folter und andere Misshandlungen von Gefangenen, zumeist während der Festnahme und in der Untersuchungshaft. Dies betraf sowohl reguläre Strafsachen als auch Fälle mit Bezug zur nationalen Sicherheit.
Der nationale Mechanismus zur Verhütung von Folter (L’Instance Nationale de Prévention de la Torture) konnte weiterhin nur eingeschränkt arbeiten. Gründe waren mangelnde Kooperation seitens des Innenministeriums und eine unzureichende finanzielle Ausstattung durch die Regierung.
Angesichts der dargelegten Berichte über Folter und Misshandlungen in Tunesien sowie unter Berücksichtigung des absoluten Folterverbotes der UN Anti-Folter-Konvention kann Tunesien nicht als "sicherer Herkunftsstaat" im Sinne des Bundesverfassungsgerichtes und der Asylverfahrensrichtlinie bestimmt werden.
Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgeschlechtlichen und Intersexuellen
Wie die Bundesregierung zu Recht feststellt, sind nach Art. 230 des tunesischen Strafgesetzbuchs einvernehmliche gleichgeschlechtliche Handlungen unter Strafe gestellt. Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche (LGBTI) werden und wurden festgenommen und wegen einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungen strafrechtlich verfolgt. Die Möglichkeit der strafrechtlichen Verfolgung wird auch in der Praxis umgesetzt. Wie in der Begründung des Gesetzentwurfes dargestellt, gehen tunesische NGOs von mindestens 70 Festnahmen bzw. Verurteilungen nach Art. 230 aus. Eine asylrelevante Verfolgung liegt damit vor.
Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche sind zudem Gewalt, Ausbeutung sowie sexuellen und anderen Misshandlungen durch die Polizei ausgesetzt. Die Behörden ordnen für Männer, denen man gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen vorwirft, gegen deren Willen Analuntersuchungen an, was einen Verstoß gegen das Verbot von Folter und anderer Misshandlung darstellt.[28] Im Rahmen der allgemeinen regelmäßigen Überprüfung durch den UN-Menschenrechtsrat akzeptierte Tunesien im September 2017 eine Empfehlung, die ein Ende der Analuntersuchungen beinhaltet.
Schlussfolgerung
Fünf Jahre nach dem Volksaufstand ist die Menschenrechtslage in Tunesien nicht auf dem Niveau, welches das Bundesverfassungsgericht und das EU-Recht für "sichere Herkunftsstaaten" vorsehen. Folter ist weiterhin verbreitet und wird nicht genügend aufgearbeitet. LGBTI werden vom tunesischen Staat nicht ausreichend vor Gewalt geschützt und werden sogar strafrechtlich verfolgt. Die neuen Gesetze zur Terrorbekämpfung können Menschenrechtsverletzungen Vorschub leisten und konterkarieren andere Verbesserungen bezüglich der Bekämpfung von Folter und anderer unmenschlicher und erniedrigender Behandlung.
Der Gesetzgeber hat im Gesetzentwurf die asylrechtliche Relevanz der genannten Menschenrechtsverletzungen wie Folter und Verfolgung von Homosexualität nicht erkannt. Bereits diese beiden Aspekte widersprechen eindeutig einer Bestimmung Tunesiens als "sicherer Herkunftsstaat" nach den Kriterien des Bundesverfassungsgerichtes.
4. Zusammenfassung
Die Bestimmung eines Landes als "sicherer Herkunftsstaat" hat für Asylsuchende aus diesen Ländern gravierende Auswirkungen. Sie müssen eine gesetzliche Vermutung widerlegen, die besagt, dass in ihrem Herkunftsland keine Verfolgung besteht. Ihr Asylantrag wird regelmäßig als offensichtlich unbegründet abgelehnt, was es erschwert Rechtsmittel einzulegen. Deshalb mahnt das Bundesverfassungsgericht zur Sorgfalt.
Auch hat der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 19.06.2018 (Rechtssache C-181/16). festgestellt, dass die Mitgliedstaaten zu gewährleisten haben, dass es einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz gibt. Hierbei ist der Grundsatz der Waffengleichheit zu wahren, so dass während der Frist für die Einlegung des Rechtsbehelfs und, falls er eingelegt wird, bis zur Entscheidung über ihn u. a. alle Wirkungen der Rückkehrentscheidung auszusetzen sind. Daher ist fraglich, ob der Umstand, dass eine Klage keine aufschiebende Wirkung kraft Gesetzes hat (§ 75 Abs. 1 AsylG), sondern erst im Eilverfahren wiederhergestellt werden muss, noch im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs steht.
Die gründliche Betrachtung der tatsächlichen Menschenrechtslage in den jeweiligen Ländern und die daraus erwachsene asylrechtliche Relevanz sollten Kernstück einer Gesetzesbegründung zur Bestimmung von Ländern als "sichere Herkunftsstaaten" sein. Angesichts der in dieser Stellungnahme dargelegten schweren Menschenrechtsverletzungen in Algerien, Marokko und Tunesien ist eine Bestimmung der genannten Länder als "sichere Herkunftsstaaten" mit den Kriterien des Bundesverfassungsgerichts und der Asylverfahrensrichtlinie unvereinbar.
Der Gesetzentwurf versäumt, die auf S.108 des Koalitionsvertrags vorgesehene "spezielle Rechtsberatung" für besonders vulnerable Gruppen im Zusammenhang mit der Einstufung sicherer Herkunftsländer gesetzlich zu regeln. Es wird lediglich darauf hingewiesen, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) an einem Konzept für eine solche Beratung arbeitet. Intendiert wurde durch diese Vereinbarung im Koalitionsvertrag offenbar, die Folgen der Einstufung eines Landes als sicher und die damit einhergehende "Beweislastumkehr" zumindest für bestimmte Gruppen zu mildern. Ob dies allein durch eine spezielle Beratung gelingen kann, erscheint zweifelhaft. Zumindest wäre diese Beratung bereits im jetzigen Gesetzgebungsverfahren gesetzlich zu regeln.
Der vorliegende Gesetzentwurf zeigt einmal mehr die Schwierigkeiten einer Bestimmung von Ländern als "sichere Herkunftsstaaten". Die Gefahr, dass aufgrund innenpolitischer Ziele die tatsächliche Menschenrechtssituation in den Ländern verkannt wird, ist groß.
Eine grundsätzliche Abkehr von dem Konzept der "sicheren Herkunftsstaaten" wäre deswegen zu begrüßen und auch menschenrechtlich geboten. Die voreingenommene Anhörung von Asylsuchenden aus einem "sicheren Herkunftsstaat" entspricht nicht den menschenrechtlichen Anforderungen an ein faires und individuelles Asylverfahren. Auch wenn im Einzelfall Asyl gewährt werden kann, erhöht die Anwendung des Konzeptes der "sicheren Herkunftsstaaten" die Gefahr unberechtigter Ablehnung von Asylanträgen und daraus resultierenden Verstößen gegen das völkerrechtliche Non-Refoulement-Gebot (Art. 33 Genfer Flüchtlingskonvention).
Amnesty International lehnt das Konzept der "sicheren Herkunftsstaaten" grundsätzlich ab. Die Bundesregierung sollte das laufende Gesetzgebungsverfahren zur Bestimmung von Georgien, Algerien, Marokko und Tunesien als "sichere Herkunftsstaaten" einstellen und von weiteren Einstufungen absehen.
[1] Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes.
[2] BVerfG, U.v. 14.05.1996, Az. 2 BvR 1507/93.
[3] BVerfG, U.v. 14.05.1996, Az. 2 BvR 1507/93 Rn. 139.
[4] BT Drucksache19/1371, S. 5, 63.
[5] Gemeint ist die Schutzquote, in der inhaltlich im Asylverfahren über den Schutz entschieden wurde. Die sog. unbereinigte Schutzquote sagt über den eigentlichen Schutzbedarf deutlich weniger aus, da sie die formellen Verfahren (das Dublin-Verfahren), in dem es keine inhaltliche Prüfung gibt, mitumfasst.
[6] EuGH-Urteil in der Rechtssache C- 181/16 Sadikou Gnandi / État belge https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2018-06/cp1800…
[7] Vertiefend dazu: David Werdermann, Die Vereinbarkeit von Sonderrecht für Asylsuchende und Geduldete aus sicheren Herkunftsstaaten mit Art. 3 GG, ZAR 1/2018, S. 11 ff.
[8] BVerfG, U.v. 14.05.1996, Az. 2 BvR 1507/93.
[9] Art. 37 RL 2013/32/EU i.V.m. Anhang I.
[10] BVerfG, U.v. 14.05.1996, Az. 2 BvR 1507/93 Rn. 79 ff.; Art. 37 RL 2013/32/EU i.V.m. Anhang I.
[11] BVerfG, U.v. 14.05.1996, Az. 2 BvR 1507/93.
[12] BVerfG, U.v. 14.05.1996, Az. 2 BvR 1507/93 Rn. 87.
[13] Auch deshalb forderte Amnesty International in einer Stellungnahme vom 29.06.2018 an das UN-Menschenrechtskommitee, das die Einhaltung des Internationalen Pakts bürgerlicher und politischer Rechte (ICCPR) überprüft, Algerien zu zahlreichen Gesetzesänderungen auf. Insbesondere sind Gesetzesreformen dort nötig, wo das Recht auf Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit oder das Recht auf freie Religionsausübung eingeschränkt oder dessen Ausübung sogar unter Strafe gestellt wird.
abrufbar unter: https://www.amnesty.org/en/documents/mde28/8699/2018/en/
[15] EuGH, Urteil vom 7.11.2013, Minister voor Immigratie en Asiel gegen X, Y und Z, Rs. C-199/12, C-200/12, C-201/12, Rn. 76.
[16] Für den Zugang für internationale Organisationen als Indiz siehe BVerfG, U.v. 14.05.1996, Az. 2 BvR 1507/93 Rn. 81.
[18] https://www.amnesty.org/en/latest/news/2018/10/morocco-end-intimidation…
[21] Amnesty International, Annual Report Morocco/Western Sahara 2017/2018.
[22] Amnesty International, Shadow of Impunity. Torture in Morocco and Western Sahara, Index: MDE 29/001/2015, 2015, abrufbar unter: https://www.amnesty.de/files/Amnesty-Bericht_Folter_Marokko__und_Westsahara_Mai 2015, PDF S. 7.
[24] EuGH, Urteil vom 7.11.2013, Minister voor Immigratie en Asiel gegen X, Y und Z, Rs. C-199/12, C-200/12, C-201/12, Rn. 49, 61.
[25] Amnesty International, They Never Tell Me Why – Arbitrary Restrictions on Movement in Tunisia, Index: MDE 30/8848/2018, 2018,
abrufbar unter: https://www.amnesty.org/en/documents/mde30/8848/2018/en/
[26] BVerfG, U.v. 14.05.1996, Az. 2 BvR 1507/93 Rn. 72.
[27] Amnesty International, Tunisia. Submissions to the United Nations Committee against Torture. 57th Session, 18 April – 13 May 2016, Index: MDE 30/3717/2016, 2016, S. 6 f, abrufbar unter: https://www.amnesty.org/en/documents/mde30/3717/2016/en/.
[28] https://www.hrw.org/news/2018/11/08/tunisia-privacy-threatened-homosexu…